Erklärung – Ältere Menschen sind durch COVID-19 am stärksten gefährdet, doch alle müssen handeln, um eine Ausbreitung in der Bevölkerung zu verhindern
Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
Kopenhagen, 2. April 2020
Danke, dass Sie sich heute zugeschaltet haben.
Seit meiner letzten Erklärung vor einer Woche hat sich die Zahl der im Labor bestätigten gemeldeten Fälle in der Europäischen Region auf 464 859 verdoppelt. Europa und Nordamerika sind inzwischen zum Epizentrum der Pandemie geworden.
Viele andere Länder, insbesondere im westlichen Teil der Region, verzeichnen mittlerweile eine großflächige Übertragung von Mensch zu Mensch. Inzwischen haben Italien mit 105 792 gemeldeten Fällen und Spanien mit 94 417 Fällen China überholt. Auch Frankreich und Deutschland melden eine beträchtliche Zahl von Fällen, nämlich 67 366 bzw. 52 128; andere Länder liegen dicht dahinter.
Es gibt eindeutig enorme Unterschiede zwischen den Ländern, und zwar sowohl hinsichtlich der Belastung ihrer Gesellschaften und Volkswirtschaften durch den COVID-19-Ausbruch, als auch in Bezug auf die Maßnahmen, die in den einzelnen Ländern der Europäischen Region ergriffen werden. Über COVID-19 gibt es gewaltige Mengen an Daten, aber bisher keine Anlaufstelle für die Mitgliedstaaten mit Informationen darüber, was die Gesundheitssysteme dagegen tun und ob ihre Maßnahmen wirken. Hier beim WHO-Regionalbüro für Europa bemühen wir uns nun verstärkt, das aktuelle Geschehen zu erfassen, die Länder bei ihren Überlegungen und Planungen zu unterstützen und die gewonnenen Informationen und Erkenntnisse mit politischen Entscheidungsträgern zu teilen: durch den Gesundheitssystem-Reaktionsmonitor zur COVID-19-Pandemie. Diese vom Regionalbüro entwickelte neue Plattform, die mit Unterstützung durch die Europäische Union und das Europäische Observatorium für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik betrieben werden soll, wird regelmäßig aktualisiert und soll als Grundlage für politische Entscheidungen in den unterschiedlichen Phasen der Pandemie dienen. Sie wird heute um 12 Uhr MESZ zusammen mit einer Pressemitteilung auf unserer Website eingestellt.
Die Mehrzahl der mit COVID-19 infizierten Personen bekommen eine selbstlimitierende Infektion und erholen sich bald. Doch wir wissen, dass eine Minderheit schwerere Symptome hat und ca. 10% der Fälle eine Intensivbehandlung erfordern. Leider sterben manche Patienten: bisher sind nach Berichten 30 098 Personen in der Europäischen Region an COVID-19 gestorben, davon 90% in den am stärksten betroffenen Ländern: Italien, Frankreich und Spanien.
Ältere Erwachsene tragen bei einer COVID-19-Infektion ein signifikant höheres Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs. Dies ist eine sehr wichtige Beobachtung für die Europäische Region: von den 30 Ländern mit dem höchsten Anteil älterer Menschen liegen mit einer Ausnahme (Japan) alle in der Europäischen Region. Darunter sind auch die Länder, die von der Pandemie am stärksten betroffen sind.
Wir wissen, dass über 95% dieser Todesfälle in der Altersgruppe über 60 Jahre aufgetreten sind. Mehr als 50% aller Todesfälle waren über 80 Jahre alt. Wir wissen auch aus Berichten, dass mehr als acht von zehn Todesfällen auf Personen mit mindestens einer Vorerkrankung entfallen, insbesondere Personen mit Herz-Kreislauf-Krankheiten, Bluthochdruck und Diabetes, aber auch Personen mit bestimmten anderen chronischen Erkrankungen.
Heute habe ich drei zentrale Botschaften zu der COVID-19-Pandemie und der dringenden Notwendigkeit, unsere ältere Bevölkerung zu schützen, zu versorgen und zu unterstützen.
Erstens müssen wir hervorheben, dass zwar ältere Menschen am stärksten durch COVID-19 gefährdet sind, dass aber wir alle unabhängig vom Alter solidarisch handeln müssen, um eine weitere Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung zu verhindern.
Zu den Gründen, warum ältere Menschen so stark von COVID-19 betroffen sind, gehören die mit dem Altern einhergehenden physiologischen Veränderungen, eine schwächere Immunabwehr und Mehrfacherkrankungen, die ältere Erwachsene anfälliger für die Infektion selbst machen und für sie das Risiko eines schweren Verlaufs der COVID-19-Krankheit und ernster Komplikationen erhöhen.
Doch Alter ist nicht der einzige Risikofaktor für einen schweren Krankheitsverlauf. Die Vorstellung, dass COVID-19 nur ältere Menschen betrifft, entspricht einfach nicht den Tatsachen. Wie ein Kollege vor kurzem sagte: „Auch junge Menschen sind nicht unbesiegbar.“ 10% bis 15% der Menschen unter 50 Jahren bekommen eine moderate bis schwere Infektion. Schwere Krankheitsverläufe werden auch von Jugendlichen oder von Personen zwischen 20 und 30 Jahren gemeldet, von denen viele auf der Intensivstation behandelt werden müssen und bedauerlicherweise einige sogar sterben.
Erfreulich ist dagegen, dass es Berichte von über 100-Jährigen gibt, die wegen COVID-19 ins Krankenhaus eingeliefert wurden und sich danach vollständig erholt haben. Es wird immer deutlicher, dass der Gesundheitszustand der Betroffenen vor Ausbruch der Pandemie eine wesentliche Rolle spielt. Menschen, die gesund altern, sind weniger gefährdet.
Für all jene, die sich in Selbstquarantäne befinden oder von zuhause aus arbeiten, kommt es darauf an, einen gesunden Lebensstil aufrechtzuerhalten: gute Ernährung, Bewegung und Verzicht auf Tabak- und Alkoholkonsum.
Die verstärkten Anstrengungen zur Eindämmung der Pandemie können zu einer Beeinträchtigung der übrigen Gesundheitsversorgung, zur Unterbrechung der Versorgung mit Medikamenten, zu Kontaktsperren für Patienten und zur Einstellung von Sozialleistungen und anderen staatlichen Leistungen führen; dies hat Auswirkungen auf Menschen mit chronischen Herz- und Lungenerkrankungen, Diabetes oder geschwächtem Immunsystem (etwa infolge einer Krebsbehandlung).
Deshalb appelliere ich dringend an Regierungen und Gesundheitsbehörden, die Folgen von Störungen der Versorgung abzufedern, da sie Auswirkungen auf Menschen mit chronischen Vorerkrankungen haben und so Krankheit und Behinderung verschärfen. Konzepte für Altern in Gesundheit müssen weiterhin einen hohen Stellenwert auf der politischen Tagesordnung haben.
Die Zahlen ergeben eindeutig Sinn: Es ist für jede einzelne Altersgruppe wichtig, sich selbst sowie Familie und Umfeld vor einer Infektion zu schützen. Dies ist nicht nur ein Akt der Solidarität mit anderen, und insbesondere den Risikogruppen für einen schweren Krankheitsverlauf, sondern auch entscheidend für die eigene Gesundheit und Sicherheit.
Also lautet meine erste Botschaft: Die Pandemie betrifft ältere Menschen, aber auch alle anderen Altersgruppen.
Mein zweites Anliegen betrifft die Bedeutung einer uneingeschränkten Unterstützung für alle Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen, insbesondere all jene, die Gesundheits- und Sozialleistungen für ältere Menschen erbringen, damit niemand zurückgelassen wird.
Die WHO unterstreicht weiterhin die Bedeutung des Schutzes unseres Gesundheitspersonals. Denn 10% der COVID-19-Patienten in unserer Region sind Gesundheitsfachkräfte. Sie müssen mit den benötigten Schulungsmaßnahmen und Ressourcen unterstützt werden, vor allem mit angemessener Schutzkleidung. Dies gilt auch für jene, die Gesundheits- und Sozialleistungen für ältere Menschen an deren Wohnort oder in Einrichtungen der Langzeitpflege erbringen. Sie sind unsere Kolleginnen und Kollegen, die für die Anfälligsten unter uns sorgen: gebrechliche Menschen und Personen mit Demenzerkrankungen.
Vergessen wir nicht, dass bereits vor der COVID-19-Pandemie viele Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen, die in der Langzeitpflege tätig sind, unter problematischen Bedingungen mit spärlichen Ressourcen arbeiten mussten, ob im gemeindenahen Umfeld oder in Pflegeeinrichtungen.
Doch hier habe ich Erfreuliches aus Irland und Belgien zu vermelden:
Irland hat in einer nationalen Initiative im Ruhestand befindliche Gesundheitsfachkräfte, also Ärzte und Pflegekräfte, dazu aufgerufen, zu ihrer früheren Tätigkeit zurückzukehren. Auf die von Premierminister Varadkar gestartete Initiative „Auf Abruf für Irland“ gingen innerhalb von nur drei Tagen 24 000 Anträge ein. Eine wahrlich unglaubliche Solidarität.
In Belgien nehmen sich Pflegekräfte trotz erhöhter Arbeitsbelastung die Zeit, über den Flämischen Seniorenrat (Vlaams Ouderenraad) und unter Nutzung von Telefon und sozialen Medien Kontakte zwischen Pflegeheimbewohnern und ihren Angehörigen anzubahnen und zu fördern, um so beiden Seiten Sicherheit zu geben.
Meine zweite Botschaft lautet also: Schutz des Personals im Gesundheits- und Sozialwesen.
Drittens: Unterstützung und Schutz von allein zuhause lebenden älteren Menschen gehen uns alle an.
Ich erinnere die Regierungen und die zuständigen Behörden daran, dass alle Gemeinden dabei unterstützt werden müssen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um ältere Menschen mit dem Nötigen zu versorgen. Eine solche Unterstützung umfasst einen sicheren Zugang zu nährstoffreichen Lebensmitteln, zu Grundversorgungsgütern, zu Geld und zu Medikamenten zur Förderung der körperlichen Gesundheit, aber auch einen Zugang zu sozialen und psychosozialen Angeboten sowie Gesundheitsinformationen, um das seelische Wohlbefinden zu erhalten. Alle älteren Menschen sollten während dieser Zeit mit Achtung und Würde behandelt werden. Denken Sie daran: Wir wollen niemanden zurücklassen.
In vielen Ländern der Europäischen Region werden ältere Menschen inzwischen gebeten, über längere Zeiträume zuhause zu bleiben, in Isolation (oder, wie es oft heißt, zur „Abschirmung“); dies gilt vor allem für Menschen mit geschwächtem Immunsystem oder chronischen Erkrankungen. Wir müssen dafür sorgen, dass ihre Versorgungspläne angepasst und Wege für die Inanspruchnahme von Leistungen festgelegt werden und dass eine Überwachung ihrer Einhaltung von Medikationsplänen sowie der Zugang zu den benötigten Gütern und Geräten gewährleistet sind; außerdem müssen Beförderung und Unterstützung für die Selbstbewältigung sowie der Zugang zu Rehabilitationsangeboten und Palliativversorgung sichergestellt sein. Insgesamt kommt es darauf an, dass wir den Anschluss halten.
Schließlich noch eine Nachricht an unsere jüngeren Zuhörer: Wenn es die Sicherheit eurer Großeltern erfordert, dass ihr sie nicht persönlich besucht, dann sprecht doch mit ihnen, und zwar jeden Tag, damit sie sich nicht allein fühlen. „Räumlicher Abstand bedeutet nicht soziale Isolation.“ Sorgt dafür, dass eure Großeltern die Informationen verstehen, die ständig in den Medien auf sie einprasseln, dass sie sich gut informiert und auch einbezogen fühlen.
Das Spanische Rote Kreuz, das über 200 000 Freiwillige in mehr als 1400 Städten verfügt, hat eine Informationskampagne für 400 000 als besonders gefährdet eingestufte Menschen gestartet, insbesondere ältere Menschen und Personen mit chronischen Erkrankungen. In Irland sind örtliche Sportvereine und gesellschaftliche Gruppen dazu übergegangen, ältere Menschen regelmäßig anzurufen, für sie einzukaufen und die Einkäufe an der Türschwelle abzustellen. Diese täglichen Termine sind zu einer ungeheuer wertvollen Unterstützung für Tausende Menschen im Land geworden.
Wenn Sie der Meinung sind, dass in Ihrem Umfeld Unterstützung benötigt wird, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt, sich zu engagieren.
Ich appelliere dringend an Sie alle, entschlossen zu handeln und auf eine Gesellschaft und die Schaffung fürsorglicher Umfelder hinzuarbeiten, die ein Altern in Gesundheit fördern, wie wir alle dies in Friedens- und Kriegszeiten verdienen.
Wir werden bei dieser Pandemie einen hohen Preis zahlen und schwere Wunden davontragen, dann aber gestärkt und für die Zukunft gerüstet daraus hervorgehen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.