Erklärung – Aktuelle Informationen zur COVID-19-Pandemie: Die Situation in der Europäischen Region der WHO

Kopenhagen, 15. Oktober 2020, Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, an die Presse

Kopenhagen, 15. Oktober 2020

Auf einer virtuellen Pressekonferenz erstattete der WHO-Regionaldirektor für Europa Bericht über die aktuelle COVID-19-Situation in der Europäischen Region vor dem Hintergrund eines signifikanten Anstiegs der Fallzahlen.

Guten Morgen, guten Tag!

Die Europäische Region durchlebt gerade die Pandemie intensiver als je zuvor. Doch Pandemie bedeutet nicht unbedingt, dass wir in düsteren Zeiten leben.

Heute möchte ich Sie über die epidemiologische Situation informieren und Ihnen unsere Sichtweise erläutern, wie wir zeitnah zu einem verhältnismäßigen Umgang mit der Pandemie gelangen können und was wir dabei vermeiden sollten.

Lassen Sie mich mit den Zahlen beginnen. Die Häufung der Fallzahlen im Herbst und Winter setzt sich in der Europäischen Region mit einem exponentiellen Anstieg der täglichen Fallzahlen und einem entsprechenden prozentualen Anstieg der täglichen Todesfälle fort.

Die sich ständig verändernde epidemiologische Situation in unserer Region ist äußerst besorgniserregend: die täglichen Fallzahlen und die Zahl der Krankenhauseinweisungen steigen, und COVID-19 ist inzwischen die fünfthäufigste Todesursache, und die Marke der 1000 Todesfälle pro Tag ist nun erreicht.

Die Europäische Region verzeichnet mit fast 700 000 gemeldeten Fällen die höchste wöchentliche Inzidenz von COVID-19-Fällen seit Beginn der Pandemie.

Die Zahl der gemeldeten Fälle liegt nun bei über 7 Mio. – nur zehn Tage nach Überschreiten der 6-Millionen-Marke. Am vergangenen Wochenende wurden neue Rekordzahlen erreicht, und die täglichen Gesamtfallzahlen lagen am 9. und 10. Oktober erstmals über 120 000.

Bedeutet das, dass wir wieder bei einer Situation wie Mitte März angelangt sind? Nein. Denn obwohl wir zwei- bis dreimal so viele Fälle pro Tag verzeichnen wie am Höhepunkt im April, so ist die Zahl der Todesfälle immer noch nur ein Fünftel so hoch. Die Verdopplungszeit bei Krankenhauseinweisungen ist immer noch zwei- bis dreimal so lang. In der Zwischenzeit hat sich das Virus nicht verändert: es ist weder gefährlicher noch weniger gefährlich geworden.

Für die höheren täglichen Ansteckungszahlen gibt es technische Gründe, vor allem die Zahl der durchgeführten Tests, die in den jüngeren Altersgruppen besonders hoch ist. Auch für die geringere Sterblichkeit gibt es Gründe, etwa den höheren Anteil der Übertragung unter weniger anfälligen jungen Menschen, was auch die Mobilität und den ungeschützten Kontakt innerhalb der jüngeren Altersgruppen zurückzuführen ist, die eher in der Lage sind, schwere Krankheitsverläufe zu überstehen und einen tödlichen Ausgang der Krankheit zu vermeiden.

Diese Zahlen besagen, dass die epidemiologische Kurve bisher steiler verläuft, aber der Anstieg langsamer und mit weniger Todesfällen verläuft. Doch die Situation kann sich durchaus drastisch verschlimmern, wenn sich die Krankheit infolge verstärkter generationenübergreifender sozialer Kontakte in geschlossenen Räumen wieder auf die älteren Kohorten ausbreitet.

Was liegt also vor uns?

Die Prognosen aus zuverlässigen epidemiologischen Modellen stimmen nicht gerade optimistisch. Diese Modelle deuten darauf hin, dass länger anhaltende Lockerungen die täglichen Todesfallzahlen bis Januar 2021 auf das Vier- bis Fünffache gegenüber den im April verzeichneten Ständen ansteigen lassen könnten.

Doch dieselben Modelle belegen, dass schon einfache Maßnahmen – etwa das allgemeine systematische Tragen von Masken (mit einer Quote von 95% ab sofort, anstatt der gegenwärtig verzeichneten 60%) in Verbindung mit strengen Kontrollen für Menschenansammlungen im öffentlichen Raum oder in Privaträumen – bis 1. Februar in unseren 53 Mitgliedstaaten bis zu 281 000 Menschenleben retten könnten.

Unter verhältnismäßig strengeren Szenarien liefert das Modell durchgehend weit optimistischere Prognosen, die zwar immer noch etwas höhere Erkrankungs- und Todesfallzahlen als während der ersten Welle voraussagen, aber mit einem niedrigeren Anstieg – als ob wir statt eines abrupten Höchstwerts eher ein höheres und längeres Anschwellen erwarten sollten, das uns mehr Reaktionszeit verschaffen würde.

Diese Prognosen bestätigen nur, was wir immer gesagt haben: Die Pandemie wird nicht von allein zurückgehen, doch wir können sie zurückdrängen.

Verhältnismäßige und zielgerichtete Reaktionen

In vielen Ländern der Europäischen Region werden derzeit die Maßnahmen verschärft, und das ist gut und absolut notwendig. Es sind angemessene und notwendige Reaktionen auf die aktuelle Datenlage: Übertragung und Ansteckung finden sowohl zuhause als auch an geschlossenen öffentlichen Orten sowie generell in Gemeinschaften statt, in denen Selbstschutzmaßnahmen nur unzureichend eingehalten werden.

Deshalb müssen wir bei allen örtlich angepassten Maßnahmen mit aller Konsequenz mehr Selbstschutz und die Beschränkung größerer Massenansammlungen fordern.

Die nun geltenden (oder vorgeschlagenen) Maßnahmen stellen eine Reaktion auf die gegenwärtige Situation dar und sollen einer etwaigen Verschlimmerung der Lage vorgreifen. Kurz ausgedrückt: Diese Maßnahmen sollen uns allen einen Vorsprung vor der Kurve erhalten und deren Verlauf abflachen. Sie sollen Leben vor COVID-19 retten, ohne andererseits Leben aufs Spiel zu setzen, sei es aufgrund anderer Krankheiten oder wirtschaftlicher Verzweiflung.

Jegliche weitere „Eskalation“ der Maßnahmen wäre das Ergebnis von Versäumnissen bei der Einhaltung früherer Maßnahmen. Deshalb ist es an uns, sie anzunehmen, während sie noch relativ einfach einzuhalten sind, anstatt später den schweren Weg einschlagen zu müssen, wie es für viele seit vergangenem Frühjahr so tragisch der Fall war.

Eine Frage, die sich mir nun vehement stellt, ist, ob das WHO-Regionalbüro für Europa für oder gegen einen Lockdown für ganze Länder ist.

Lassen Sie mich hierzu klarstellen: Ich habe bei diesen Presseveranstaltungen wiederholt unterstrichen, dass die Pandemie von heute nicht die Pandemie von gestern ist; dies gilt nicht nur für ihre Übertragungsdynamik, sondern auch für die Möglichkeiten, die wir heute zur Bewältigung der Pandemie haben. Ebenso gilt: Das, was wir vor sechs Monaten unter „Lockdown“ verstanden, entspricht nicht mehr unserer heutigen Definition.

Im März war dieser Lockdown ein kompletter Stillstand, bei dem unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften an allen Ecken angehalten wurden: keine Geschäfte, keine Ausflüge, kein Unterricht, keine Bewegungsfreiheit und alle Grenzen geschlossen. Im März war der Lockdown die automatische Option, weil wir auf dem falschen Fuß erwischt wurden.

Heute hat der Lockdown eine ganz andere Bedeutung. Er steht für eine graduelle Eskalation verhältnismäßiger, gezielter und zeitlich begrenzter Maßnahmen – Maßnahmen, an denen wir alle beteiligt sind, entweder als Einzelpersonen oder insgesamt als Gesellschaft, um Kollateralschäden für unsere Gesundheit, unsere Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes so gering wie möglich zu halten.

Unsere Botschaft lautet, dass bei jeder landesweiten Verschärfungsmaßnahme sowohl die direkten Risiken als auch die mit der Pandemie verbundenen Kollateralschäden gebührend berücksichtigt werden müssen.

Psychische Gesundheit:

  • Eine gemeindenahe psychische Gesundheitsversorgung.
  • Bekämpfung von Stigmatisierung und Fehlinformation.

Häusliche Gewalt zwischen den Geschlechtern:

  • Wir müssen aufeinander aufpassen.
  • Wir müssen das Sozialwesen in Gang halten.

Kollateralschäden für Schüler und Studenten:

  • Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, um die Schulen offen zu halten.
  • Wir müssen konkrete Konzepte für gefährdete Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen oder Erkrankungen entwickeln.

Verhinderung von Kollateralschäden und Bewältigung von anderen gesundheitlichen Ereignissen wie Krebs, Impfungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen:

  • Wir brauchen eine zweigleisige Antwort des Gesundheitssystems.

Wirtschaftliche Anfälligkeit:

  • Wir brauchen Sicherheitsnetze, die alle Bedürftigen auffangen, unbürokratischer sind und zusätzliche Unterstützungsangebote (auch im Bereich der psychischen Gesundheit) beinhalten.

Sorgen für unsere erschöpften Gesundheitsfachkräfte und andere Einsatzkräfte an vorderster Linie:

  • Bestandsaufnahme, Entschädigung und entschlossenes Handeln.

All diese Risiken müssen unter enger Mitverfolgung der Daten zu COVID-19 aufmerksam im Auge behalten werden.

Wir appellieren an Regierungen wie Bürger, Empathie zu zeigen und einen sozialen Dialog mit jenen zu führen, die am stärksten von den Beschränkungen betroffen sind, sodass sich bei ihnen wieder Hoffnung, Engagement und Vertrauen durchsetzen.