Erklärung – Welt-Polio-Tag: gemeinsam auf der Zielgeraden zur Eradikation von Polio
Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
23. Oktober 2020
Impfungen retten Jahr für Jahr Millionen Menschenleben.
Dank Impfungen konnte 1980 mit den Pocken, die einst jährlich Millionen Menschen das Leben kosteten, erstmals eine menschliche Krankheit eradiziert werden.
Polio könnte die nächste Krankheit sein
Als sich die Weltgesundheitsversammlung 1988 verpflichtete, die Eradikation der Poliomyelitis zu einem vorrangigen Anliegen zu machen, war das Virus noch in 125 Ländern präsent. In demselben Jahr gründeten Rotary International, die WHO, die US Centers for Disease Control and Prevention und das UNICEF die Weltweite Initiative zur Ausrottung der Kinderlähmung, um die wichtigsten Partner und Akteure im Kampf gegen Polio zusammenzuführen. Bald schlossen sich auch die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung und Gavi, die Impfallianz an. Seitdem konnte durch gemeinsames Handeln die Inzidenz der Fälle von Polio-Wildviren um über 99% gesenkt werden. Die Europäische Region der WHO wurde 2002 für poliofrei erklärt. 2017 meldeten weltweit nur noch drei Länder Fälle von Polio-Wildviren: Nigeria, Afghanistan und Pakistan.
An diesen Erfolg schloss sich ein weiterer echter Meilenstein an: im August 2019 wurde die Afrikanische Region der WHO nach drei Jahren in Folge ohne Fälle von Polio-Wildviren offiziell als poliofrei zertifiziert. Damit sind nun fünf der sechs Regionen der WHO – 90% der Weltbevölkerung – frei von Polio-Wildviren.
Doch damit noch nicht genug: zwei der drei Typen des Polio-Wildvirus sind nun eradiziert; Typ 2 wurde im September 2015, Typ 3 am Welt-Polio-Tag 2019 offiziell für eradiziert erklärt.
Unsere letzte verbleibende Aufgabe ist nun, dort, wo das Virus eradiziert wurde, die Leine festzuhalten und dort, wo es sich weiterhin ausbreitet, die letzten wenigen Bastionen zu schleifen. Unser Gegner wurde auf nur einen Virentyp und nur 0,1% der ursprünglichen Fallzahlen in nur zwei Ländern einer Region reduziert.
Heute, am Welt-Polio-Tag, möchte ich der Afrikanischen Region der WHO zu ihrem bahnbrechenden Erfolg bei der Eradikation von Polio gratulieren. Dieser Meilenstein verdeutlicht beispielhaft, wie eine Region, die aus einer Vielzahl verschiedener Länder, Kulturen und Gesundheitssysteme besteht, durch gemeinsames Handeln den Weg für mehr Gesundheit frei machen kann. Er beweist auch, dass bei einer gemeinsamen Vision die Eradikation von Seuchen durch Impfmaßnahmen möglich ist.
Ich selbst habe als junger Arzt in Afrika Seite an Seite mit vielen engagierten Fachkräften und Freiwilligen im Impfwesen gearbeitet, von denen jede und jeder zu diesem Erfolg beigetragen hat. Es berührt mich zutiefst zu wissen, dass künftige Generationen von Pflegekräften und Ärzten in Afrika und anderen Teilen der Welt nur aus Geschichtsbüchern über Polio erfahren werden, ohne jemals ein vom Polio-Wildvirus gelähmtes Kind sehen zu müssen.
Anlässlich des Welt-Polio-Tages in der Europäischen Region gratuliere ich allen Freiwilligen sowie allen Regierungen und ihren engagierten Gesundheitsfachkräften und Sozialarbeitern zu ihren unermüdlichen Anstrengungen mit dem Ziel, bei der Bereitstellung lebensrettender Polio-Impfungen kein Kind zurückzulassen.
Die COVID-19-Pandemie erinnert uns schmerzlich daran, welche Auswirkungen Infektionskrankheiten auf unsere Gesundheitssysteme und unsere Bevölkerung haben können. Sie verdeutlicht, dass vor allem zu Zeiten wachsender Interkonnektivität und schnellen Informationsaustauschs globale Themen auch globale Lösungen erfordern. Nur wenn Regierungen, Institutionen und Zivilgesellschaft gemeinsam an einem Strang ziehen, können wir gesündere Gesellschaften schaffen.
Die Mission zur Eradikation von Polio stellt eine der größten gesundheitspolitischen Anstrengungen aller Zeiten dar, zu der Partner auf allen Ebenen und aus allen Ländern beitragen müssen. Sie reicht vom Ausbau von Kühlkettensystemen und der Verbesserung der Krankheitsüberwachung über den personellen Kapazitätsaufbau in den nationalen Impfprogrammen bis hin zu Öffentlichkeitsarbeit und Vertrauensbildung.
Vor diesem Hintergrund möchte ich all jenen Ländern ein Lob aussprechen, die sogar während der düstersten Phase der COVID-19-Pandemie die Aufrechterhaltung ihrer Routineimpfungen als vorrangige Aufgabe angestrebt haben. Angesichts des weiteren Auftretens von Poliofällen nahe der Grenze unserer Region, in Afghanistan und Pakistan, ist eine solche Wachsamkeit kein Luxus, sondern eine absolute Notwendigkeit, wenn wir unsere Region poliofrei halten wollen. Solange es irgendwo auf der Welt Polio gibt, sind Kinder in aller Welt bedroht, wenn wir die Zügel schleifen lassen.
Leistungsfähige Gesundheitssysteme bilden das Fundament für die Bereitstellung lebensrettender Impfungen für jedes einzelne Kind. Impfmaßnahmen sind auch eine von vier Flaggschiff-Initiativen im neuen Europäischen Arbeitsprogramm, unserem gesundheitlichen Zielkatalog für den Zeitraum 2020–2025, denn die Beseitigung der Last der impfpräventablen Krankheiten ist eine wesentliche Voraussetzung für das Erreichen unseres kollektiven Ziels: mehr Gesundheit für alle.
Dank der Visionäre vor uns hat unsere Generation nun die einzigartige Chance, Polio ein für alle Mal auszulöschen. Wir können Geschichte schreiben. Impfungen gegen Polio und viele andere mittlerweile vermeidbare Krankheiten sind ein Recht und eine Verpflichtung zugleich.
Alle Menschen in aller Welt können ihren Beitrag leisten – lassen Sie uns die letzte Meile gemeinsam zurücklegen.