Erklärung – Digitale Gesundheit soll die Menschen zu selbstbestimmtem Handeln befähigen
Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, an die Presse
Kopenhagen, 25. Juni 2020
Guten Morgen. Vielen Dank, dass Sie an unserem Presse-Briefing teilnehmen wollen.
Gestatten Sie mir, Ihnen zunächst einen epidemiologischen Lagebericht über COVID-19 zu geben.
Weltweit wurden der WHO bisher 9 Mio. bestätigte COVID-19-Fälle und über 400 000 Todesfälle gemeldet, und die Pandemie beschleunigt sich weiter: am Sonntag wurde innerhalb von 24 Stunden eine Rekordzahl von 183 020 bestätigten neuen Fällen gemeldet.
Über 2,5 Mio. von ihnen entfielen auf die Europäische Region. Zwar ist der Anteil der aus der Europäischen Region gemeldeten Fälle an der weltweiten Gesamtzahl inzwischen niedriger als noch vor kurzem, doch werden aus unserer Region immer noch fast 20 000 neue Fälle und über 700 neue Todesfälle pro Tag gemeldet. Vergangene Woche verzeichnete die Europäische Region zum ersten Mal seit Monaten einen Anstieg der wöchentlichen Fallzahlen.
Seit Wochen spreche ich von der Gefahr eines Wiederaufflammens infolge der Anpassung der Maßnahmen in den Ländern. In einigen Ländern der Europäischen Region ist dieses Risiko nun eingetreten – 30 Länder bzw. Gebiete haben in den vergangenen zwei Wochen einen Anstieg der neuen kumulativen Fallzahlen erlebt. In elf dieser Länder bzw. Gebiete* hat eine beschleunigte Übertragung zu einem signifikanten Wiederanstieg geführt, der ohne entschlossene Gegenmaßnahmen die Gesundheitssysteme in der Europäischen Region erneut an ihre Belastungsgrenzen stoßen lassen wird.
Länder wie Polen, Deutschland, Spanien und Israel haben in den letzten Wochen zügig auf gefährliche COVID-19-Ausbrüche in Schulen, in Zechen und in der Lebensmittelindustrie reagiert. Dort, wo neue Fallhäufungen aufgetreten sind, wurden diese durch schnelle und gezielte Interventionen unter Kontrolle gebracht. Das sind gute Nachrichten! Ein Lob an die Behörden!
Erfreulich ist auch, dass mehrere Gesundheitsminister von einer Änderung im Verhalten der Bürger berichten, nämlich dass sie sich an Maßnahmen der sozialen Distanzierung halten und Gesichtsmasken tragen. Ein Lob an die Bevölkerung!
Gleichzeitig müssen wir die Erkenntnisse und Informationen aus unseren Surveillance-Systemen für COVID-19 intelligenter nutzen, um den einzigen Weg zur Minimierung der Übertragung zu optimieren, nämlich jeden einzelnen Fall aufzuspüren, zu isolieren, zu testen und zu versorgen. Jede Kontaktperson muss ermittelt und in Quarantäne überführt werden.
Hier können digitale Technologien eine entscheidende Rolle spielen, nicht zuletzt bei der Ermittlung von Kontaktpersonen. Österreich, Georgien und Nordmazedonien gehören zu den insgesamt 27 Ländern in der Europäischen Region, die nationale Lösungen für die digitale Rückverfolgung von Kontakten eingeführt haben; mindestens vier weitere Länder (Andorra, Finnland, Irland, Portugal) arbeiten derzeit an der Entwicklung solcher Lösungen.
Digitale Technologien und künstliche Intelligenz haben sich auch bei anderen Aspekten der Bekämpfung der Pandemie als nützlich erwiesen. In Frankreich kann ein mit künstlicher Intelligenz betriebener virtueller Telefonassistent mehr als 1000 Menschen gleichzeitig antworten. Italien erprobt gerade eine KI-basierte Technologie, bei der eine Smartphone-App mit Kamera wesentliche Statistiken wie Herzfrequenz, Herzfrequenzvariabilität, Sauerstoffsättigung und Atemfrequenz in Echtzeit erfasst. In Schweden wird Telemedizin zur Unterstützung der traditionellen Versorgung, insbesondere in ländlichen Gebieten, und inzwischen auch zur Erweiterung der Bekämpfung von COVID-19 eingesetzt.
Digitale Technologien haben sich als äußerst wirksame Instrumente bei der Bekämpfung von COVID-19 erwiesen. Doch dieselben Technologien haben uns auch einer Flutwelle von Informationen ausgesetzt und eine Vielzahl von Fragen in Bezug auf Datenschutz und den Schutz der Privatsphäre aufgeworfen.
Hier möchte ich Ihnen drei Botschaften mit auf den Weg geben:
Erstens:
Nutzen Sie die digitalen Technologien, aber mit Umsicht. Digitale Technologien können den Gesundheitssystemen dabei behilflich sein, unentbehrliche Gesundheitsleistungen zu erbringen, insbesondere während gesundheitlicher Notlagen. Doch die Einbeziehung digitaler Gesundheitslösungen muss mit Augenmaß und Umsicht sowie in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit der Öffentlichkeit und den Patienten erfolgen.
Zweitens:
Vertrauen ist alles. Digitale Tools sind auf das Vertrauen der Öffentlichkeit angewiesen. Bei Interventionen müssen Privatsphäre und Sicherheit der Bürger sowie ihre Daten geschützt werden. Grundlegende Menschenrechte und Gebote der Gleichstellung müssen auch in digitalen Umfeldern gewahrt bleiben und dürfen auch zu Zeiten einer Pandemie nicht auf der Strecke bleiben. Es ist die Aufgabe des Staates, sich mit Fragen der Eigentumsrechte an Daten, der Verwendung und des Schutzes von Daten sowie der Einwilligung zu befassen.
Drittens:
Wir können es uns nicht leisten, dass es Menschen gibt, die sich digitale Gesundheit nicht leisten können. Nicht alle sozialen Gruppen sind in gleichem Maße in der Lage, das Potenzial digitaler Technologien gezielt zur Bekämpfung des Virus einzusetzen. In der Europäischen Region liegt der Anteil der Haushalte, die über einen Internet-Zugang verfügen, zwischen 74% und 87%, wobei allerdings auf subnationaler Ebene sowie zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen durchaus größere Unterschiede bestehen können. Wir können uns zusätzlich zu der sozialen und ökonomischen Kluft nicht auch noch eine digitale Kluft leisten.
Nochmal die drei Botschaften:
- Nutzen Sie die digitalen Technologien, aber mit Umsicht.
- Schaffen Sie Vertrauen, indem Sie die Privatsphäre respektieren.
- Beseitigen Sie die digitale Kluft.
Das volle Potenzial der digitalen Gesundheit muss erst noch erschlossen werden.
Es geht darum, gesunde Entscheidungen in Bezug auf den eigenen Lebensstil zu treffen, um so eine europäische Gesundheitskultur zu schaffen.
Letztendlich geht es darum, niemanden zurückzulassen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
*Armenien, Schweden**, Republik Moldau, Nordmazedonien, Aserbaidschan, Kasachstan, Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kirgisistan, Ukraine, Kosovo (in Übereinstimmung mit Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen).
** Diese Informationen beruhen auf Daten, die der WHO in den vorausgegangenen zwei Wochen gemeldet wurden. In den vergangenen beiden Tagen [Stand: 27. Juni] war die Zahl der neuen bestätigten Fälle in Schweden rückläufig. Die Letalität geht ebenso wie die absoluten Todesfallzahlen ständig zurück.