Lias Geschichte

Ich schäme mich nicht dafür, einmal „verrückt“ oder „schizophren“ gewesen zu sein, aber mir ist klar, dass die meisten Menschen, die nichts oder wenig über Psychiatrie oder Psychologie wissen, schon bei der Erwähnung solcher Erkrankungen schaudern. Deshalb spreche ich über meine frühere Krankheit nur mit Menschen, die mit der Thematik vertraut sind.

Meine Erkrankung an „deliriöser paranoider Schizophrenie“ begann 1995, etwa sechs Monate nach dem Tod meiner Mutter, und dauerte ungefähr dreieinhalb Jahre. Heute bin ich vollständig geheilt, gehe aber immer noch einmal im Monat zu einer kurzen psychiatrischen Untersuchung, um kein Risiko einzugehen. Man hat mir erklärt, innerhalb von zehn Jahren nach Ausbruch der Krankheit bestehe ein statistisch relevantes Rückfallrisiko. Seit 2002 nehme ich kein Haldol [Haldoperidol, ein zur Behandlung von Schizophrenie verwendetes Antipsychotikum] mehr.
Ich lebe seit 1972 in Italien, stamme aber ursprünglich aus den Niederlanden. Zu Beginn meiner Erkrankung war ich 43 Jahre alt und lebte mit meinem Mann und Sohn in Turin.

Als damals die Krankheit ausbrach, begann ich Stimmen zu hören, die allmählich immer lauter wurden, bis sie mich schließlich völlig umgaben und alle Personen um mich betrafen. In meinem verwirrten Zustand fühlte ich mich von meinem Mann verfolgt, und die Stimmen brachten mich dazu, mich von ihm zu trennen. Glücklicherweise überließ ich ihm das Sorgerecht für unseren damals dreizehnjährigen Sohn.

Meine Wahnvorstellungen nahmen zu, und ich bildete mir ein, dass mein Vater mein einziger noch lebender Verwandter sei (obwohl meine drei Brüder und sechs Schwestern alle noch am Leben waren) und dass meine Großmutter, bei deren Tod ich erst sechs Jahre alt war, meine Mutter sei. Ich erinnere mich daran, dass sie mir als Kind Aufmerksamkeit und Zuneigung in einem Maß entgegenbrachte, wie ich es von meiner Mutter nie erhielt, und so verleugnete ich in meinem schizophrenen Zustand vollständig die Existenz meiner wirklichen Mutter und ersetzte sie durch meine Großmutter. Nach einiger Zeit rief ich auch bei meinem Vater nicht mehr an, da ich auch ihn für tot hielt. Auch meine alten Freunde und Kollegen in Turin besuchte ich nicht mehr, da ich mich von einem von ihnen bedroht fühlte.
Auch wenn ich damals anderer Ansicht war, so schätze ich mich heute doch glücklich, dass ich im Mai 1998 für zwei Monate in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Die Einweisung erfolgte zwangsweise, und in Fällen wie dem meinen halte ich das auch für gerechtfertigt. Konkret landete ich in der Psychiatrieabteilung eines Allgemeinkrankenhauses, was ich der großartigen Unterstützung durch meinen Mann, einen seiner Freunde hier in Turin wie auch meine Verwandten in den Niederlanden, vor allem aber der Beharrlichkeit meines Psychiaters Dr. Tibaldi verdanke.

Diese erste Erfahrung mit der Psychiatrie war unangenehm. Wir waren in großen Zimmern zusammengepfercht: acht Menschen mit den unterschiedlichsten Problemen und Temperamenten in einem Raum. Glücklicherweise waren wir durch die Psychopharmaka ausreichend betäubt, so dass wir trotzdem ruhig schlafen konnten.

Anfangs verweigerte ich die Einnahme jeglicher Medikamente, doch sobald ich – nach etwa drei Tagen – regelmäßig Haldol nahm, hörte ich die Stimmen nicht mehr. Erhalten blieben dagegen die fixen Ideen, die ich nach und nach aufgebaut hatte, doch änderte sich dies schrittweise durch meine zügige Rückkehr in die gewohnte Familienumgebung, durch Besuche bei Verwandten in den Niederlanden und durch Psychotherapie und die Sitzungen mit meiner Psychiaterin.

Meine niederländischen Verwandten riefen mich während meines Krankenhausaufenthalts in den ersten beiden Monaten an. Während meines Aufenthalts in der Übergangseinrichtung hörte ich nicht von ihnen, vielleicht auch deshalb, weil ich dort nur schwer zu erreichen war. Allerdings schrieb mir eine meiner Schwestern immer wieder Postkarten und Briefe – manchmal zwei oder drei pro Woche –, auch wenn ich nie antwortete. Dafür telefonierte ich jeden Tag mit meinem Sohn, egal wie unwohl ich mich fühlte, und erhielt von ihm an Wochenenden und Feiertagen Besuch. Mein Mann besuchte mich jeden Tag eine Stunde lang.

Nach zwei Monaten ließ mich mein Psychiater in eine Übergangseinrichtung in Turin verlegen, wo mein Sohn und mein Mann mich leichter besuchen konnten. Dort verbrachte ich die folgenden 13 Monate, bis September 1999.

An meinem dortigen Aufenthalt störte mich die Tatsache, dass ich mir ein Zimmer mit drei Personen teilen musste, die ich nicht kannte und mit denen ich teilweise auch nicht gut auskam. Unangenehm waren mir auch die Versammlungen jeden Abend, auf denen wir abwechselnd über ein bestimmtes Thema sprechen sollten. Da wusste keiner von uns, was er sagen sollte, und am Ende gingen wir alle nicht mehr hin. Es gab auch wöchentliche Einzelgespräche mit einem Mitarbeiter der Einrichtung, außerdem Reittherapie und Kontakttherapie mit Hunden; all das brachte mir aber wenig, denn ich war immer noch so in mich zurückgezogen, dass ich allenfalls zu einer Unterhaltung über praktische Dinge fähig war, etwa wie man sich den Tag vertreiben und was man esse könne; eine Ausnahme bildeten nur die persönlichen Telefongespräche mit meinem Sohn und – nach einem halben Jahr – kurze Besuche bei meinem Mann zu Hause.

Als positiv hingegen empfand ich andererseits die ausgedehnte Zeit der Stille, eine Art „Moratorium“, wie ich es dringend brauchte. Ich genoss auch die Ausflüge in die Berge und die Aufenthalte am Meer sowie die Freiheit, mich außerhalb der Einrichtung zu bewegen, die den Patienten dann eingeräumt wurde, wenn das Personal sich sicher war, dass sie zu den Mahlzeiten bzw. für die Nacht wieder zurückkehren würden.
Der Wiedereintritt in die Realität half mir erheblich, und ich war sehr dankbar, nach nur einem halben Jahr wochenendweise zu meiner Familie zurückkehren zu können und kurz vor meiner Entlassung aus der Übergangseinrichtung mit meinem Mann und meinem Sohn drei Wochen Urlaub machen zu dürfen.

Ein paar Wochen vor meiner endgültigen Rückkehr zu meinem Mann begann ich eine Psychotherapie bei Dr. Palazzi. Anfangs waren es wöchentliche Termine, mit der Zeit vergrößerten sich die Abstände. Wir unterhielten uns über mein gesamtes Leben und über mein Verhältnis zu meinem Sohn und meinem Mann. Ich weinte oft, und mir wurden durch den ständigen Kontakt mit meiner Therapeutin viele Dinge klar. Lange kamen mir die Sitzungen wie gewöhnliche Unterhaltung vor, doch dann erkannte ich, dass sie tatsächlich therapeutisch ausgerichtet waren.

Es würde zu weit führen, die Geschichte hier vollständig wiederzugeben, aber ich glaube heute, dass ich zu den Wurzeln vorgedrungen bin, die für meine Krankheit verantwortlich waren. In meinen Wahnvorstellungen hatte ich vier Verfolger, von denen meine Mutter die größte Bedeutung hatte. Mein ganzes Leben lang, bis zu ihrem Tod 1994, war ich mir nicht sicher, ob sie mich liebte; zu widersprüchlich waren ihre Signale und ihr Verhalten, selbst nachdem ich mit 18 ausgezogen war.

Die anderen Verfolger waren mein Mann, meine ältere Schwester und meine sizilianische Schwägerin. All diesen Personen gemeinsam ist, dass sie in meine persönliche Privatsphäre eingedrungen sind, indem sie sich in meine Beziehung zu meinem Mann bzw. meinem Sohn eingemischt und meine Freiheit zur persönlichen Entfaltung beeinträchtigt haben.

Mein Verhältnis zu meinem Mann ist aus all diesen Ereignissen gestärkt hervorgegangen. Ich spreche mit ihm offen über meine Erfahrungen, und er weiß, dass ich ihn als einen meiner wesentlichen Verfolger sah, obgleich er nicht die gesamte Geschichte kennt. Er stammt aus Süditalien, wo Konflikte in der Familie ein echtes Tabu sind, aber seine Einstellung mir gegenüber hat sich erheblich geändert. So lässt er mich heute frei entscheiden, ob ich ihn nach Sizilien zu seiner Familie begleiten möchte (wo einige seiner Verwandten sich zu stark in meine Privatsphäre einmischen), und er lässt mich in die Niederlande reisen, so oft ich möchte, auch ohne ihn.

Ich weiß jetzt, dass ich für unser gemeinsames Leben kämpfen und gegen die Konfliktscheue und Einmischung ankämpfen muss, die für seine Kultur typisch sind (die andererseits aber auch ein hohes Maß an Gastfreundschaft und Geselligkeit bietet).

Ich schäme mich nicht für meine frühere Krankheit, doch spreche ich darüber nur mit Menschen, die ähnliche Probleme gehabt haben oder die bereit sind, von ihrem „hohen Ross“ herunter zu kommen. Die einzige Person, mit der ich in aller Offenheit reden kann, ist eine ehemalige Kollegin und Freundin, die mir ein großer Trost ist. Manchmal schreibe ich auch einer Brieffreundin über meine Erfahrungen. Alle meine Geschwister in den Niederlanden kennen meine Geschichte, aber nur drei meiner Schwestern sind bereit, über einen Zusammenhang zwischen meiner Krankheit und dem Verhalten meiner Mutter und unserem familiären Umfeld zu sprechen; die Übrigen haben zu sehr Angst, dadurch aus ihrem Alltagsleben herausgerissen zu werden. Meine sizilianische Familie scheut sich, wie schon erwähnt, vor allen Konflikten.

Zu meinem persönlichen Wohlergehen und meiner Familie zuliebe bin ich heute nicht mehr berufstätig, sondern beschäftige mich mit vielen Dingen. Seit 1999 erhalte ich eine Behindertenrente und bin zufrieden damit. Ohnehin wäre es für mich, die ich über 50 Jahre alt bin, schwer, eine Stelle zu finden. So erledige ich stattdessen die Hausarbeit, gehe Einkaufen, besuche Freunde, reise und beschäftige mich mit meinen Hobbys wie Lesen, Stricken und Spazierengehen, manchmal mit meinem Mann. Es ist uns allen recht so.

Wenn ich auf meine Erfahrungen zurückblicke, wünsche ich mir, möglichst viele andere Patienten könnten eine solche Behandlung und Erholung erleben.

Am wichtigsten war für mich während all dieser Zeit die Unterstützung durch meinen Mann und meinen Sohn. Auch wenn mein Mann immer noch nicht über alle Einzelheiten meiner Krankheit Bescheid weiß, so war und ist doch ihre Liebe der wichtigste Grund für meine Genesung.