Erklärung – Gefahr eines Wiederanstiegs von #COVID19 ist nie weit weg, doch jetzt wissen wir, wie wir das Virus ins Visier nehmen, und nicht die Gesellschaft
Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, an die Presse
Kopenhagen, 20. August 2020
Guten Morgen und willkommen nach diesem äußerst arbeitsintensiven Sommer.
Die Europäische Region verzeichnet mittlerweile 3,9 Mio. Fälle von COVID-19, was 17% der weltweiten Gesamtzahl entspricht, die sich einer Marke von 22 Mio. Fällen nähert. Auch wenn sich das Epizentrum der Pandemie mittlerweile auf den amerikanischen Kontinent verlagert hat, melden auch andere Regionen einen steilen Anstieg der Fallzahlen.
Die Europäische Region folgt ihrem eigenen Weg und weist andere Trends auf als der Rest der Welt. Das Virus hat Europa frühzeitig und hart getroffen. Doch die Länder haben mit phänomenalem Einsatz die Ausbreitung gestoppt, indem sie Schulen und nicht lebensnotwendige Geschäfte im Rahmen umfassender Maßnahmen schlossen. Und diese Maßnahmen haben Wirkung gezeigt: Zwischen Mai und Juli konnte die Übertragung in vielen Ländern unterdrückt werden. Wo zügig und reaktionsschnell politische Entscheidungen getroffen wurden, war das Eingreifen effektiv. Doch wo Voreingenommenheit, Desinformation und Verleugnung vorherrschten, war das Virus erbarmungslos.
Die Gefahr eines Wiederaufflammens war nie vollständig gebannt. In den vergangenen zwei Monaten ist die Zahl der Neuinfektionen in der Region Woche für Woche stetig gestiegen. In der ersten Augustwoche gab es 40 000 Fälle mehr als in der ersten Juniwoche, in der die Fallzahlen den bisher niedrigsten Stand erreicht hatten. Mittlerweile meldet die Europäische Region jeden Tag im Durchschnitt mehr als 26 000 neue COVID-19-Fälle. Dies ist zum Teil bedingt durch die Lockerung der Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und der sozialen Maßnahmen, wo von den Behörden einige der Beschränkungen allmählich aufgehoben wurden und die Menschen in ihrer Wachsamkeit nachgelassen haben.
Die gute Nachricht ist, dass wir inzwischen deutlich mehr über die Übertragung des Virus wissen und insbesondere darüber, wie es sich in geschlossenen, schlecht belüfteten Räumen ausbreitet, und vor allem dort, wo viele Menschen zusammenkommen und laut sprechen oder singen. Die Herausforderung besteht darin, dass örtlich begrenzte Ausbrüche und Fallhäufungen nun öfter vorkommen, oftmals in geschlossenen Umfeldern wie an Arbeitsplätzen und in Pflegeheimen, oder in Zusammenhang mit speziellen Veranstaltungen oder gesellschaftlichen Zusammenkünften, in bestimmten Gemeinschaften, in der Lebensmittelproduktion und in anderen Industriebetrieben, sowie auf Reisen. Die jüngsten Ausbrüche in gefährdeten Gruppen wie Migranten und Flüchtlingen zeigen, dass wir bei unseren Bemühungen um Schutz der Bevölkerung niemanden auslassen dürfen. Dieses Virus trägt zur Verschärfung von Ungleichheiten bei.
Nun, da der Sommer in den Herbst übergeht, müssen wir uns fragen: Welche Herausforderungen stehen uns bevor? Wir müssen sicherstellen, dass wir die richtigen Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ergreifen, um eine sichere Rückkehr in die Schule zu ermöglichen, die bevorstehende Grippesaison zu bewältigen, unsere Volkswirtschaften am Leben zu erhalten und die zu dieser Jahreszeit zunehmenden Gesundheitsrisiken für ältere Menschen zu bekämpfen.
Die COVID-19-Pandemie hat zur größten Beeinträchtigung der Bildungssysteme in der Geschichte geführt, von der nahezu 1,6 Mrd. Lernende in mehr als 190 Ländern betroffen sind oder waren. Unsere Region bildet da keine Ausnahme. In den meisten Ländern der Region wurden irgendwann zwischen Februar und Juli dieses Jahres im Rahmen der gesundheitlichen und sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 Schulen geschlossen.
Das WHO-Regionalbüro für Europa hält am 31. August eine virtuelle Tagung für alle 53 Länder über die Wiedereröffnung der Schulen im Kontext der COVID-19-Pandemie ab, in deren Rahmen konkrete Maßnahmen erörtert werden sollen, die gewährleisten sollen, dass Kinder in sicherem Umfeld eine angemessene Bildung erhalten. Zu den möglichen Optionen zählen eine verstärkte Hygiene und räumliche Distanzierung in schulischen Umfeldern für alle und die rasche und wirksame Einführung gezielter Maßnahmen entsprechend den örtlichen Umständen: Wo die Fallzahlen niedrig sind, können Schulen geöffnet werden; wo sie zunehmen, müssen Lehrpläne angepasst und Schülerzahlen beschränkt werden; und wo die Übertragung in der Bevölkerung hoch ist, müssen die Schulen weiterhin vorübergehend geschlossen bleiben.
Ich bin dem Gesundheitsminister Italiens, Roberto Speranza, äußerst dankbar dafür, dass er diese Initiative angeregt hat.
Auch der Beginn der nächsten Grippesaison steht kurz bevor. Es kommt jetzt entscheidend darauf an, dass die Länder die Grippe-Aktivität überwachen und die routinemäßige Surveillance für beide Virenarten wiederherstellen und verstärken und dass sie die Grippeimpfung für gefährdete Gruppen fördern. Dies ist in diesem Jahr umso wichtiger, als wir unsere Krankenhäuser und unser Gesundheitspersonal, die bereits mit der Bewältigung von COVID-19 zu kämpfen haben, vor Überlastung schützen müssen. In diesem Jahr ist es noch wichtiger als in vorangegangenen Jahren, ältere Menschen dabei zu unterstützen, ihre Grippeimpfung frühzeitig in einer sicheren Umgebung zu erhalten.
Doch es ist nicht mehr wie im Februar; wir wissen inzwischen mehr über den Umgang mit dem Virus, als es beim ersten Auftreten von COVID-19 der Fall war.
Bereits im vergangenen Monat haben zwei Drittel der Länder in der Region wieder Beschränkungen für Massenansammlungen und nächtliche Ausgangssperren am Wochenende eingeführt oder die Schließung bestimmter nicht lebensnotwendiger Geschäfte angeordnet.
Anders ist jetzt, dass viele dieser jüngst eingeführten Beschränkungen nur örtlich begrenzt umgesetzt werden. Dies zeigt, dass wir gelernt haben, kluge, risikoabhängige Maßnahmen für einen begrenzten Zeitraum zu ergreifen, die geeignet sind, sowohl die Ausbreitung von COVID-19 als auch die Auswirkungen auf die breitere Gesellschaft und die Wirtschaft einzudämmen. Heute wissen wir dank unserer verbesserten Erkenntnisse und Erfahrungen auch, dass einige Maßnahmen eine landesweite und anhaltende Umsetzung erfordern. Dazu zählen die umfassende Durchführung von Tests und die Isolierung aller Fälle sowie die Ermittlung und Unter-Quarantäne-Stellung von Kontaktpersonen und ihre Nachuntersuchung nach 14 Tagen. Mit diesen grundlegenden landesweiten und zusätzlichen gezielten Maßnahmen sind wir deutlich besser in der Lage, das örtlich begrenzte Aufflackern des Virus im Keim zu ersticken. Wir können gleichzeitig das Virus unter Kontrolle und die Wirtschaft am Laufen und das Bildungssystem in Betrieb halten.
Wir können sowohl Leben als auch wirtschaftliche Existenzen retten, nicht nur das eine oder das andere.
Junge Menschen stehen bei der Bekämpfung von COVID-19 an vorderster Linie und vermitteln durch ihr Verhalten und ihre Kommunikation eine kraftvolle Botschaft.
Ich möchte mich bei meinen Töchtern, bei Jugendlichen überall in unserer Region, bei all jenen, die an diesem aufregenden, abenteuerlichen Punkt in ihrem Leben stehen, für all die Opfer bedanken, die sie auf sich genommen haben, um sich selbst und andere vor COVID-19 zu schützen. Kein junger Mensch möchte auf den Sommer verzichten. Doch es macht mir große Sorgen, dass immer mehr junge Menschen zu den bestätigten Fällen zählen. Einer kürzlich durchgeführten Studie zufolge ist der Anteil der COVID-19-Fälle unter jungen Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren von 4,5% Ende Februar auf 15% Mitte Juli gestiegen. Ein geringes Risiko bedeutet nicht kein Risiko. Niemand ist unbesiegbar, und auch wenn man nicht an COVID-19 stirbt, so kann das Virus doch noch lange Zeit großen Schaden im Körper anrichten. Auch wenn junge Menschen weniger gefährdet sind, an dem Virus zu sterben, als ältere Menschen, können sie dennoch schwere Folgen davontragen. Denn das Virus beeinträchtigt Organe im gesamten Körper, insbesondere aber Lunge und Herz. Und auch manche junge und körperlich fitte Menschen, selbst Spitzensportler, wurden durch COVID-19 schwer getroffen.
Die Jugend muss, wie alle anderen Menschen auch, ihren Teil dazu beitragen, die Chancen für eine Ausbreitung des Virus zu verringern, und zwar durch:
- das Tragen einer Maske in Situationen, in denen man in engen Kontakt mit anderen Menschen kommt – um andere vor einer Infektion zu schützen;
- die Vermeidung von Menschenmengen und großen Gruppen – Fernbleiben von überfüllten Bars und großen Feiern;
- die Abhaltung von Treffen draußen statt drinnen, soweit möglich;
- die Einhaltung eines Abstands von mindestens einem Meter bei Treffen in kleineren Gruppen;
- regelmäßiges und gründliches Händewaschen; und
- bei ersten Anzeichen von Symptomen zu Hause bleiben und sich testen lassen.
Abschließend möchte ich meine wichtigsten Botschaften noch einmal wiederholen:
- Wir sind nicht wieder in der gleichen Situation wie im Februar, sondern wissen jetzt, wie wir das Virus ins Visier nehmen müssen, und nicht die Gesellschaft. Wir sind schlauer geworden.
- An die jüngeren Mitglieder der Gesellschaft: verbreitet Spaß, aber verbreitet nicht das Virus. Schützt eure Eltern und Großeltern.
- Wenn wir die Gesellschaft öffnen, müssen wir auch die Schulen öffnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.