Erklärung – Zunehmende Pandemiemüdigkeit in Bezug auf COVID-19 und eine gesamteuropäische Reaktion

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, an die Presse

Kopenhagen, 6. Oktober 2020

Länder in allen Teilen der Europäischen Region berichten über zunehmende Pandemiemüdigkeit in Bezug auf COVID-19.

Seit dem erstmaligen Auftreten des Virus in der Europäischen Region vor acht Monaten haben die Bürger enorme Opfer gebracht, um COVID-19 einzudämmen. Dies war mit erheblichen Kosten verbunden und hat uns alle erschöpft, unabhängig davon, wo wir leben oder was wir tun. Unter derartigen Umständen ist es leicht und nur verständlich, sich abgestumpft und demotiviert zu fühlen und mit einer entsprechenden Müdigkeit zu kämpfen.

Auf Grundlage von aggregierten Umfragedaten aus den Ländern der gesamten Region können wir – wenig überraschend – feststellen, dass die Müdigkeit unter den Befragten zunimmt. Auch wenn die Müdigkeit auf unterschiedliche Weise gemessen wird und das jeweilige Ausmaß in den Ländern sehr unterschiedlich ausfällt, sind Schätzungen zufolge in einigen Fällen mehr als 60% der Bevölkerung betroffen.

Inmitten dieser langfristigen gesundheitlichen Notlage, durch die die Menschen dazu gezwungen wurden, monatelang mit Ungewissheit und Störungen vielfältiger Art zu leben, ist ein derartiges Ausmaß von Müdigkeit zu erwarten. Auch wenn wir alle dieser Situation überdrüssig sind, glaube ich, dass es möglich ist, den Bemühungen um die Bewältigung der wechselnden Herausforderungen in Verbindung mit COVID-19 neue Impulse zu verleihen und sie wiederzubeleben.

Hierfür gibt es drei Strategien:

Mein erster Handlungsappell: Regelmäßig den Puls der Gemeinschaft fühlen und sich die daraus ergebenden Erkenntnisse zunutze machen.

Von dem Verständnis für die verhaltensbezogenen Bedürfnisse junger Menschen, die an die Universitäten zurückkehren, bis hin zu der emotionalen Belastung der Isolierung in Pflegeeinrichtungen für ältere Menschen müssen Handlungskonzepte von der wachsenden Fülle an Erkenntnissen über die Verhaltensweisen der Menschen und eine entsprechende Müdigkeit bestimmt werden.

Wenn wir uns von den Erfahrungen Einzelner und kulturellen Besonderheiten leiten lassen, können wir wirksamere Gegenstrategien entwerfen. In dieser Hinsicht hat das WHO-Regionalbüro für Europa gemeinsam mit 27 Ländern an der Erhebung entsprechender Daten gearbeitet und dazu ein Instrument für verhaltensbezogene Erkenntnisse genutzt. Mit Hilfe dieses Instruments lässt sich die Müdigkeit messen, und zwar indem man Folgendes betrachtet: in welchem Maße Einzelpersonen von der Krankheit ausgehende Risiken befürchten, ihre schützenden Verhaltensweisen, und in welchem Umfang sie soziale Handlungskonzepte und entsprechende Maßnahmen einhalten.

Auch viele andere Länder erfassen Daten zur kulturellen Akzeptanz und Einhaltung von Maßnahmen, zu vorhandenem Wissen, Einstellungen und Praktiken. In Hertfordshire im Vereinigten Königreich erfasst die für den Landkreis zuständige Gesundheitsbehörde den Puls der Gemeinschaft und macht sich die daraus ergebenden Erkenntnisse zunutze. Über eine Online-Plattform werden die Einstellung der Bevölkerung zu Konzepten für Innen- und Außenräume sowie deren Akzeptanz gemessen und die Gesundheitsangebote entsprechend angepasst.

Darüber hinaus empfehle ich bei der Erörterung von Maßnahmen und Beschränkungen die Einbeziehung von Experten auch über den medizinischen Bereich und den Bereich der öffentlichen Gesundheit hinaus. In Deutschland hat die Regierung Philosophen, Historiker, Theologen und Verhaltens- sowie Sozialwissenschaftler zurate gezogen, die wertvolle Anregungen im Hinblick auf bildungsbezogene Fortschritte von Kindern aus benachteiligten Familien, die Rechtmäßigkeit von Beschränkungen und das Gleichgewicht zwischen öffentlicher Unterstützung und moralischen Normen auf der einen und staatlichen Zwangsmaßnahmen auf der anderen Seite gaben.

Mein zweiter Handlungsappell: Die Bevölkerung in die Gestaltung von Interventionen einbeziehen.

Es ist unerlässlich, dass wir gemeinsam reagieren und dass die Bevölkerung gemeinsam mit den Behörden Verantwortung für die ergriffenen Gegenmaßnahmen übernimmt. Konsultation, Teilhabe und die Anerkennung der Strapazen, die die Menschen durchleben, sind entscheidend, um wirklich wirksame Konzepte entwickeln zu können. Die Bevölkerung sollte als Ressource wahrgenommen werden, zugleich aber auch als Empfänger bzw. Begünstigter.

Wir haben bereits erfolgreiche Beispiele hierfür gesehen. In Dänemark hat eine Gemeinde junge Studenten zur Zusammenarbeit mit den Behörden eingeladen, um gemeinsam den sinnvollsten Weg zu finden, wie sich das Studentenleben aufrechterhalten lässt und gleichzeitig die Bevölkerung im Zuge der Wiedereröffnung der Universitäten geschützt wird.

In der Türkei werden Umfragen in den sozialen Medien zur Kontaktaufnahme mit der Bevölkerung genutzt, um die Nichtbefolgung der Schutzmaßnahmen besser nachvollziehen und so Handlungskonzepte im Kampf gegen COVID-19 sinnvoller gestalten und weiterentwickeln zu können und unterstützende Kommunikationsstrategien oder Angebote einzuführen, um der positiven Reaktion der Öffentlichkeit neue Impulse zu verleihen.

In Norwegen wurden Mitarbeiter von Kindergärten einbezogen, um nachhaltige und sinnvolle Leitlinien für die Wiedereröffnung der Kindergärten zu erarbeiten, und zwar auf eine Weise, die einer Müdigkeit bei Personal, Kindern und Eltern durch Konzepte zur Förderung einer flexiblen Anwesenheit entgegenwirkt. Dies ist ein gutes Beispiel für die Anerkennung, dass die Menschen in ihrem eigenen Umfeld die Experten sind. Wir erleben zunehmenden Einfallsreichtum, zunehmende Innovation und eine Schwerpunktlegung auf Bürgerbeteiligung, mit großartigen Ergebnissen.

Die Bürger stehen im Zentrum einer Lösung für die Pandemie, und die Politiker sollten sie entsprechend behandeln.

Mein dritter Handlungsappell: Wir müssen unseren Bedürfnissen auf neue, sichere Weise gerecht werden.

Angesichts der bevorstehenden Vorweihnachtszeit müssen wir die Müdigkeit bekämpfen, indem wir den Bedürfnissen der Bürger auf neue, innovative Weise gerecht werden. Wir haben dies während des Ramadan in der gesamten Region erlebt, als gemeindenahe Gruppen sichere Wege fanden, um das Fasten zu brechen, etwa in virtueller Form oder durch die Lieferung von Essen nach Hause für Feierlichkeiten auf Distanz.

Durch kreative Ansätze können das Gefühl von Geselligkeit wiederhergestellt und die Bevölkerung dennoch geschützt werden. Wir haben auch gesehen, wie wirksam schwimmende Kinos, neue Formate für Kulturveranstaltungen und soziale Blasen sein können. Indem wir ein Gleichgewicht zwischen der Wissenschaft und den sozialen und politischen Bedürfnissen herstellen, können wir Vorsorgemaßnahmen entwickeln, die kulturelle Akzeptanz genießen. Jeder Sektor und jeder Bürger spielt bei der Suche nach Wegen, wie wir diese wichtige Zeit des Jahres genießen und gleichzeitig unsere Gemeinschaften schützen können, eine wichtige Rolle.

Wir haben noch nicht alle Antworten gefunden, um die bevorstehende Zeit gut zu überstehen. Doch angesichts dieser wachsenden Herausforderung hat das WHO-Regionalbüro für Europa am gestrigen Tag eine Sitzung der obersten Gesundheitsbeamten und Generaldirektoren für Gesundheit aus über 30 Ländern in der Europäischen Region abgehalten. Sie bot Gelegenheit, verhaltensbezogene Trends zu untersuchen und sich über innovative Ideen und Strategien auszutauschen.

In diesem Zusammenhang wurde ein Rahmenwerk veröffentlicht, um die Länder beim Kampf gegen die aufkommende Müdigkeit und bei der Wiederbelebung der öffentlichen Unterstützung zu unterstützen. Die WHO wird ein permanentes Forum einrichten, um Maßnahmen voranzutreiben und die COVID-19-Reaktion auf lokaler Ebene zu prägen, unter Einbeziehung der Bevölkerung und einer besseren Berücksichtigung der Bedürfnisse unserer Bevölkerung, die auch weiterhin Störungen und Strapazen erdulden muss.

Dies erreichen wir nur durch ein gemeinsames Bekenntnis zur Befolgung dieser drei Strategien:

  1. Regelmäßig den Puls der Gemeinschaft fühlen und sich die daraus ergebenden Erkenntnisse zunutze machen.
  2. Die Bevölkerung in die Gestaltung einbeziehen. Anerkennung der Bevölkerung als eine wichtige Ressource.
  3. Wir müssen unseren Bedürfnissen auf neue, innovative Weise gerecht werden. Lasst uns dabei kreativ und mutig vorgehen.

Ein mutiger Ansatz, bei dem Empathie im Mittelpunkt steht, wird uns durch diese Krise bringen. Trotz aller Strapazen zwingt COVID-19 uns dazu, bei unserer Reaktion über die biomedizinische Wissenschaft hinauszugehen. Wir haben die Chance, die gesellschaftsbezogenen Erkenntnisse zu Verhaltensweisen zu maximieren und reale Bürgerbeteiligung in die Gesundheitspolitik zu integrieren, und zwar in einem Umfang, den es so noch nie gab.