Erklärung – Die Herausforderungen aufgrund der Migration erfordern migrantensensible Gesundheitssysteme: für heute wie für die Zukunft

29-10-2015

Erklärung von Dr. Zsuzsanna Jakab, WHO-Regionaldirektorin für Europa

Der Zustrom von Flüchtlingen und Migranten in die Länder der Europäischen Region der WHO setzt sich mit unverminderter, gelegentlich sogar erhöhter Geschwindigkeit fort. Anfang des Monats meldete die Internationale Organisation für Migration eine nie da gewesene Zahl von Neuankömmlingen, wobei die täglichen Gesamtzahlen sogar die Höchststände aus dem Sommer übertrafen, wenn die Zahl der Flüchtlinge auf dem Seeweg am höchsten ist. Bisher sind im Laufe des Jahres 2015 knapp 700 000 Flüchtlinge und Migranten in die Europäische Region gekommen – zusätzlich zu den fast zwei Millionen Flüchtlingen in der Türkei. Nach Angaben des Amts des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen gibt es aktuell weltweit mehr als 60 Mio. Flüchtlinge, Asylbewerber und Binnenvertriebene, die vor Konflikten und Verfolgung auf der Flucht sind. Die Zahl der Menschen, die täglich weltweit von Konflikten zur Flucht gezwungen werden, hat sich nahezu vervierfacht: von knapp 11 000 im Jahr 2010 auf 42 500 im Jahr 2014. Diese Zahlen verdeutlichen die Tatsache, dass der Zustrom von Migranten in die Europäische Region keine isolierte Krise ist, sondern eine dauerhafte Realität, die für die Europäische Region noch jahrelang Folgen haben wird.

Deshalb ist es wesentlich, eine langfristige Perspektive zu verfolgen und mit dieser die Gesundheitspolitik und die Gesundheitssysteme so zu stärken, dass sie die gesundheitlichen Herausforderungen infolge der Migration heute wie auch in Zukunft bewältigen können. Hier liegen die Verpflichtung und die Verantwortung für die Europäische Region gemäß dem Rahmenkonzept „Gesundheit 2020", das mehr Gesundheit und gesundheitliche Chancengleichheit für alle anstrebt. Darüber hinaus haben im September 2015 alle 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen einstimmig die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verabschiedet. Darin wird wiederholt auf Migranten und Migration Bezug genommen und der Anspruch erhoben, dass auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung keiner zurückgelassen wird.

Da das WHO-Regionalbüro für Europa eng mit Gesundheitsbehörden in der gesamten Europäischen Region zusammenarbeitet, müssen wir gemeinsam gezielt auf die Schaffung einer migrantensensiblen Gesundheitspolitik und entsprechender Gesundheitssysteme hinarbeiten, die bereit und dafür gerüstet sind, die einzigartigen und vielfältigen Gesundheitsprobleme der in den Ländern der Region ankommenden Flüchtlinge und Migranten zu bewältigen, und die deren Menschenrechte und Würde achten. Bei der Gewährleistung des Wohlbefindens von auf der Flucht befindlichen Menschen und beim Schutz ihrer Gesundheit als einem grundlegenden Menschenrecht kommt dem Gesundheitswesen eine entscheidende Rolle zu. Viele der Menschen, die nach Europa kommen, haben traumatische Erfahrungen in Konfliktgebieten und eine extrem anstrengende Reise hinter sich. Wir müssen entschlossen darauf hinarbeiten, dass die Flüchtlinge und Migranten nicht nur Zugang zu einer bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung haben, sondern dass auch das Leistungsangebot angemessen an die demografischen Veränderungen und die Vielfalt innerhalb der Gesellschaft angepasst werden kann. In diesem Bestreben müssen wir die Menschenrechte und die Würde der Migranten in vollem Umfang achten. Wir müssen für Solidarität sorgen und eine Kultur des Willkommens schaffen.

Insbesondere sollten migrantensensible Gesundheitssysteme für eine bedarfsgerechte Verdolmetschung und kulturelle Mediation sorgen, damit die Flüchtlinge und Migranten die Hürden im Gesundheitssystem überwinden können, die sich aus ihren unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen Bedürfnissen ergeben. In migrantensensiblen Gesundheitssystemen wird auch sichergestellt, dass Leistungserbringer über ausreichende Fähigkeiten verfügen, um die Komplexität der kulturellen Vielfalt zu bewältigen. Dies bedeutet, dass das in vorderster Linie tätige Gesundheitspersonal – sowohl an den Grenzübergangsstellen als auch in den Ländern, in denen sich die Flüchtlinge und Migranten niederlassen – geeignete Instrumente und Schulungen erhalten muss, um den vielfältigen Bedürfnissen dieser Bevölkerungsgruppe gerecht zu werden. Engagierte Gesundheitsfachkräfte benötigen Wissen und Informationen, die ihnen eine wirksame Versorgung der betroffenen Menschen ermöglichen, die an einem breiten Spektrum von Gesundheitsproblemen leiden, die Gewalt ausgesetzt waren, psychische Gesundheitsprobleme haben und deren nichtübertragbare Krankheiten sich durch fehlende Behandlung verschärft haben. Weiterhin müssen wir auch eine Stärkung der Gesundheitsinformationssysteme anstreben, um die Beschaffung, Verfolgung und Bereitstellung der relevanten Daten über diese Bevölkerungsgruppen optimieren zu können. Die Fähigkeit eines Gesundheitssystems zu einer angemessenen Versorgung wird durch umfassendere und zuverlässigere Informationen über die gesundheitlichen Herausforderungen für die Migranten und Flüchtlinge gefördert.

Der Prozess der Anpassung der Gesundheitssysteme an die Bedürfnisse von Migranten ist komplex und erfordert umfangreiche Investitionen und einen bereichsübergreifenden Ansatz. Vor diesem Hintergrund unterstützt das WHO-Regionalbüro für Europa die Länder durch eine Reihe gemeinsamer Bewertungsmissionen, die die Ermittlung von Defiziten und Chancen und die Ausarbeitung von Empfehlungen zum Ziel haben. Wir werden diese Bewertungen fortsetzen und erforderlichenfalls auch Schulungen über die Bewältigung der Gesundheitsschutzaspekte der Migration anbieten.

Darüber hinaus werden auf einer hochrangigen Tagung im November, die auf Einladung des italienischen Gesundheitsministeriums stattfindet, Gesundheitsexperten und Vertreter der staatlichen Gesundheitsbehörden die Gelegenheit erhalten, einen gemeinsamen Ansatz zur Bewältigung der Herausforderungen zu vereinbaren, die sich aus dem jüngsten Zustrom von Flüchtlingen und Migranten ergeben, indem migrantensensible Gesundheitssysteme und -konzepte entwickelt werden.

Angesichts des nahenden Winters sind wir in besonderem Maße über die erhöhte Anfälligkeit der Flüchtlinge und Migranten besorgt. Wenn Menschen bei Temperaturen unter 16 °C im Freien oder in kalten Notunterkünften übernachten, sind sie anfälliger für Unterkühlung, Erfrierungen und andere Gesundheitsprobleme. Das Risiko erhöht sich, wenn sie keine angemessene Kleidung und Nahrung haben und es an medizinischer Versorgung fehlt. Ältere Menschen, Kinder und Menschen mit gesundheitlichen Problemen sind bei kalten Witterungsbedingungen anfälliger. Die wichtigsten Vorsichtsmaßnahmen zur Reduzierung der Exposition gegenüber Kälte sind:

  • Bereitstellung beheizter Unterkünfte, warmer Mahlzeiten und angemessener Kleidung;
  • besondere Vorsorgemaßnahmen für anfällige Gruppen;
  • Bereitstellung von Grippeimpfstoff;
  • Entdeckung und Behandlung von kältebedingten Erkrankungen.

Die Gesundheitsprobleme von Flüchtlingen und Migranten ähneln denen der übrigen Bevölkerung. Zu den häufigsten Gesundheitsproblemen neu angekommener Migranten gehören Unfallverletzungen, Unterkühlung, Verbrennungen, Herz-Kreislauf-Ereignisse, Komplikationen in Verbindung mit Schwangerschaft und Entbindung, Diabetes und Bluthochdruck. Migrantinnen sind häufig auch mit geschlechtsspezifischen Herausforderungen konfrontiert; dies betrifft insbesondere die Gesundheit von Müttern, Neugeborenen und Kindern und den Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, aber auch Frauen mit Gewalterfahrungen. Die Exposition von Migranten gegenüber den mit großen Bevölkerungsbewegungen verbundenen Risiken – psychosoziale Störungen, Probleme der Reproduktionsgesundheit, höhere Neugeborenensterblichkeit, Drogenmissbrauch, Ernährungsstörungen, Alkoholismus und Gewalterfahrungen – erhöht ihre Anfälligkeit gegenüber nichtübertragbaren Krankheiten. Das zentrale Thema in Bezug auf nichtübertragbare Krankheiten ist die Unterbrechung der Versorgung aufgrund eines fehlenden Zugangs oder der Dezimierung der Gesundheitssysteme und der Leistungsanbieter. Vertreibung führt zur Unterbrechung der kontinuierlichen Behandlung, die bei chronischen Erkrankungen unverzichtbar ist. Ein Mangel an Hygiene kann auch zu Hautinfektionen führen.

Die durch die Flüchtlinge und Migranten bedingte Krise macht sofortige Maßnahmen seitens des Gesundheitswesens und einer Vielzahl anderer wesentlicher Akteure erforderlich. Doch aufgrund der unvermeidlich langfristigen Folgen müssen wir die Gesundheitssysteme auch durch Konzepte und Programme unterstützen, die für die gesundheitlichen Bedürfnisse künftiger Migranten wichtig sein werden. Dies kommt nicht nur den in Europa ankommenden Menschen, sondern auch der Bevölkerung der Aufnahmeländer zugute. Ich verpflichte mich zur Zusammenarbeit mit den Ländern, um die Schaffung migrantensensibler Gesundheitssysteme zu einem erreichbaren Ziel für die Europäische Region zu machen, und ich möchte die Mitgliedstaaten ermutigen, dies zu einem Schwerpunkt und einer Priorität ihres Handelns zu machen.