Neuer Bericht verdeutlicht Notwendigkeit eines humaneren und stärker personenbezogenen Ansatzes für Institutionen zur Langzeitbetreuung von Erwachsenen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen in den Ländern der Europäischen Region
Das WHO-Regionalbüro für Europa hat einen neuen Bericht mit dem Titel „Psychische Gesundheit, Menschenrechte und Qualität der Versorgung“ veröffentlicht. Darin wird die Qualität der Versorgung in Institutionen zur Betreuung von Erwachsenen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen in den Ländern der Europäischen Region der WHO bewertet.
Insgesamt wurden 75 Institutionen in 24 Ländern der Region sowie im Kosovo (in Übereinstimmung mit Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen) mittels des QualityRights Toolkit der WHO bewertet. Von den vorgenommenen Qualitätsbewertungen entsprachen nur 25% den geltenden internationalen Normen; somit herrscht bei Institutionen zur Langzeitbetreuung in der Europäischen Region noch erheblicher Handlungsbedarf.
„Diese Bewertungen geben Einblicke in den Zustand der institutionellen Versorgung in der Europäischen Region“, erklärte Dr. Zsuzsanna Jakab, WHO-Regionaldirektorin für Europa. „Wir sollten die Ergebnisse als einen Weckruf verstehen, dass mehr getan werden muss, damit die Menschenrechte in der institutionellen Versorgung vollständig geachtet werden. Das letztendliche Ziel lautet, zu neuen und verbesserten Versorgungsmodellen im Bereich der psychischen Gesundheit zu gelangen.“
Bei den Bewertungen wurde das WHO QualityRights Toolkit herangezogen, um Daten über Normen in Bezug auf fünf Aspekte aus dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) zu erfassen und zu melden:
- das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (Artikel 28);
- das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an körperlicher und seelischer Gesundheit (Artikel 25);
- das Recht auf Ausübung der Rechts- und Handlungsfähigkeit und das Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person (Artikel 12 und 14);
- die Freiheit von Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe und die Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch (Artikel 15 und 16); und
- das Recht auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft (Artikel 19).
Hier erklärt Dr. Daniel Chisholm, Leiter des Programms für psychische Gesundheit beim WHO-Regionalbüro für Europa und für den Bericht zuständiger Projektleiter, was die Ergebnisse für die Europäische Region bedeuten und wie die Länder auch mit begrenzten Ressourcen positive Veränderungen in der institutionellen Versorgung herbeiführen können.
Was hat das Programm für psychische Gesundheit dazu veranlasst, sich näher mit dem Thema psychische Gesundheit und Menschenrechte zu befassen und diese Bewertung in die Wege zu leiten?
Dies ist die bisher letzte Phase eines Projektes, das vor einigen Jahren begonnen wurde, als eine Reihe von Berichten aus den Ländern an die Regionaldirektorin übermittelt wurde. Aus diesen Berichten gingen schwerste Menschenrechtsverletzungen, aber auch Versäumnisse in Bezug auf die Versorgung in Institutionen zur Langzeitbetreuung hervor.
Die erste Phase der Reaktion des Regionalbüros war deskriptiver Art und vor allem von dem Bestreben getragen, mehr darüber zu erfahren, wie viele Einrichtungen es gibt, wer in ihnen untergebracht ist und wie sie beschaffen sind. Inzwischen befinden wir uns in der zweiten und stärker inhaltlich geprägten Phase, in der wir uns damit befassen, was in diesen Einrichtungen hinter verschlossenen Türen geschieht, und zwar in Bezug auf die Qualität der Versorgung und den Grad, zu dem dort die Menschenrechte geschützt bzw. nicht geschützt werden.
Zu welchen Ergebnissen sind die Länderteams in ihrer Bewertung gekommen?
Die Bewertungen haben eine Reihe von übergeordneten Problemstellungen ans Licht gebracht. Zunächst einmal herrscht ein grundsätzlicher Mangel an Bewusstsein für psychische Gesundheit und Menschenrechte, sogar beim Personal – eine mangelnde Wertschätzung für die Grundrechte der in diesen Einrichtungen lebenden Personen. Zweitens fehlt ein humaner und personenbezogener Ansatz. Das Konzept individuell angepasster Betreuungspläne ist in dem Übereinkommen verankert. Es spielt in der psychischen Gesundheitsversorgung eine wichtige Rolle, wo die Einzelnen zwar mit erheblichen Beeinträchtigungen konfrontiert sind, aber dennoch von individuell angepassten Plänen für ihre Zustandsverbesserung oder Genesung profitieren würden. Und gerade das fehlt in diesen Einrichtungen oft. Mit anderen Worten: die Menschen haben keinerlei Hoffnung und keine Ahnung, wohin ihre Reise führen wird; stattdessen kommen sie sich vor wie in einem endlosen Tunnel.
Ein anderer besorgniserregender Aspekt dieser Berichte besteht darin, dass es in diesen Einrichtungen für die dort lebenden Menschen wenig bis gar nichts zu tun gibt und dass diese oft viele grundlegende Dinge, die für uns selbstverständlich sind, nicht tun dürfen. Egal ob man in seinen eigenen vier Wänden oder in einer Langzeitbetreuungseinrichtung lebt: man sollte die Möglichkeit haben, mit der eigenen Familie zu telefonieren oder fernzusehen oder einen ruhigen Ort aufzusuchen, um ein Buch zu lesen. Oft fehlt es an den einfachen schönen Dingen des Alltags.
Es gab große Unterschiede zwischen einzelnen Subregionen und Ländern, auch innerhalb von Ländern, und bei sämtlichen fünf Bewertungsthemen. Auch in Bezug auf Qualität gab es eine große Bandbreite – von durch und durch in Ordnung bis miserabel –, sodass die Berichte insgesamt ein eher kompliziertes Bild ergeben. Doch letztendlich stellen wir fest, dass jedes Land noch Handlungsbedarf zur Verbesserung seines Systems der institutionellen Versorgung hat, während gleichzeitig eine Verlagerung des Systems der Versorgung und Betreuung weg von diesen Institutionen angestrebt wird.
Nun, da wir diese Daten haben und das Ausmaß des Problems besser verstehen, was können bzw. sollten die Länder tun, um ihre Institutionen zu verändern?
Wenn wir die institutionelle Versorgung verbessern wollen, reicht es nicht aus, zu renovieren und die Gebäude zu modernisieren. Vielmehr müssen die Veränderungen von innen kommen. Vor allem müssen wir das Bewusstsein schaffen, aber auch die nötigen Fähigkeiten und die erforderliche Kompetenz in Bezug auf psychische Gesundheit und Menschenrechte. Dies muss auf allen Ebenen der Gesellschaft geschehen: von der Politik bis hin zu den Mitarbeitern der Institutionen. Gewappnet mit diesem Wissen, können wir dann damit beginnen, humanere Praktiken einzuführen, damit sich die Situation der Menschen innerhalb – oder vorzugsweise außerhalb – der Institutionen spürbar verbessert.
Diese Idee versetzt uns in die nächste Phase unserer Arbeit, in der wir von der Bewertung zur Qualitätsverbesserung übergehen. So wollen wir beispielsweise im nächsten Monat 15 Länderteams zu einer Schulung im Rahmen der Initiative QualityRights zusammenbringen, um in der Folge in ausgewählten Institutionen jedes Landes für bessere Verhältnisse zu sorgen.
Zur Verbesserung der Verhältnisse in den Ländern gehört auch ein unabhängiger Beobachtungsmechanismus, und die WHO empfiehlt den Ländern, die Einrichtung eines solchen Mechanismus umfassend zu prüfen.
Kann diese Art der Veränderung von innen dazu beitragen, die psychische Gesundheitsversorgung langfristig grundlegend umzugestalten?
Das letztendliche Ziel besteht darin, allmählich von der Institutionalisierung auf eine wohnortnahe Betreuung umzustellen. Doch dieser Prozess kann langwierig sein und erfordert eine Übergangsfinanzierung, wie wir in jenen Ländern feststellen konnten, die diesen Prozess durchlaufen haben. In diesem Bericht geht es vor allem darum, was wir jetzt tun können, um unsere Personalsituation zu verbessern, und dazu ist nicht allzu viel Geld notwendig. Vielmehr gilt es, die bereits in dem System tätigen Beschäftigten zu einer Änderung ihrer Einstellung zu bewegen, damit sie sich der Rechte der Menschen, die sich in institutioneller Betreuung befinden, bewusst werden, denn diese brauchen mehr als nur Behandlung, sie müssen als Individuen mit Interessen, Präferenzen und Bedürfnissen wahrgenommen werden – wie wir alle. Wenn man so weit gekommen ist, versteht man allmählich, dass Institutionen zur Langzeitbetreuung nicht der richtige Ort für diese Menschen sind, und dieser Prozess wird auch dazu beitragen, die Länder hin zu besseren Versorgungsmodellen zu steuern.