Erklärung – Wir können nicht zulassen, dass die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie durch die Vernachlässigung anderer wichtiger Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit noch verschärft werden
Presseerklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
Kopenhagen, 30. April 2020
Vielen Dank, dass Sie an dieser Veranstaltung teilnehmen.
Am heutigen Tag sind es drei Monate her, seit der Generaldirektor der WHO den Ausbruch des neuartigen Coronavirus zu einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite erklärte.
Heute, ebenso wie in den vergangenen Wochen, bleibt die Situation in der Europäischen Region ernst. Allgemein lässt sich feststellen, dass im westlichen Teil der Europäischen Region der Höhepunkt der Pandemie zwar erreicht zu sein scheint, die epidemiologische Kurve aber steiler wird, wenn wir unseren Blick gen Osten wenden.
In allen Teilen der Region hat sich die kumulative Fallzahl in den letzten sieben Tagen um 15% erhöht und beläuft sich gegenwärtig auf 1.408.266 Fälle. Die Zahl der Todesfälle ist im gleichen Zeitraum um 18% angestiegen. Tragischerweise haben mittlerweile 129.344 Menschen in der Europäischen Region ihr Leben verloren. Meine Gedanken sind bei den Familien und Angehörigen jener, die wir verloren haben. Ihnen möchte ich mein tiefstes Beileid aussprechen.
Am heutigen Tag entfallen 46% aller Fälle und 63% der weltweiten Todesfälle allein auf die Europäische Region. Diese Pandemie hat die Europäische Region weiterhin fest im Griff.
Spanien, gefolgt von Italien, dem Vereinigten Königreich, Deutschland und Frankreich verzeichnen weiterhin die höchsten Fallzahlen. Doch als Folge der vor einigen Wochen eingeführten Maßnahmen zur sozialen und physischen Distanzwahrung gibt es nun Anzeichen dafür, dass wir einen Höhepunkt erreicht haben bzw. die Zahl der Neuinfektionen zurückgeht. Diese positive Entwicklung müssen wir sehr genau beobachten.
Im östlichen Teil der Region – in Belarus, der Russischen Föderation, Kasachstan und der Ukraine – hat die Zahl der Krankheitsfälle in der vergangenen Woche zugenommen, während sich die Situation in der Türkei stabilisiert. Hier müssen wir das volle Arsenal an Maßnahmen aufrechterhalten, die uns zur Eindämmung der Übertragung zur Verfügung stehen.
Wie diese Zahlen zeigen, ist die Situation in der gesamten Region durchaus nicht einheitlich. Jedes Land sucht derzeit nach einem Weg in eine neue Normalität, und jedes Land geht dabei mit unterschiedlichem Tempo voran.
Von den 44 Ländern in der Europäischen Region, welche die Bewegungsfreiheit im Inland teilweise oder vollständig eingeschränkt haben, haben 21 Länder damit begonnen, einige dieser Maßnahmen allmählich in unterschiedlichem Umfang zu lockern. 11 weitere Länder planen, dies in den nächsten Tagen zu tun.
Wie ich bereits zuvor gesagt habe, ist das Virus gnadenlos, und wir müssen wachsam sein, durchhalten und Geduld haben und gleichzeitig bereit sein, die Maßnahmen bei Bedarf auszuweiten.
In der letzten Woche haben wir einen wichtigen Leitfaden für Länder veröffentlicht, die in Betracht ziehen, die Übergangsphase der COVID-19-Pandemie einzuleiten, und entsprechende Pläne verfolgen. In diesem Leitfaden betonten wir, dass die Gesundheitssysteme über Kapazitäten verfügen müssen, um zweigleisig zu operieren: auf der einen Seite weiterhin reguläre Gesundheitsangebote bereitzustellen und auf der anderen Seite aggressiv gegen COVID-19 vorzugehen.
Es steht fest, dass Maßnahmen zur Bewältigung von COVID-19 – sowohl solche, die das Gesundheitswesen betreffen, und solche, die die gesamte Gesellschaft betreffen – Auswirkungen auf die Bereitstellung anderer Gesundheitsangebote und die Menschen, die auf solche Angebote angewiesen sind, hatten. Andere wichtige Gesundheitsleistungen wurden gewissermaßen verdrängt.
Ich habe am heutigen Tag zwei Botschaften für Sie.
- An die Regierungen und Gesundheitsbehörden: Ich fordere Sie nachdrücklich dazu auf, Wege zu finden, um andere Gesundheitsleistungen sicher und schnell wieder einzuführen, sobald die Übertragung von Mensch zu Mensch unter Kontrolle ist.
- An die Menschen und Gemeinschaften: Stellen Sie sicher, dass Ihr Kind geimpft ist. Wenn Sie Bedenken haben, diese Angebote in Anspruch zu nehmen, kann ich Ihnen versichern, dass es Wege gibt, dies auf sichere Weise zu tun.
Werfen wir also einen genaueren Blick auf das Impfwesen. In der letzten Woche wurde die Europäische Impfwoche begangen.
Impfungen sind eines der wirksamsten gesundheitlichen Werkzeuge, die uns zur Verfügung stehen. Sie schützen Kinder vor zahlreichen Krankheiten, die ansonsten gesundheitsschädigend oder sogar tödlich sein können. Gerade jetzt, wo Wissenschaftler auf der ganzen Welt gemeinsam daran arbeiten, einen sicheren und wirksamen Impfstoff gegen COVID-19 zu entwickeln, werden wir wieder einmal daran erinnert, wie wertvoll Impfstoffe sind. Ich freue mich, heute in dieser Runde den Vorsitzenden des Europäischen Beirats für Immunisierungsfragen, Dr. Adam Finn, begrüßen zu dürfen.
Seit 2017 erlebt die Europäische Region ein Wiederaufflammen der Masern. 2018 verpassten über 500.000 Kinder ihre erste Masernimpfung. Infolgedessen und aufgrund langjähriger Impflücken waren 2019 über 100.000 Menschen aller Altersgruppen infiziert. Heutzutage breiten sich die Masern in einigen Teilen der Region wieder aus – in den ersten zwei Monaten dieses Jahres waren über 6000 Menschen betroffen. Wir können nicht zulassen, dass diese Situation sich verschärft.
Wir sollten alles in unserer Macht stehende tun, um zu verhindern, dass Kinder aufgrund ihrer Anfälligkeit für impfpräventable Krankheiten wie Masern, Diphtherie, Mumps und Röteln Opfer dieser Pandemie werden.
Wir können nicht zulassen, dass COVID-19 einen derartigen Kollateralschaden verursacht.
Wir sind besorgt, dass es in manchen Ländern zu Unterbrechungen bei den Routineimpfungen auch bei gefährdeten Gruppen sowie zur Unterbrechung der Aktivitäten zur Verhinderung eines Masernausbruchs gekommen ist. Den Regierungen und Gesundheitsbehörden möchte ich Folgendes mitteilen: Impfmaßnahmen sind von grundlegender Bedeutung. Im Falle einer entsprechenden Unterbrechung müssen so schnell wie möglich Maßnahmen für Nachimpfungen ergriffen werden. Wir können nicht zulassen, dass die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie durch die Vernachlässigung anderer wichtiger Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit noch verschärft werden.
Ich weiß es zu schätzen, dass einige Länder während des COVID-19-Ausbruchs neue und innovative Wege gefunden haben, um Kinder zu erreichen, etwa durch die Nutzung provisorischer Impfstellen. Gesundheitsfachkräfte, die in Impfprogrammen in der gesamten Region tätig sind, arbeiten hart daran, sicherzustellen, dass so viele Kinder wie möglich Zugang zu Impfangeboten haben, und gleichzeitig eine COVID-19-Infektion zu verhindern. Einige Gesundheitsdienste verfolgen eine zweigleisige Strategie. Sie führen regelmäßige Kontrolluntersuchungen und Impfungen für Säuglinge gestaffelt durch, um kurze Wartezeiten in Gebäuden zu gewährleisten, und führen diese Aktivitäten getrennt von der kurativen Versorgung anderer durch. Diese Anstrengungen sind begrüßenswert und ich möchte an dieser Stelle auch die Entschlossenheit von Eltern und Betreuern loben, die ihre Kinder auf diese Art schützen.
Ich appelliere dringend an die Länder, der Immunisierung, innovativen Angeboten, der Kommunikation mit Eltern und der sorgfältigen Nachverfolgung jeder einzelnen verpassten Impfung auch weiterhin eine hohe Priorität einzuräumen. Führen Sie bei Bedarf so schnell wie möglich Nachimpfungen durch.
Den Eltern möchte ich sagen: Lassen Sie sich nicht täuschen – die sicherste Wahl auch während dieser Pandemie ist noch immer, Ihre Kinder impfen zu lassen. Nutzen Sie diese Gelegenheit, um sie und andere vor Krankheiten zu schützen, die sich verhindern lassen.
Und dies bringt mich zu meiner abschließenden Botschaft für uns alle: In absehbarer Zeit wird COVID-19 nicht aus der Welt zu schaffen sein. Zweigleisige Gesundheitssysteme können uns die Flexibilität und Widerstandsfähigkeit bieten, die erforderlich sind, um wiederholte Wellen von Coronavirus-Infektionen und den steigenden Bedarf für andere Leistungen bewältigen zu können. Der vom WHO-Regionalbüro für Europa, dem Europäischen Observatorium für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik und gemeinsam mit der Europäischen Kommission gestartete Gesundheitssystem-Reaktionsmonitor für die COVID-19-Pandemie sammelt Erkenntnisse darüber, wie Gesundheitssysteme auf die Pandemie reagieren. Ich fordere Sie alle nachdrücklich dazu auf, diese wertvolle Ressource zu nutzen.
Wir müssen wachsam und offen für neue Wege der Bereitstellung und Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung bleiben. Wir können nicht riskieren, die Tragödie des COVID-19-Ausbruchs sich in einer zweiten krankheitsbedingten Katastrophe aufgrund anderer Ursachen wiederholen zu sehen.
Kurz gesagt:
- An die Behörden: Gewährleisten Sie die Aufrechterhaltung einer zweigleisigen Gesundheitsversorgung.
- An die Öffentlichkeit: Nutzen Sie weiterhin die verfügbaren Impfangebote.
Durch diese Maßnahmen können wir sicherstellen, dass niemand zurückgelassen wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.