Erklärung – COVID-19: Vorbereitung auf den Herbst ist eine Priorität für das WHO-Regionalbüro für Europa
Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, an die Presse
Kopenhagen, 18. Juni 2020
Guten Morgen, guten Tag, und vielen Dank, dass Sie heute gekommen sind.
Gestatten Sie mir, mit einem kurzen Überblick über die aktuelle COVID-19-Situation zu beginnen.
Das Virus hat inzwischen weltweit fast eine halbe Million Menschenleben gefordert: jeder einzelne Fall ist eine Tragödie. Die Zahl der weltweit bestätigten Fälle liegt nun bei über acht Millionen. 31% der Fälle und 43% der Todesfälle weltweit sind in der Europäischen Region aufgetreten.
Nach Wochen abnehmender Fallzahlen in manchen Ländern hat sich die Zahl der neuen Fälle in der Europäischen Region inzwischen bei durchschnittlich 17 000 bis 20 000 Fällen pro Tag stabilisiert.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen Trend hinweisen, der in unserer gesamten Region die Alarmglocken läuten sollte: In einigen Ländern steigt die Inzidenz weiter, während andere – Nordmazedonien, Armenien, Aserbaidschan, Usbekistan und Israel – einen Anstieg der Fallzahlen verzeichnen.
Im vergangenen Monat hat sich die Zahl der Länder der Europäischen Region, die eine signifikante Zunahme der kumulativen Inzidenz erleben, mehr als verdreifacht: von 6 auf 21 Länder.
Wie ich bereits gegenüber vielen Journalisten geäußert habe, befindet sich COVID-19 in vielen Ländern immer noch in einer sehr aktiven Phase. Es ist wichtig, die Bemühungen zum Wiederaufbau nach den Ausgangsbeschränkungen fortzusetzen, ebenso wichtig ist aber auch, dass die Behörden umfassend in leistungsfähige Surveillance-Systeme zur Entdeckung, Untersuchung und Rückverfolgung der Kontakte von Fällen investieren, um bei einer Rückkehr des Virus weitere kostspielige Ausgangsbeschränkungen in den kommenden Wochen und Monaten zu vermeiden.
Eine Warnung haben wir bereits erhalten: Die Wiedereröffnung der Schulen in einigen Ländern hat an einzelnen Orten zu einem Aufflammen der Fallzahlen geführt, und wir müssen gewissenhaft bleiben und bei der Aufhebung der Beschränkungen mit Augenmaß vorgehen.
Ich wiederhole: Das Risiko ist weiterhin in ALLEN Ländern hoch.
Ich habe zahlreiche Fragen von Journalisten darüber erhalten, welche Auswirkungen die Pandemie auf andere Bereiche von Gesundheit und Wohlbefinden hat.
Die uns hierzu vorliegenden Daten stimmen bedenklich.
Die Pandemie droht die Erfüllung der meisten Ziele für nachhaltige Entwicklung bis 2030 zu gefährden. In der Europäischen Region melden 68% der Länder, dass Angebote zur Bewältigung nichtübertragbarer Krankheiten durch die Pandemie beeinträchtigt werden. 66% der Angebote für die Bewältigung von Bluthochdruck und 58% der Angebote für die Bewältigung von Diabetes und seinen Komplikationen wurden gänzlich oder teilweise eingestellt. In den Niederlanden sank die Diagnose neuer Krebserkrankungen um 25%, und in mehreren Ländern wurden die Krebsvorsorgeuntersuchungen vorübergehend eingestellt. In Spanien sank die Zahl der von Kardiologen behandelten Herzinfarktfälle um 40% gegenüber den Wochen vor der Epidemie. Darüber hinaus haben wir auch einen Rückgang der Fallentdeckungsrate für Tuberkulose um bis zu 60% beobachtet, was eine Verzögerung des Behandlungsbeginns und einen Anstieg der Mortalität zur Folge hat. In manchen Ländern wurde der Impfbetrieb vorübergehend eingestellt, andere erlebten einen erheblichen Rückgang der Durchimpfung: so war etwa im Vereinigten Königreich Mitte April ein Rückgang der Masern-Mumps-Röteln-Impfungen um 20% zu verzeichnen.
Dieser Rückstau an ungedecktem Versorgungsbedarf muss behoben werden.
Wir müssen diese und andere lebenswichtige Leistungsangebote dringendst wieder eröffnen, dabei aber gleichermaßen auf die Sicherheit des zuständigen Gesundheitspersonals und der Patienten achten.
Viele von Ihnen fragen, wie die Zukunft aussehen wird.
Mit jedem Tag erfahren wir mehr über das Virus und kommen einer sicheren und wirksamen Behandlung und einem Impfstoff einen Schritt näher. So konnte gestern mit dem bahnbrechenden Ergebnis einer randomisierten Studie nachgewiesen werden, dass eine niedrige Dosis des Steroids Dexamethazon die Mortalität bei Patienten mit einem schweren Krankheitsverlauf um ein Drittel senken kann.
Dies ist ein enormer Fortschritt, der jedoch unsere Aufmerksamkeit nicht von der vor uns liegenden Aufgabe ablenken darf. Die Zukunft birgt Chancen, aber auch Risiken.
In einer in The Lancet veröffentlichten Studie wurde ein besorgniserregendes Bild gezeichnet: Demnach leiden 22% der Weltbevölkerung, also 1,7 Mrd. Menschen, an mindestens einer Vorerkrankung, die im Falle einer Infektion mit COVID-19 ihre Gefährdung in Bezug auf einen schweren Krankheitsverlauf erhöhen würde.
Darüber hinaus naht zum Ende des Sommers eine neue Grippesaison. In der Saison 2018–2019 starben nach Schätzungen 152 000 Menschen an Influenza. Doch nur ein Drittel der Altersgruppe über 65 erhielt eine Grippeimpfung . Eine Impfung von durch Influenza stark gefährdeten Personen sowie von Gesundheitspersonal wird entlastende Wirkung für die Gesundheitssysteme haben, die auch die COVID-19-Patienten versorgen müssen.
Die Vorbereitung auf den Herbst ist jetzt eine Priorität für das WHO-Regionalbüro für Europa.
Abschließend habe ich noch eine übergeordnete Botschaft für Sie:
Wir haben es noch nicht überstanden. Durch Ausgangsbeschränkungen und soziale Distanzierung haben wir Zeit gewonnen.
Dort, wo wir die Chance haben, müssen wir sie ergreifen und unsere Bereitschaftsplanung und Handlungsbereitschaft stärken: in unseren Notfalldiensten und bei der routinemäßigen Gesundheitsversorgung. Das heißt, auf das Beste hoffen und auf das Schlimmste vorbereitet sein: eine wahrscheinliche Rückkehr von COVID-19 in allen Ländern und in den Regionen, Städten und Gemeinden. Eine beliebte russische Redensart besagt: wir zählen unsere Küken im Herbst; aber das hängt davon ab, wie wir jetzt handeln.
Ich danke Ihnen.