Erklärung – Bestandsaufnahme zu COVID-19 und Überlegungen zum weiteren gemeinsamen Vorgehen

WHO

Erklärung des WHO-Regionaldirektors für Europa auf einer Dringlichkeitssitzung der Gesundheitsminister aus der Europäischen Region der WHO über Prognosen für COVID-19 in der Wintersaison

Kopenhagen, 29. Oktober 2020

Die neuesten epidemiologischen Daten sind besorgniserregend.

  • In dieser Woche verzeichnete die Europäische Region mit über 1,5 Mio. gemeldeten Fällen in den letzten sieben Tagen die höchste wöchentliche Inzidenz von COVID-19-Fällen seit Beginn der Pandemie. Damit ist die Gesamtzahl der bestätigten Fälle in nur 14 Tagen von 7 auf 9 Mio. angewachsen, und heute hat die Europäische Region sogar die 10-Millionen-Marke überschritten.
  • In der überwiegenden Mehrzahl der Länder unserer Region liegt die 14-Tages-Inzidenz pro 100 000 Einwohner über 200 Fällen.
  • Die Zahl der Krankenhauseinweisungen ist wieder auf ein Niveau gestiegen, wie wir es seit dem Frühjahr nicht mehr gesehen haben: auf über 10 pro 100 000 Einwohner in einem Drittel der befragten Länder der Europäischen Region.
  • Mit einem Anstieg um 32% für die gesamte Region in der vergangenen Woche hat auch die Mortalität drastisch zugenommen. Das Virus breitet sich nun auch unter älteren Menschen und in anderen Risikogruppen wieder aus, und die Ausbreitung erfolgt nicht mehr ausschließlich über junge Menschen. Frühwarnsignale für die Gesamtsterblichkeit aus einigen Ländern sprechen eine deutliche Sprache: Wir können schnell wieder in eine signifikant überhöhte Mortalität geraten.
  • Die Testsysteme haben nicht mit der extrem schnellen Übertragung Schritt gehalten, und die Positivraten haben neue Höchststände erreicht und liegen in den meisten Ländern der Europäischen Region inzwischen bei über 5%.

Die Europäische Region ist erneut zum Epizentrum dieser Pandemie geworden. Auf die Gefahr hin, allzu schwarzmalerisch zu wirken, komme ich nicht umhin, unsere tiefe Besorgnis zum Ausdruck zu bringen, erkläre aber auch unsere feste Entschlossenheit, an Ihrer Seite zu stehen und sie nach Kräften zu unterstützen.

Ich habe diese Sitzung einberufen, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, Ihre größten Sorgen vorzubringen, und uns gemeinsame Überlegungen und einen fruchtbaren Erfahrungsaustausch zu ermöglichen. Ich bin der Meinung, dass der Ernst der Lage dies gebietet.

Unsere Partnerorganisation, das Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME), hat den 53 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region der WHO heute Prognosen für die Entwicklung von COVID-19 während der Wintersaison vorgelegt. Auch wenn diese Prognosen durchaus ernüchternd sind, so beinhalten sie doch eine Modellierung der Wirksamkeit von Strategien, die uns dabei behilflich sein können, die erwarteten negativen Auswirkungen auf unsere Bevölkerung und unsere Gesundheitssysteme zu verringern.

Die Schlüsselfrage, die sich viele Länder stellen, lautet: Lockdown, ja oder nein, und wann wird ein Lockdown unvermeidlich?

Wir wissen, dass ein Lockdown in dem Umfang wie in der ersten Jahreshälfte die Übertragung in der Bevölkerung reduzieren und
den Gesundheitssystemen den dringend benötigten Spielraum verschaffen wird, damit sie sich erholen und ihre Kapazitäten für die Versorgung der schweren COVID-19-Fälle und die Bereitstellung der unentbehrlichen Gesundheitsleistungen ausweiten können.

Doch wir alle wissen, dass ein vollständiger Lockdown die Nachfrage nach Angeboten der psychischen Gesundheitsversorgung stark erhöhen und eine Zunahme der häuslichen Gewalt bewirken wird; gleichzeitig ist eine Abnahme der Versorgung chronisch Kranker in Krankenhäusern zu erwarten, sodass die Zahl der vorzeitigen Todesfälle aufgrund dieser Erkrankungen steigen wird.

Die indirekten Auswirkungen auf Menschen, die in finanzielle Not geraten und auf soziale Maßnahmen angewiesen wären, würden weitere ökonomische Folgen nach sich ziehen und die zur wirtschaftlichen Erholung notwendige Zeit verlängern. Angesichts dieser Realitäten halten wir landesweite Lockdowns für ein letztes Mittel, da dabei auf die immer noch bestehende Möglichkeit verzichtet würde, alle Bürgerinnen und Bürger in grundlegende und wirksame Maßnahmen einzubeziehen.

Auch muss ein Lockdown nicht unbedingt in derselben Form erfolgen wie im März oder April. Nun, da wir kollektiv neu definieren, was wir unter diesem doch recht unglücklichen Begriff verstehen, möchte ich Ihnen für unsere Diskussion einige Überlegungen und Argumente an die Hand geben.

Erstens haben wir eine Reihe von Lehren gelernt.

Wir können Maßnahmen ergreifen, die etwas bewirken und sowohl Menschenleben als auch wirtschaftliche Existenzen retten. Modellierungen des IHME deuten darauf hin, dass das systematische Tragen von Schutzmasken durch die Allgemeinheit (mit einer Rate von 95% ab sofort) bis zum 1. Februar in den 53 Mitgliedstaaten in unserer Region bis zu 266 000 Menschenleben retten könnte.

Die Daten legen außerdem den Schluss nahe, dass die Empfehlung, nach Möglichkeit von zuhause aus zu arbeiten, zusammen mit der Beschränkung größerer Massenansammlungen und einer verhältnismäßigen Schließung von Versammlungsorten wirksam zur Rettung von Menschenleben und Existenzen beitragen kann.

Andererseits sind wir auch davon überzeugt, dass Kinder und Jugendliche nicht zu den wichtigsten Triebkräften der Übertragung von COVID-19 gehören. Deshalb werden Schulschließungen für sich nicht als wirksam angesehen und sollten weiter nur als letztes Mittel zur Anwendung kommen.

Zweitens dürfen wir die Auswirkungen der Corona-Müdigkeit auf das Wohlbefinden unserer Bevölkerung und die Wirksamkeit unserer Gegenmaßnahmen nicht unterschätzen.

Wir müssen die Bürger dazu ermutigen, uns bei der Suche nach Lösungen zu helfen. Ein sensibler Umgang mit den Erwartungen in der kommenden Wintersaison erfordert gute Kommunikationsarbeit. Alle Maßnahmen, die wir ergreifen, müssen in Bezug auf ihre Wirksamkeit bei der Verlangsamung der Übertragung sowie auf etwaige negative Folgen überprüft werden. Eine effektive Kommunikationsarbeit mit Hilfe von glaubwürdigen Datenprojektionen und wissenschaftlich fundierte Lösungen können uns dabei helfen, Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften einzubinden, damit sie unsere Bemühungen zur Bekämpfung der Pandemie auf dem Weg in einen schwierigen Winter unterstützen können.

Drittens müssen wir auch unser Gesundheitspersonal und unsere Gesundheitssysteme im Auge behalten.

Während im März Intensivstationen, Beatmungsgeräte und Schutzkleidung die entscheidenden begrenzenden Faktoren waren, gilt nun die größte Sorge dem Gesundheitspersonal. Unser Gesundheitspersonal ist erschöpft – in den Ländern unserer Region wächst bei vielen die Gefahr eines Burnouts.

Wir können COVID-19 nur bekämpfen, wenn wir uns um unser Gesundheitspersonal und andere systemrelevante Kräfte kümmern: ihre Bedürfnisse und ihr Wohlbefinden müssen für uns oberste Priorität haben.

Außergewöhnliche Zeiten verlangen von den Entscheidungsträgern außergewöhnliche Anstrengungen zur Unterstützung der Beschäftigten, etwa durch Vergütung nicht genommener Urlaubstage oder Ermöglichung eines Übertrags in das nächste Kalenderjahr und durch Bereitstellung zusätzlicher Unterstützung für sie und ihre Familien, einschließlich psychosozialer Angebote oder Kinderbetreuung.

Unsere Systeme benötigen eine Anpassung.

Wenn wir den Umfang von Tests und Kontaktermittlung nicht mehr ausweiten können, müssen wir überlegen, wo ein gezielter Einsatz unserer Ressourcen am sinnvollsten ist. Es ist möglich, dass eine gezielte Anpassung von Tests und Kontaktermittlung im Sinne einer maximalen Wirkung notwendig wird, bei der der Schwerpunkt auf Veranstaltungen gelegt wird, die die höchste Verbreitungsgefahr für die Bevölkerung mit sich bringen. Doch wir dürfen diese wesentlichen Systeme nicht aufgeben.

Zu meinem letzten Punkt: Bei der Unterstützung von bereits an ihren Grenzen angelangten Gesundheitssystemen müssen wir versuchen, ein zweigleisiges Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten, um die Folgen der gegenwärtigen Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 zu minimieren. Eine ausreichende personelle und finanzielle Ausstattung, leistungsfähigere Überweisungsverfahren und alternative (sprich: digitale) Plattformen für die Leistungserbringung können allesamt dazu beitragen, uns diesem Ziel näher zu bringen.

Wir müssen uns im Klaren darüber sein, wie nahe unsere Gesundheitssysteme am Kollaps sind, und dazu benötigen wir bessere Daten. Dies wiederum wird es uns ermöglichen, unsere Modellierungsszenarien zu verbessern.

Es ist jetzt an der Zeit, unsere Reserven zu mobilisieren und Einfühlungsvermögen und Dankbarkeit zu signalisieren – Dankbarkeit an unsere Bürgerinnen und Bürger, an unser Gesundheitspersonal und die anderen systemrelevanten Kräfte, an die Allgemeinheit – für ihren Mut und ihre Widerstandsfähigkeit.

Die Menschen brauchen Hoffnung. Im Wesentlichen kommt es auf Verständnis, Aufrichtigkeit und Transparenz an.
Wir sind gemeinsam in diese Pandemie geraten und müssen ihre schweren Folgen gemeinsam bewältigen, und ich habe keinen Zweifel daran, dass unsere gemeinsamen Anstrengungen auch von Erfolg gekrönt sein werden.