Ansprache Ihrer Königlichen Hoheit der Kronprinzessin von Dänemark an die 70. Tagung des WHO Regionalkomitees für Europa
Kopenhagen, 14. September 2020
Sehr geehrter Herr Generaldirektor, sehr geehrter Herr Regionaldirektor, sehr geehrter Herr Vorsitzender Dr. Alexey Tsoy, sehr geehrte Damen und Herren Minister, sehr geehrte Gäste, meine Damen und Herren!
Als ich im vergangenen Jahr auf der Tagung des WHO-Regionalkomitees für Europa vor Ihnen stand, hätte ich mir nie vorgestellt, dass wir uns nur ein Jahr später unter diesen außergewöhnlichen Umständen wiedersehen würden. Es wäre nicht nachvollziehbar gewesen, wenn Sie mir erklärt hätten, dass die nächste Tagung des Regionalkomitees im Fernmodus abgehalten werde, nach Monaten einer Pandemie, die die Europäische Region und weite Teile der Welt seit Beginn des Frühjahrs im Griff hat.
Nun, angesichts der schlimmsten Gesundheitskrise seit 100 Jahren, werde ich an die Worte von Winston Churchill erinnert, der einmal sagte: „Ich bin immer bereit zu lernen, auch wenn ich mich nicht immer gerne belehren lasse.“
Die Pandemie hat sich als harte Lehrmeisterin erwiesen, indem sie uns auf die Probe gestellt hat, als wir nicht darauf gefasst waren, und uns unsere Fehler hat teuer bezahlen lassen. Ich bin sicher, dass Sie ebenso wie ich in den letzten Monaten manchmal Ungewissheit, Besorgnis und Trauer verspürt haben, wenn wir versuchen, dem rasanten Verlauf der Ereignisse einen Sinn zu geben, wenn wir nicht mehr den vertrauten Mustern unseres Alltags folgen können und wenn wir nicht mehr Zeit mit Freunden und Familienangehörigen verbringen können.
Für viele werden die psychologischen, emotionalen, sozialen und ökonomischen Kosten der Pandemie noch Jahre lang zu spüren sein. Die Pandemie hat gesundheitliche Benachteiligungen und vorhandene Defizite in unserer Region mehr denn je deutlich werden lassen. Doch auch wenn wir in den vergangenen Monaten viel geprüft und belehrt wurden, so haben wir doch auch eine große Chance gehabt, kollektiv zu lernen.
Zunächst einmal haben wir als Gesellschaft gelernt – auch wenn dies für viele von uns schon immer klar war –, dass es ohne das Gesundheitspersonal keine Gesundheitsversorgung geben kann. Das Gesundheitspersonal ist das Rückgrat unserer Gesundheitsversorgung. Diese mutigen Menschen haben sich selbst in Gefahr begeben, um ihren Mitbürgern zu helfen.
Sie haben rund um die Uhr gearbeitet, um die Pandemie zu bekämpfen und andere unentbehrliche Gesundheits- und Pflegeleistungen aufrechtzuerhalten. Sie haben sich bei uns ein noch höheres Maß an Dankbarkeit und Respekt erworben und verdienen unsere vorbehaltlose Unterstützung.
Tatsächlich hängt unser Erfolg bei der Bekämpfung von COVID-19 davon ab, wie wir unser Gesundheitspersonal unterstützen. Dazu gehört ihre Ausbildung und Vorbereitung, damit sie das nötige Rüstzeug haben, die Bevölkerung mit sicheren und angemessenen Informationen und Leistungen zu versorgen. Wir müssen ihre körperliche Gesundheit schützen, ihrer psychischen Gesundheit einen höheren Stellenwert einräumen und dafür Sorge tragen, dass sie die erforderliche Unterstützung erhalten, die ihnen während ihrer lebensrettenden Tätigkeit die Sorgen in Bezug auf ihr häusliches Leben erleichtert.
Ich habe mit Freude erfahren, dass die WHO am in dieser Woche stattfindenden Welttag der Patientensicherheit beabsichtigt, den Entwurf einer Charta für die Sicherheit von Gesundheitsfachkräften zu veröffentlichen, die der Unterstützung unseres Gesundheitspersonals und der Schaffung eines nachhaltigen Arbeitskräfteangebots im Gesundheitswesen gewidmet ist. Noch nie hat es eine passendere Gelegenheit gegeben, um mehr für die Sicherheit von Gesundheitsfachkräften in unserer Region zu tun, die doch so eng mit der Sicherheit der Patienten verknüpft ist.
Die Hälfte des Gesundheitspersonals in der Europäischen Region besteht aus Pflegekräften und Hebammen. In diesem Jahr, das zum Internationalen Jahr der Pflegekräfte und Hebammen erklärt wurde, feiern wir ihren entscheidenden Beitrag zur Versorgung der Menschen während ihrer gesamten Lebensdauer.
Die Gesundheitssysteme verändern sich, und Pflegekräfte und Hebammen übernehmen immer anspruchsvollere und spezialisiertere Aufgaben, führen Teams, führen Forschungsarbeiten durch, nehmen Einfluss auf Politik und setzen sie um und tragen auch zur Ausbildung der nächsten Generation bei. Während der durch COVID-19 entstandenen Notlage wie auch danach müssen wir in sie investieren und sie dabei unterstützen, ihr Potenzial voll auszuschöpfen. An alle Pflegekräfte, Hebammen und sonstigen Gesundheitsfachkräfte in der Europäischen Region gewandt sage ich hier: Sie haben meine tiefste Hochachtung und Bewunderung, und ich danke Ihnen.
In meinen 15 Jahren als Schirmherrin des WHO-Regionalbüros für Europa habe ich die Gelegenheit gehabt, mich mit einer Reihe konkreter Gesundheitsthemen zu befassen. Nun ist hier durch COVID-19 ein neues Gefühl der Dringlichkeit entstanden.
Die Gesundheit von Müttern und Kindern war immer eine vorrangige Aufgabe für die Europäische Region und für viele von Ihnen, die Sie hier heute anwesend sind, doch die Pandemie hat besorgniserregende neue Gefahren für Kinder und Mütter entstehen lassen. Zwar verliefen die meisten COVID-19-Fälle in der Altersgruppe unter 19 Jahren mit milder Symptomatik, doch die Folgen der Pandemie waren für diese Gruppe äußerst ernst. Uns liegen Berichte aus Ländern sowie von Vertretern der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft vor, die bestätigen, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder während der Pandemie zugenommen hat.
In den vergangenen Monaten haben wir den außerordentlichen Wert unserer Bildungssysteme erfahren und können jetzt deutlicher erkennen, wie eng sie mit unseren Gesundheitssystemen verknüpft und wie wichtig sie für den Schutz von Gesundheit und Wohlbefinden der Kinder sind. Mit Blick auf unser weiteres Vorgehen muss das öffentliche Gesundheitswesen bei seinen Lösungsansätzen hinsichtlich der Pandemie darauf achten, inwiefern sie Auswirkungen auf die Allgemeinheit und insbesondere auf Kinder haben.
Wenn die Gesundheit von Müttern und Kindern während der Wiederaufbauphase nach der Pandemie nicht vorrangig behandelt wird, werden dadurch viele der erfreulichen Zugewinne verspielt, die die Europäische Region in den vergangenen Jahrzehnten verzeichnen konnte.
Vielleicht ist kein Bereich so unverzichtbar für die Gesundheit von Neugeborenen, Kindern und der Gesellschaft insgesamt wie das Impfwesen. Ich glaube fest an die lebensrettende Kraft von Impfungen, und ich habe zusammen mit dem Regionalbüro die Botschaft verbreitet, dass Impfungen ein Recht und eine Pflicht für alle sind. Vor der Pandemie hatten wir viele Gründe, stolz zu sein und uns über die Ergebnisse unserer gemeinsamen Anstrengungen zum Schutz der Menschen vor impfpräventablen Krankheiten zu freuen.
2019 erhielten 96% der Kinder in der Europäischen Region ihre erste Dosis des Impfstoffs gegen Masern und Röteln – die höchste Durchimpfungsrate aller Zeiten. Doch die 100 000 Masernfälle, die 2019 aus 45 Ländern gemeldet wurden, und nun die rapide Ausbreitung von COVID-19 verdeutlichen, dass Infektionskrankheiten vor Grenzen nicht Halt machen.
Wir alle freuen uns auf den Tag, an dem wir durch eine Impfung vor COVID-19 geschützt sind. Ich habe die Hoffnung, dass es, wenn dieser Tag kommt, mehr Unterstützung für Impfmaßnahmen und mehr Achtung für ihre Schutzwirkung und ihre Fähigkeit zur Rettung von Menschenleben gibt. Doch unser Blick auf diesen in der Zukunft liegenden Meilenstein darf uns nicht von unserer gegenwärtigen Aufgabe einer Schließung der Impflücken in der Europäischen Region bei den vorhandenen Impfungen ablenken; dies gilt in besonderem Maße für die anfälligsten Bevölkerungsgruppen.
So wie wir uns manchmal damit schwertun, die Menschen von der Wirkung und Sicherheit von Impfungen zu überzeugen, stehen wir auch vor Herausforderungen bei der Gewährleistung der sicheren und ordnungsgemäßen Anwendung von Antibiotika. Die Angst vor COVID-19 während dieser Pandemie hat dazu geführt, dass mehr Menschen versuchen, sich durch unsachgemäßen Gebrauch von Antibiotika vor einer Infektion zu schützen.
Wir müssen uns daran erinnern, dass Antibiotika nur gegen bakterielle Infektionen wirken und dass ihr unsachgemäßer Gebrauch die Gefahr der Bildung von Antibiotikaresistenzen erhöht, die ein Risiko für alle darstellen, sogar schon bei milden Infektionen.
Wir sollten uns nach Kräften bemühen, zu verhindern, dass sich die Krise der antimikrobiellen Resistenzen beim Kampf gegen die COVID-19-Pandemie noch verschärft. Nun, da der erste Strategische Aktionsplan zur Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen in der Europäischen Region ausläuft, wird die Europäische Region einen neuen Aktionsplan in die Wege leiten, der den Ländern in den kommenden Jahren als Anleitung und Unterstützung dienen soll. Er wird einen entscheidenden Beitrag zu einer entschlossenen Bekämpfung von AMR leisten.
Schon bevor die Pandemie sich in der Europäischen Region ausbreitete, waren wir uns darüber im Klaren, dass eine Vielzahl großer gesundheitspolitischer Herausforderungen vor uns lag. Wir wussten, dass zur Verwirklichung unserer gesundheitlichen Ziele, einschließlich des SDG 3, unermüdliche gemeinsame Anstrengungen erforderlich sein würden.
Dies ist die erste Tagung des Regionalkomitees für unseren neuen Regionaldirektor.
Ich gratuliere Ihnen, Herr Dr. Kluge, zu Ihrer Führungsrolle, Ihrer Entschlossenheit und dem Kooperationsgeist, mit dem Sie die Reaktion der Europäischen Region auf COVID-19 vorangetrieben haben. Diese Eigenschaften zeigen sich bereits deutlich in Ihrer Zukunftsvision „Gemeinsam für mehr Gesundheit in Europa“, dem Europäischen Arbeitsprogramm, das auf dieser Tagung Gegenstand der Beratungen sein wird.
Angesichts einer gesundheitlichen Notlage beispiellosen Ausmaßes haben wir gelernt, dass wir in der Tat gemeinsam antreten müssen, da wir sonst keine Chance haben, mehr Gesundheit für alle zu verwirklichen.
Nun, da diese Gruppe auf einer virtuellen Tagung das weitere Vorgehen festlegen will, wünsche ich uns allen die Demut, uns belehren zu lassen, und die Offenheit zum Lernen – aus unseren individuellen und kollektiven Erfahrungen während dieser Pandemie und auch voneinander. Der Weg, auf den wir uns begeben haben, mag beängstigend wirken. Vor uns liegen wahrlich enorme Herausforderungen.
Doch ich glaube fest an die Einsatzbereitschaft und den Mut unserer Gesundheitsfachkräfte und an die Entschlossenheit und Kreativität unserer führenden Gesundheitspolitiker und einschlägigen Entscheidungsträger – mit anderen Worten: an Sie alle. Und so sehe ich der nächsten Tagung des Regionalkomitees – hoffentlich einer Präsenztagung – erwartungsvoll entgegen und freue mich darauf, einander zuzuhören, voneinander zu lernen und einander zu inspirieren.
Gemeinsame Bemühungen, die Welt sicherer und gesünder zu machen, sind das würdigste Gedenken an all jene, die wir infolge dieses Virus verloren haben – und ein unschätzbar wertvolles Geschenk an die Kinder der Zukunft.
Ich danke Ihnen.