Erklärung – Wiederaufbau muss zu einer anderen Wirtschaft führen: zu einer Ökonomie des Wohlergehens

Kopenhagen, 28. Mai 2020, Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, an die Presse

Kopenhagen, 28. Mai 2020

Heute sind es etwas mehr als vier Kalendermonate seit der offiziellen Meldung der ersten Fälle des neuartigem Coronavirus in der Europäischen Region der WHO.

Gestatten Sie mir deshalb, Ihnen einen kurzen Überblick über die aktuelle Lage in Bezug auf COVID-19 in den 53 Ländern der Europäischen Region mit ihren 900 Mio. Bürgern zu geben. Mit Stand von dieser Woche gab es in der Europäischen Region über 2 Mio. bestätigte Fälle von COVID-19, davon bedauerlicherweise über 175 000 mit tödlichem Ausgang.

Eine vielleicht weniger beachtete, aber ähnlich besorgniserregende Zahl ist, dass seit Anfang März zeitgleich mit der Pandemie aus insgesamt 24 Ländern mehr als 159 000 zusätzliche Sterbefälle gemeldet wurden. Dies sind Todesfälle, die über das hinausgehen, was wir normalerweise um diese Jahreszeit erwarten würden.

Aufgrund der an die WHO gemeldeten Fallinformationen entfielen 94% aller durch COVID-19 bedingten Todesfälle auf die Altersgruppe über 60 Jahre, und 59% davon waren Männer. Nach den vorliegenden Informationen traten 97% aller Todesfälle bei Personen mit mindestens einer Vorerkrankung auf, wobei Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Komorbidität waren.

Ich wünsche all jenen, die an COVID-19 erkrankt sind, eine zügige und vollständige Genesung und spreche denjenigen, die geliebte Angehörige verloren haben, mein tiefes Mitgefühl aus. Gestatten Sie mir auch, nochmals meine tiefe Dankbarkeit gegenüber all jenen zum Ausdruck zu bringen, die im Gesundheits- und Sozialwesen und anderswo an vorderster Front unermüdlich um Menschenleben kämpfen.

In den vergangenen 14 Tagen haben sich die kumulativen Fallzahlen um 15% erhöht, und die Europäische Region hat immer noch 38% aller Fälle weltweit und 50% aller Todesfälle.

Die fünf Länder der Europäischen Region mit den höchsten kumulativen Zahlen bestätigter COVID-19-Fälle in den vergangenen 14 Tagen sind die Russische Föderation, das Vereinigte Königreich, die Türkei, Belarus und Italien. Auf Spanien, Italien, das Vereinigte Königreich und Frankreich entfallen weiterhin 72% aller durch COVID-19 bedingten Todesfälle in der Europäischen Region.

Es ist verständlich, dass nach vielen Wochen Bürger wie auch Politiker gespannt darauf warten, Geschäfte wieder öffnen und an den Arbeitsplatz zurückkehren zu können. 48 Länder in der Europäischen Region sind gerade dabei, ihre gesundheitlichen und sozialen Maßnahmen anzupassen. Die häufigsten ersten Lockerungen betreffen die Öffnung nicht unentbehrlicher Geschäfte und die häuslichen Ausgangsbeschränkungen.

Erinnern wir uns daran: Wir wiegen nicht Menschenleben gegen Existenzen auf, oder Gesundheit gegen Wohlstand. Es geht hier nicht um ein Entweder-oder. Es gibt keine Volkswirtschaft ohne Menschen. Es kann keine wirtschaftliche Erholung geben, solange die Übertragung von COVID-19 nicht unter Kontrolle gebracht wird.

Mit Blick auf die Lehren der Vergangenheit und die Aussichten für die Zukunft habe ich heute drei Botschaften für Sie. Wir müssen uns darüber im Klaren sein:

  1. Die Bekämpfung des Virus und die wirtschaftliche Erholung gehören zusammen.
  2. COVID-19 betrifft uns alle, manche aber mehr als andere – wir können es uns nicht erlauben, Menschen zurückzulassen.
  3. Wir können einen Wiederaufbau zum Besseren erreichen – eine andere Wirtschaft, die gleicher und inklusiver ist als zuvor.

Meine erste Botschaft lautet: Der beste Weg zum Schutz der Wirtschaft ist der Schutz der Menschen.

Europa ist auf dem Weg in eine Rezession. Die Konjunktur wird in der ersten Jahreshälfte 2020 einbrechen, was sich vor allem im zweiten Quartal bemerkbar machen wird. Danach wird mit einer Erholung gerechnet, sofern das Virus unter Kontrolle ist. In der Frühjahrs-Wirtschaftsprognose der EU heißt es: „Beim BIP wird in diesem Jahr ein Rückgang um 7,5% prognostiziert, deutlich stärker als während der globalen Finanzkrise 2009, und für 2021 ein Wachstum von nur 6%. Doch trotz dieser Erholung würde die europäische Wirtschaft zum Ende der Prognoseperiode noch um 3% unter dem in der Herbstprognose veranschlagten Niveau liegen.“

Bei der WHO haben wir die Befürchtung, dass die Länder auf diese Krise ähnlich reagieren werden wie auf die Rezession vor zehn Jahren. Damals senkten viele Länder in Europa ihre staatlichen Ausgaben für Gesundheit. So sanken zwischen 2008 und 2013 die staatlichen Gesundheitsausgaben pro Kopf in etwa der Hälfte der Länder in unserer Region. Diese Kürzungen hinderten viele Menschen daran, die benötigten Gesundheitsleistungen in Anspruch zu nehmen. Der ungedeckte Bedarf an Gesundheitsleistungen nahm in 19 der 28 EU-Staaten zu, sodass 2013 3 Mio. Menschen mehr betroffen waren als 2008. Darüber hinaus glitten 9% der Haushalte aufgrund von Zahlungen aus eigener Tasche für die Gesundheitsversorgung in Armut ab bzw. verarmten weiter.

Länder, die sich für solche Einschnitte in die Gesundheitsausgaben entschieden, hatten erhebliche Schwierigkeiten bei der Erholung von der wirtschaftlichen Erschütterung.

Wir müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.

Heute muss unser erstes Anliegen darin bestehen, in Gesundheit und in soziale Absicherung zu investieren und vor allem einen allzu strengen Sparkurs zu vermeiden, der das Leben so vieler Menschen in Europa ruiniert hat.

Investitionen in Gesundheit und soziale Absicherung – vor allem bei einer instabilen Konjunktur – sind das Kennzeichen einer verantwortungsbewussten staatlichen Politik.

Meine zweite Botschaft lautet: COVID-19 hat Auswirkungen auf uns alle, aber nicht alle sind in demselben Maße betroffen.

Die anfälligen Menschen in der Gesellschaft – informell Beschäftigte, Personen mit hohem Armutsrisiko, Alleinerziehende – sind aufgrund von COVID-19 noch anfälliger geworden. Doch in den letzten Wochen haben wir gesehen, wie viele Länder und Kommunen Maßnahmen zum Abbau von Unsicherheit, zur Stärkung des sozialen Gefüges und zur Förderung von Gesundheit ergriffen haben.

So wurden in Usbekistan soziale Zuwendungen für einkommensschwache Familien vorübergehend um sechs Monate verlängert. In Spanien wurden zum Schutz von Obdachlosen Programme für Mietzuschüsse eingeführt, und weitere substanzielle Maßnahmen zur Förderung von Einkommenssicherheit sind in Entwicklung. In Serbien sind Freiwilligenorganisationen Roma-Kindern beim Fernunterricht behilflich. In Polen können Eltern mit Kindern unter acht Jahre zusätzliche 14 Tage Kinderbetreuungsgeld beantragen. In Finnland erhalten Selbständige vorübergehend Arbeitslosengeld. In Kirgisistan stellen die nationalen Behörden Hilfe in Form von Lebensmitteln, medizinischen Hilfsgütern und Zuschüssen für anfällige Personen und für Kinder bereit.

COVID-19 hat eine grundlegende Wahrheit ans Licht gebracht: Wenn es einem von uns an Gesundheit und Versorgung fehlt, dann sind wir alle in Gefahr. Niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind.

Politiker treffen Entscheidungen, auch unter schwierigen Umständen. Wir können es uns nicht leisten, Menschen zurückzulassen.

Deshalb lautet meine dritte Botschaft: Im Zuge des Wiederaufbaus muss eine andere Wirtschaft entstehen. Wir nennen sie eine Ökonomie des Wohlergehens.

Eine Ökonomie des Wohlergehens bedeutet:

  • dass die Menschen in den Mittelpunkt gestellt werden;
  • dass ein Sicherheitsnetz für alle aufgespannt wird, das die an vorderster Linie stehenden Einsatzkräfte schützt;
  • dass ein Beitrag zum Klimaschutz und zu ökologischer Nachhaltigkeit geleistet wird;
  • dass die öffentliche Gesundheit als eine Triebkraft für Arbeitsplätze im Gesundheitswesen begriffen wird, vor allem für junge Menschen und als eine Schutzinstanz für Wirtschaft, Sicherheit und Frieden.

Neben dem Sieg über die Krankheit ist der größte Prüfstein, vor dem alle Länder bald stehen werden, die Frage, ob das gegenwärtige Gefühl einer gemeinsamen Zielrichtung die Gesellschaft auch nach der Krise prägen wird. Wie die führenden Politiker während der Großen Depression gelernt haben, kann man von der Bevölkerung nur dann kollektive Opfer verlangen, wenn man einen sozialen Kontrakt anbieten kann, der allen zugute kommt. Damals haben die Politiker nicht den Erfolg abgewartet, um für die Folgezeit zu planen. Wir müssen bei Politik wie Bevölkerung gleichermaßen den Willen zur Schaffung einer besseren Gesellschaft mobilisieren, die Gerechtigkeit und Sicherheit für alle bietet. Eine Wirtschaft, in der niemand zurückgelassen wird.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.