Erklärung – Übergang zu einer ,neuen Normalität‘ während der COVID-19-Pandemie muss von den Grundsätzen der öffentlichen Gesundheit geleitet werden
Presseerklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
Kopenhagen, 16. April 2020
Guten Morgen.
Vielen Dank, dass Sie erneut an dieser Veranstaltung teilnehmen. Seit mehr als 100 Tagen bekämpfen wir COVID-19 weltweit. Zunächst möchte ich Ihnen einen Überblick über die gegenwärtige epidemiologische Situation und die von uns beobachteten Trends in den 53 Mitgliedstaaten der Europäischen Region der WHO geben.
Die Sturmwolken dieser Pandemie hängen noch immer schwer über der Europäischen Region.
Die Fallzahlen in der Region steigen weiter an. In den vergangenen zehn Tagen hat sich die Zahl der gemeldeten Fälle in Europa nahezu verdoppelt und liegt nun bei fast einer Million. Das heißt, dass etwa 50% der globalen durch COVID-19 verursachten Krankheitslast unsere Region betreffen. Traurigerweise haben bereits mehr als 84.000 Menschen in der Europäischen Region ihr Leben aufgrund einer Infektion mit dem Virus verloren.
Von den zehn Ländern in der Region mit den höchsten Fallzahlen gab es in den letzten Wochen optimistische Anzeichen für einen Rückgang der Zahlen in Spanien, Italien, Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Doch kleine positive Zeichen in einigen Ländern werden durch gleich bleibende oder steigende Inzidenzraten in anderen Ländern relativiert, darunter das Vereinigte Königreich, die Türkei, die Ukraine, Belarus und die Russische Föderation.
Die kommenden Wochen werden für Europa entscheidend sein.
Die Auswirkungen des Virus haben unser aller Leben getrübt. Meine Gedanken sind bei jenen, die um ihre Angehörigen trauern oder die selbst schwer erkrankt sind. Ihnen möchte ich mein tiefstes Beileid aussprechen. Und jenen, die an vorderster Front kämpfen, in den Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen, die die Dienste am Laufen halten und unermüdlich arbeiten, um Leben zu retten, möchte ich meinen ganz besonderen Dank aussprechen.
Darüber hinaus möchte ich allen Bürgern dafür danken, dass sie sich am letzten Osterwochenende an nationale und lokale Maßnahmen und Einschränkungen gehalten haben, und bitte alle, diese auch weiterhin zu befolgen, wenn in den nächsten Tagen das orthodoxe Osterfest begangen wird.
Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Trotz des schönen Frühlingswetters befinden wir uns noch immer im Herzen eines Sturms. Einigen Ländern steht das volle Maß der Auswirkungen noch bevor, während andere einen Rückgang der Zahl der neuen Fälle von COVID-19 verzeichnen.
Wir dürfen in unserem Kampf nun nicht nachlassen. Doch Abstand wahren, Ausgangssperren und andere zur Eindämmung und Verhinderung der Übertragung ergriffene Maßnahmen wirken sich auf das Leben und die Lebensgrundlage der Menschen aus. Sie fragen zurecht: Wie viel müssen wir ertragen? Und für wie lange? Als Antwort darauf müssen Regierungen und Gesundheitsbehörden sich darum bemühen zu ermitteln, wann, unter welchen Bedingungen und wie wir einen sicheren Übergang durch eine allmähliche Veränderung der Maßnahmen in Betracht ziehen können.
Anfang nächster Woche werden neue Empfehlungen des WHO-Regionalbüros für Europa veröffentlicht. Morgen früh werde ich die Gesundheitsministerien der 53 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region der WHO über die zentralen Punkte dieser Empfehlungen informieren.
Dem unabhängigen Strategischen Beirat der Europäischen Region zum Thema COVID-19 bin ich außerordentlich dankbar für sein Feedback und seinen Input am letzten Dienstag, und auch den Generaldirektoren für Gesundheit aus der ganzen Region möchte ich für ihre Anmerkungen und ihren Input am gestrigen Tag danken.
Während wir den Eintritt in die Übergangsphase erwägen, müssen wir daran denken, dass es keine schnellen Erfolge gibt. Uns stehen komplexe, ungewisse Zeiten bevor. Das heißt, wir treten in eine Phase ein, in der wir Maßnahmen rasch anpassen, Beschränkungen einführen und aufheben und allmählich lockern und gleichzeitig die Wirksamkeit dieser Maßnahmen und die Reaktion der Öffentlichkeit kontinuierlich überwachen müssen.
Letztendlich wird unser aller Verhalten das Verhalten des Virus bestimmen. Dies erfordert Durchhaltevermögen und Geduld. Es gibt kein Schnellverfahren, um zur Normalität zurückzukehren.
Bei jedem Schritt zur Lockerung von Beschränkungen und hin zu einer Übergangsphase müssen wir gewährleisten, dass:
- die Evidenz zeigt, dass die Übertragung von COVID-19 unter Kontrolle ist;
- es im öffentlichen Gesundheitswesen und im Gesundheitssystem, auch in Krankenhäusern, genügend Kapazitäten gibt, um Kontaktpersonen zu identifizieren, zu isolieren, zu testen, nachzuverfolgen und sie unter Quarantäne zu stellen;
- die Risiken eines Ausbruchs in hoch gefährdeten Umfeldern – insbesondere in Pflegeheimen für ältere Menschen, psychiatrischen Einrichtungen und wo Menschen unter beengten Umständen leben – minimiert werden;
- an Arbeitsplätzen Vorsorgemaßnahmen ergriffen werden – etwa die Gewährleistung von Abstandhaltung, Einrichtungen für das Händewaschen und Atemhygiene;
- das Risiko einer Einschleppung beherrscht werden kann; und
- Gemeinschaften in der Übergangsphase eine Stimme haben und sich engagieren.
Wenn Sie mich nach einer einzigen vorrangigen Botschaft fragen, wäre es wohl diese: Wenn Sie nicht gewährleisten können, dass diese Kriterien eingehalten werden können, bevor sie die Beschränkungen lockern, überdenken Sie eine Lockerung bitte noch einmal.
COVID-19 ist gnadenlos und in der Lage, selbst die stärksten Gesundheitssysteme in der Europäischen Region schnell zu überfordern. Wenn die Länder nicht über angemessene gesamtgesellschaftliche und gesamtstaatliche Strategien für Vorsorge- und Gegenmaßnahmen verfügen, wenn Ihr Gesundheitspersonal nicht entsprechend geschult, ausgerüstet und geschützt ist, wenn Ihre Bürger nicht genug informiert sind und nicht durch evidenzbasierte Informationen zu selbstbestimmtem Handeln befähigt werden, dann wird die Pandemie über ihre Gemeinschaften, Unternehmen und Gesundheitssysteme hinwegfegen, Leben fordern und Lebensgrundlagen vernichten.
Beobachten Sie einander, lernen Sie voneinander und hören Sie einander zu – insbesondere jene Länder, die bereits Schritte zur Lockerung von Beschränkungen und zur Einleitung des Übergangs in eine neue Phase der Gegenmaßnahmen ergreifen. Solidarität ist jetzt ausschlaggebend, zwischen Gesundheitsbehörden und den führenden Persönlichkeiten im Kampf gegen COVID-19 in den jeweiligen Ländern.
Abschließend möchte ich noch einmal betonen: Wir befinden uns noch immer im Auge des Sturms. Wenn wir bewährte Maßnahmen ergreifen – und dabei gewährleisten, dass wir sämtliche Verdachtsfälle identifizieren, isolieren, testen und alle engen Kontaktpersonen unter Quarantäne stellen und ihre Gesundheit überwachen können; jene versorgen, die darauf angewiesen sind; und diese bewährten Maßnahmen erforderlichenfalls mit einem Gebot der Abstandhaltung kombinieren – können wir das Virus aufhalten.
Sämtliche Schritte für einen Übergang hin zu einer ,neuen Normalität‘ müssen von den Grundsätzen der öffentlichen Gesundheit sowie ökonomischen und gesellschaftlichen Überlegungen geleitet werden. Wir lernen besser voneinander und gemeinsam. Vor diesem Hintergrund fordere ich die Länder mehr denn je zu gegenseitiger Solidarität auf. Es ist an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen und reaktionsschnelle und verantwortungsbewusste Führungsstärke zu zeigen, um uns durch diesen Sturm zu steuern.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.