Erklärung über die Zukunft der psychischen Gesundheit, Menschenrechte und den Wiederaufbau in der Europäischen Region
Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
Hochrangiges Seminar von Mental Health Europe, Oktober 2020
An 2020 werden wir uns einmal als ein Jahr erinnern, das die Welt erschütterte und viele Länder in die Knie zwang. Eine unvorstellbare Zahl von Menschenleben und Existenzen sind der COVID-19-Pandemie zum Opfer gefallen. Familien und Gemeinschaften wurden auseinandergerissen, Unternehmen gingen in Konkurs, und den Menschen gingen Möglichkeiten verloren, die nur ein Jahr zuvor noch als selbstverständlich galten.
Doch wir haben einen Weg vor uns, auf dem wir bedeutsame Veränderungen herbeiführen können. Als WHO-Regionaldirektor für Europa setze ich in Bezug auf psychische Gesundheit vorrangig auf Anstrengungen in drei zentralen Bereichen:
- Bekämpfung von Stigmatisierung und Fehlinformationen, die das Leiden verschlimmern;
- Verlagerung der psychischen Gesundheitsversorgung auf die gemeindenahe Ebene; und
- Reformierung der Politik und Erhöhung der Investitionen.
Um zu verstehen, wohin unser Weg führt, müssen wir zuerst verstehen, wo wir herkommen
… und das bedeutet, dass wir uns vergegenwärtigen müssen, welche Belastung die Pandemie für die psychische Gesundheit und das seelische Wohlbefinden der Menschen bedeutet.
Von den Ängsten in Bezug auf die Übertragung des Virus und den psychologischen Folgen von Quarantäne und Selbstisolation bis zu den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit, finanziellen Sorgen und sozialer Ausgrenzung – die Folgen für die psychische Gesundheit werden langwierig und weitreichend sein. Klar ist auch: selbst wenn die Folgen unterschiedlich ausfielen, so wurde doch keine demografische Gruppe oder Altersgruppe verschont.
Die ältere Bevölkerung war zu ihrem eigenen Schutz in verstärktem Maße Isolation, Einsamkeit und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. Andere Erwachsene mussten mit der täglichen Ungewissheit in Bezug auf Beschäftigung und Einkommen und mit den Bedürfnissen ihrer Familie fertigwerden. Das Gesundheitspersonal war am Arbeitsplatz einer enormen psychischen Belastung ausgesetzt, oft ohne ausreichende Unterstützung zu erhalten.
Zwar können sich Kinder und Jugendliche mit COVID-19 infizieren und das Virus übertragen, doch blieben sie bisher insofern weitgehend von den direkten gesundheitlichen Folgen verschont, als die meisten Fälle von COVID-19 in diesen Altersgruppen mild bis asymptomatisch verliefen. Doch sie sind weiterhin von den Folgen von Schutzmaßnahmen betroffen, die unbeabsichtigt mehr Schaden als Nutzen bringen, wie etwa Schulschließungen.
Insgesamt gesehen sind die schädlichen Auswirkungen der Pandemie nicht gleich verteilt. Denn die einkommensschwachen und anfälligen Gruppen sind am stärksten betroffen und haben oft am wenigsten Zugang zu den unentbehrlichen Leistungen, die sie so dringend benötigen.
Leistungsangebote beeinträchtigt, Nachfrage steigend
Während der akuten Phase der Pandemie wurden in der gesamten Europäischen Region Lockdown-Maßnahmen eingeführt und Ressourcen zur Bekämpfung des Virus eingesetzt. Ebenso wie die primäre Gesundheitsversorgung und die Behandlung nichtübertragbarer Krankheiten wurde auch die psychische Gesundheitsversorgung dramatisch gestört.
Nun, da wir uns erholen und die gesundheitlichen Prioritäten neu bewerten, müssen wir bestimmen, wie wir auf die erhöhten psychosozialen Bedürfnisse der Bevölkerung zu einer Zeit reagieren, in der die Versorgung so stark beeinträchtigt ist.
COVID-19 hat uns vor Augen geführt, dass wir, wenn nötig, äußerst weitreichende politische und gesellschaftliche Veränderungen zum Wohle der Bevölkerung veranlassen können. Gesundheit, einschließlich der psychischen Gesundheit, muss zum zentralen Bestandteil unserer Wiederaufbaubemühungen nach der Pandemie werden.
Mit zunehmender Anerkennung der Bedeutung der psychischen Gesundheit müssen wir angemessen reagieren
Auch vor den herausfordernden Ereignissen des Jahres 2020 hatte ich die psychische Gesundheit schon als ein zentrales Anliegen und als Priorität für die Europäische Region genannt. Während meiner Tätigkeit für Ärzte ohne Grenzen konnte ich mich unter verschiedenen komplexen Rahmenbedingungen aus erster Hand davon überzeugen, wie stark sich eine unzureichende Versorgung und eine tiefe Stigmatisierung auf die psychische Gesundheit auswirken. Dies hat meine Arbeit für die WHO zur Stärkung der Gesundheitssysteme entscheidend geprägt.
Während meines Wahlkampfs als Regionaldirektor bin ich in alle Teile der Europäischen Region gereist und mit Vertretern der Gesundheitsministerien zusammengetroffen. Bei jedem einzelnen Besuch kamen wir auf dieses Thema zu sprechen. Es zeigte sich eine wachsende Besorgnis über die Belastung der öffentlichen Gesundheit durch psychische Erkrankungen, die Folgen von Stigmatisierung und die Zunahme von Ungleichheiten.
Deshalb habe ich die psychische Gesundheit zu einer zentralen Priorität in meiner gesundheitlichen Zukunftsvision für die Europäische Region der WHO, dem Europäischen Arbeitsprogramm 2020–2025 – „Gemeinsam für mehr Gesundheit“, gemacht. Dieser strategische Arbeitsplan wurde auf der im letzten Monat abgehaltenen Tagung des Regionalkomitees nach umfassenden Beiträgen von nichtstaatlichen Akteuren von unseren Mitgliedstaaten einstimmig angenommen, und die Ziele im Bereich der psychischen Gesundheit erhielten breite Unterstützung.
Diese Ziele werden durch das Bündnis für psychische Gesundheit operationalisiert. Das Bündnis wird unter der Schirmherrschaft der Fürsprecherin für die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, Ihrer Majestät Königin Mathilde der Belgier, stehen. Es wird Mitgliedstaaten, innovative Kräfte und Aktivisten zusammenführen, aber vor allem Leistungsempfänger und Leistungserbringer mit einbeziehen.
Das Bündnis verfolgt drei Hauptziele:
- Bekämpfung von Stigmatisierung und Diskriminierung;
- Verlagerung der psychischen Gesundheitsversorgung auf die gemeindenahe Ebene;
- Reformierung der Politik und der Investitionsstrukturen.
Bekämpfung von Stigmatisierung
Es darf nicht hingenommen werden, dass Personen mit psychischen Gesundheitsproblemen und ihre Familien Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt sind und damit zu Opfern werden. Das Bündnis wird an den Bemühungen zur Beseitigung von Stigmatisierung und Diskriminierung anknüpfen, indem es die Bevölkerung einbindet und ihre psychische Gesundheitskompetenz fördert, auch durch abgestimmte Anstrengungen mit dem Gesundheitspersonal in den Ländern der Europäischen Region.
Verlagerung der psychischen Gesundheitsversorgung auf die gemeindenahe Ebene
Die Chance, Gesundheit und Wohlbefinden in alle Politikbereiche einzubeziehen, verdeutlicht, dass neue Arbeitsmethoden schnell an Boden gewinnen. So haben wir beispielsweise im Juli in Belgien eine Frau getroffen, deren Versorgung revolutioniert und erheblich verbessert wurde, als mobile Teams für die häusliche Betreuung eingesetzt wurden. Wir haben immer mehr Anhaltspunkte dafür, dass fachübergreifende Netzwerke, die vielfältige Leistungen auf gemeindenaher Ebene erbringen, eine lebenswichtige Rettungsleine für Personen mit psychischen Gesundheitsproblemen sein können.
Die Pandemie hat das wahre Potenzial digitaler Lösungen für die psychische Gesundheit verdeutlicht. Dieser neue Quantensprung kann uns dabei behilflich sein, den Bedürfnissen von Patienten mit Vorerkrankungen und von Personen mit neu entstandenen psychischen Gesundheitsproblemen besser gerecht zu werden.
Unser Personal in Psychiatrie und Sozialwesen ist ein integraler Bestandteil dieser Bemühungen. Ohne aufrichtige Anerkennung des Wertes dieses Personals sowie eine vorrangige Behandlung ihrer Bedürfnisse sind keine echten Reformen in der psychischen Gesundheitsversorgung möglich.
Reformierung von Politik und Investitionen
Nach der Pandemie sind wir in der Lage, das Ausmaß ihrer Auswirkungen auf die psychische Gesundheit besser abzuschätzen und Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Folgen in den Vordergrund zu stellen. Inzwischen gibt es eine neue Sensibilität und ein neues Bewusstsein für die Bedeutung einer intakten psychischen Gesundheit und die Notwendigkeit von Investitionen in die Versorgung auf der Grundlage aussagekräftiger Erkenntnisse.
Dieses erneuerte Bewusstsein birgt eine einzigartige Chance auf höhere Investitionen in die Bereitstellung solcher Leistungen auf der gemeindenahen Ebene sowie in Initiativen zur Bekämpfung von Stigmatisierung und zur Aufklärung der Bevölkerung.
Ich bin zuversichtlich, dass wir durch Handeln nach dem Motto „Gemeinsam für mehr Gesundheit“ wahrhaft etwas bewirken können. Und so möchte ich Mental Health Europe, die Mitgliedstaaten, die Europäische Kommission, die Mitglieder des Europäischen Parlaments und allen anderen heute hier versammelten Partner dazu einladen, zu unseren Bemühungen beizutragen und sich für psychische Gesundheit als festen Bestandteil des Zielkatalogs für Gesundheit und Wohlbefinden einzusetzen.
Nun, da wir uns mit den Auswirkungen von COVID-19 auf unser Leben vertraut gemacht haben, wächst unser Potenzial für die Erfüllung der vielfältigen gesundheitlichen Bedürfnisse unserer Bevölkerung. Das gemeinsame Trauma der Pandemie verschafft uns die Chance, die Art und Weise, wie wir füreinander sorgen, neu zu gestalten und ein gemeinsames Umfeld für Gesundheit und Wohlbefinden zu schaffen.