Adipositas als „neue Norm“: 1. Tag der Konferenz zum Thema Ernährung und nichtübertragbare Krankheiten
Am ersten Tag der Europäischen Ministerkonferenz der WHO zum Thema Ernährung und nichtübertragbare Krankheiten im Kontext von „Gesundheit 2020“ waren sich die Teilnehmer einig, dass starkes politisches Engagement, sektorübergreifende Arbeit und grundsatzpolitische Maßnahmen (einschließlich Regulierung sowie der Verbesserung von Daten und Erkenntnissen) dringend benötigt werden, um die Epidemie ernährungsbedingter nichtübertragbarer Krankheiten umzukehren.
In der Eröffnungssitzung rief der österreichische Bundesminister für Gesundheit Alois Stöger die Prinzipien von „Gesundheit 2020“ in Erinnerung und hob hervor, dass es wichtig sei, die Politik dorthin zu bringen, wo Menschen leben und lernen, sowie Chancengleichheit zu ermöglichen, damit die Entscheidung für eine gesunde Lebensweise für alle auch die naheliegendste Entscheidung ist.
In einer Video-Ansprache sagte die WHO-Generaldirektorin Dr. Margaret Chan, die Nahrungsmittelindustrie entwickele Rezepturen für Nahrungsmittel, die so „unwiderstehlich schmackhaft“ seien, dass die Menschen ermuntert würden, mehr zu essen, als notwendig sei, um den Hunger zu stillen. Bevölkerungsweite Adipositas sei ein Zeichen dafür, dass im Umfeld etwas nicht stimme, sagte sie.
An der Konferenz würden Delegationen aus 47 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region der WHO teilnehmen, davon 28 mit Ministerdelegationen: Dies zeige, wie ernst die ernährungsbedingten gesundheitspolitischen Probleme in der Region seien und dass die Länder entschlossen seien, ihnen entgegenzuwirken.
Der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer sagte in seiner Ansprache an das Plenum: „Um den Kampf gegen nichtübertragbare Krankheiten zu gewinnen, bedarf es ausreichender Dynamik durch starkes politisches Engagement, starken politischen Willen und die politischen Sektoren übergreifende starke Führung. Regierungen müssen zukunftsorientierte Gesundheitsentscheidungen in ihre gesamtstaatliche Politik aufnehmen.“
Umsetzung der Politik im Bereich Ernährung und Bewegung
In ihrer Bilanz der Umsetzung der Politik in der Region wies WHO-Regionaldirektorin für Europa Zsuzsanna Jakab auf die große Vielfalt der Kombinationen politischer Handlungskonzepte im Bereich Ernährung und Bewegung hin. Länder hätten bereits erfolgreich lebensmittelbasierte Ernährungsleitlinien verabschiedet, würden Informationen und Aufklärung zum Thema Ernährung anbieten und hätten Fortschritte in Bereichen wie der Beschränkung der auf die Zielgruppe der Kinder gerichteten Werbung für Nahrungsmittel sowie dem Obst- und Gemüseangebot in Schulen erzielt.
„Es sind jedoch genau die politischen Maßnahmen, die ein energischeres Eingreifen des Staates erfordern – vor allem Maßnahmen mit einem Einfluss auf die Lebensmittelpreise und die Zulassung farbcodierter Nährwertkennzeichnung beispielsweise –, die eine größere Zahl von Ländern den eingegangenen Meldungen zufolge offensichtlich noch nicht ergriffen hat“, fügte Frau Jakab hinzu.
In seiner Ansprache bei der ersten Ministerrunde ging Professor Philip James aus dem Vereinigten Königreich auf die Notwendigkeit von Maßnahmenkombinationen mit dem Ziel ein, dem zunehmenden Übergewicht entgegenzuwirken. Er erläuterte, dass „Adipositas heute die normale ‚passive‘ biologische Reaktion auf die Veränderungen unseres physischen Umfelds und unseres Ernährungsumfelds ist“.
Er wies darauf hin, dass Medienkampagnen die am wenigsten wirksame Intervention bei der Bekämpfung von Adipositas seien, dass aber eine Kombination von regulatorischen Kontrollen, Nährwertkennzeichnung und ernährungsbezogenen Maßnahmen in Schulen funktioniere. „Wir müssen unseren Ansatz zu Nahrungsmitteln ändern und dabei alle Instrumente nutzen, die dem Staat zu Verfügung stehen: Steuerpolitik, Regulierung und Handelspolitik. Wenn wir dies täten, könnten wir zum Vorbild für den Rest der Welt werden“, fuhr er fort.
Positionen der Länder zur Ernährungspolitik
In den folgenden Podiumsdiskussionen berichteten Minister und andere hochrangige Teilnehmer über die in ihren Ländern ergriffenen Politikinterventionen und erörterten die Notwendigkeit der Regulierung von Nahrungsmittelprodukten.
- Slowenien habe 2005 seine erste Politik für sichere Lebensmittel eingeführt, zwei Jahre später eine Politik mit dem Schwerpunkt auf körperliche Betätigung verabschiedet und werde nächstes Jahr in 90% aller Schulen ein neues Schulobstprogramm durchführen.
- Finnland habe die Bedeutung der Gesundheitsförderung und der Berücksichtigung von Gesundheit in allen Politikbereichen betont.
- Frankreich habe eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung sportlicher Aktivitäten junger Menschen eingeführt, bei denen der Schwerpunkt auf der Frage gelegen habe, wie sich Menschen im städtischen Umfeld bewegen, und habe Gesundheitsfachkräfte ermuntert, Patienten körperliche Betätigung zu verschreiben. Diese Maßnahmen hätten die Verantwortung der Gemeinschaft für die Schaffung des richtigen Umfelds betont.
- Die Ukraine dankte dem WHO-Regionalbüro für Europa für seine Unterstützung bei der Entwicklung ihres Aktionsplans zu nichtübertragbaren Krankheiten. Das Land habe Vorschriften zur Verringerung der Zufuhr von Salz und Transfettsäuren erlassen sowie Kampagnen zur Aufklärung der Bevölkerung und Ausbildungsmaßnahmen für Gesundheitsexperten durchgeführt.
- Angesichts eines großen Anteils der unter 30-Jährigen an der Bevölkerung habe Usbekistan seine lange Tradition weitergeführt, junge Menschen zu körperlicher Betätigung zu ermuntern. Das Land habe kürzlich neue Gesetze über Lebensmittelsicherheit, Mikronährstoffe, Tabak und Alkohol verabschiedet.
- Die Republik Moldau habe 2012 ihr erstes nationales Gesundheitsforum veranstaltet. Ziel sei es gewesen, bei wichtigen Partnern das Verständnis von Gesundheitsthemen zu verbessern und einen ganzheitlichen Ansatz zu Gesundheit zu verfolgen.
Bezüglich der Frage, ob die Lebensmittelindustrie reguliert werden und man auf freiwillige Vereinbarungen setzen solle, wiesen viele darauf an, dass Erkenntnisse zeigen würden, dass die Regulierung größere Wirkung zeige. Mehrere Teilnehmer vertraten die Position, dass die Regulierung die Problematik für die Industrie klarer mache, weil dann jeder nach denselben Regeln spielen müsse. Manche hielten eine Kombination von Regulierung und Anreizen – der Industrie zu gestatten, ihre gesunden Produkte zu vermarkten – für notwendig, und es wurde darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, die Öffentlichkeit in die Herbeiführung von Veränderungen einzubeziehen.
Konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung ernährungsbedingter nichtübertragbarer Krankheiten
Während einer Nachmittagssitzung referierte Professor Carlos A. Monteiro aus Brasilien über „stark verarbeitete Nahrungsmittel“. Sie würden weniger Proteine, weniger Ballaststoffe, mehr freien Zucker, mehr Salz, und weniger Kalium als weniger stark verarbeitete Nahrungsmittel enthalten sowie einen höheren Gesamtgehalt an gesättigten Fettsäuren und Transfettsäuren als diese aufweisen und zu ungesunden Verzehrweisen ermuntern: unterwegs, in der Form vieler Zwischenmahlzeiten und mit einem aggressiven Essverhalten. Stark verarbeitete Nahrungsmittel würden in den Ländern der Europäischen Region umfassend vermarktet.
Professor Monteiro forderte, Regierungen müssten fiskalische Maßnahmen ergreifen, um diese Nahrungsmittel weniger zugänglich zu machen, und politische Handlungskonzepte zur Unterstützung von seit langem etablierten Nahrungsmittelsystemen, Stillen und traditioneller Ernährung umsetzen.
Am Ende einer Ministerrunde war eine zentrale Schlussfolgerung der Sitzung, dass strenge Regulierung und Überwachung von ernährungsbedingten nichtübertragbaren Krankheiten ebenfalls wichtig sind.
Yoga-Flashmob
Im Lauf des Tages beteiligten sich mehr als 100 Yoga-Begeisterte und Passanten an einem offenen Flashmob auf dem Heldenplatz in Wien. Mit der Veranstaltung sollte gezeigt werden, dass körperliche Betätigung Spaß macht, leicht in den Alltag integriert werden kann und Menschen aller Altersstufen zusammenbringen kann.
Pressekonferenz
Vertreter von mehr als 20 nationalen und internationalen Medien nahmen an der morgendlichen Pressekonferenz teil. WHO-Regionaldirektorin für Europa Zsuzsanna Jakab erläuterte, sie sei optimistisch, dass die Adipositas-Epidemie in der Europäischen Region bekämpft werde. Dafür müssten die Regierungen jedoch Gesetze über die Preise und die Kennzeichnung von Lebensmitteln erlassen, und die Industrie müsse bei den Produktformeln und der Kennzeichnung einlenken und aufhören, Nahrungsmittel mit hohem Fett-, Zucker- und Salzgehalt an Kinder zu vermarkten. Der österreichische Bundesminister für Gesundheit Alois Stöger erläuterte den Medienvertretern die nationale Sichtweise.
20 Minuten und Fragen: Salz, Zucker, Fette
Auf einer mittäglichen Sitzung sprach Michael Moss, Journalist von der New York Times und Pulitzer-Preis-Gewinner, von der Taktik der Nahrungsmittelindustrie bei der Nahrungsmittelformulierung. Er behauptete, die Industrie füge Nahrungsmitteln Zucker, Fette und Salz hinzu, um sie ansprechender und damit profitabler zu machte, und kommentierte: „Bei Nahrungsmitteln mit hohem Salz-, Zucker- und Fettgehalt können wir Muster zwanghaften Verzehrs beobachten, bei dem jeder Bissen so stark wie manche Drogen wirkt.“
Er erläuterte, dass Zucker in einer unerwartet hohen Zahl verarbeiteter Nahrungsmittel wie Brot, Joghurt und Nudelsaucen versteckt sei, um sie „begehrenswert“ und „snacktauglich“ zu machen sowie sie „nach mehr“ schmecken zu lassen. Dies, behauptete er, lasse Kinder erwarten, dass alle Nahrungsmittel süß seien.
Geschlossene Sitzung zur Erklärung von Wien
Der Tag endete mit einer geschlossenen Sitzung zur Erörterung der vorgeschlagenen Erklärung von Wien, einer Verpflichtung der Mitgliedstaaten in Bezug darauf, wirksame Maßnahmen zu nutzen, um ernährungsbedingten nichtübertragbaren Krankheiten entgegenzuwirken.
Auf der Tagesordnung für den 5. Juli
- Adipositas und Ungleichheiten bei Kindern
- Überwachung und Surveillance von ernährungs- und bewegungsbedingten nichtübertragbaren Krankheiten
- Nichtübertragbare Krankheiten und die Rolle des Privatsektors
- Die Erklärung von Wien