Erklärung – Katastrophale Auswirkungen von COVID-19 auf die Krebsversorgung
Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
Kopenhagen, 4. Februar 2021
COVID-19 bringt eine Vielzahl von Gefahren mit sich. Eine Gefahr, die wir nicht aus den Augen verlieren dürfen, ist die Krebsepidemie. Eine Aufrechterhaltung der Kontinuität der Versorgung von Krebspatienten gleichzeitig mit der Bekämpfung von COVID-19 ist in hohem Maße problematisch für die Länder der Europäischen Region der WHO, denn auf unseren Kontinent entfällt ungefähr ein Drittel aller bisher gemeldeten COVID-19-Fälle und Todesfälle weltweit – insgesamt haben mehr als 750 000 Menschen ihr Leben verloren.
In einem normalen Jahr sterben in der Europäischen Region knapp 2,2 Mio. Menschen an Krebs, viel zu viele, wenn man bedenkt, dass diese Todesfälle hätten verhindert werden können.
Beeinträchtigung der Krebsversorgung
Schon zu Beginn der Pandemie stellte die WHO fest, dass weltweit in 122 von 163 Ländern die Versorgung von Patienten mit nichtübertragbaren Krankheiten beeinträchtigt war und dass in einem Drittel der Länder der Europäischen Region die Krebsversorgung teilweise oder ganz eingestellt wurde.
So fiel beim Nationalen Zentrum für Onkologie in Kirgisistan im April vergangenen Jahres die Zahl der Krebsdiagnosen um 90%, während sie in den Niederlanden und Belgien während des ersten Lockdowns 2020 um 30% bis 40% zurückging. Im Vereinigten Königreich wird aufgrund verzögerter Diagnosen und Behandlungen für die nächsten fünf Jahre eine Zunahme der Todesfälle infolge von Darmkrebs und Brustkrebs um 15% bzw. 9% erwartet.
Für die nichtübertragbaren Krankheiten, einschließlich Krebs, zeichnet sich eine Krise ab, die durch die Pandemie ausgelöst wurde.
Krebs in der Zeit vor COVID-19
Gestatten Sie mir, hier etwas auszuholen. Selbst in einem normalen Jahr sind nichtübertragbare Krankheiten wie Krebs, chronische Atemwegserkrankungen und Diabetes mit über 80% aller Todesfälle die führende Ursache von Tod und Behinderung in der Europäischen Region der WHO.
Die Mittel für die Palliativversorgung und für die Prävention und Bekämpfung von Krebs sind unzureichend, und nur zu oft fließt ein Großteil der nationalen Gesundheitsausgaben in die Behandlung – zu Lasten von Investitionen in Prävention und Früherkennung.
Zwischen den Ländern unserer Region – und auch innerhalb unserer Länder – bestehen erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Resultate bei Krebserkrankungen, und die Tatsache, dass die Ungleichheiten in der Versorgung im vergangenen Jahr zugenommen haben, ist ein Aufruf zu mehr Solidarität und deutlich mehr Einsatz.
Die Zahlen sprechen für sich. 2020 wurden 4,8 Mio. Menschen in der Europäischen Region mit Krebs diagnostiziert. Das sind mehr als 13 000 pro Tag, 546 pro Stunde und 9 pro Minute. Jeder von uns kennt jemanden, der an Krebs erkrankt ist oder war. Jeder Dritte in den Ländern Westeuropas und jeder Vierte im östlichen Teil unserer Region wird im Laufe seines Lebens an Krebs erkranken.
Ein tödliches Zusammenspiel
Die Auswirkungen von COVID-19 auf Krebserkrankungen in der Europäischen Region sind komplex und teilweise schon als ein „tödliches Zusammenspiel“ beschrieben worden. Aufgrund der Reisebeschränkungen und der enormen Belastung der Gesundheitssysteme durch die Bekämpfung von COVID-19 wurde die Krebsversorgung in der gesamten Europäischen Region beeinträchtigt, sodass es zu beträchtlichen Verzögerungen bei Diagnose und Behandlung kam, die direkte Auswirkungen auf die Heilungs- und Überlebenschancen von Hunderttausenden Krebspatienten haben.
Manche Länder stehen vor Engpässen bei Krebsmitteln, und in vielen Ländern ging die Zahl der Krebs-Neudiagnosen deutlich zurück, sogar in den am besten ausgestatteten Ländern. Schon vor der Pandemie fehlte es an Personal auf den Onkologiestationen. Die hohen Kosten von Krebsmedikamenten und -behandlungen stellen selbst die einkommensstärksten Länder vor Probleme.
Auch vorher bereits vorhandene Ungleichheiten verschärfen sich durch die Wirtschaftskrise weiter und erschweren es vielen Menschen, sich gesundheitsförderlich zu verhalten oder Gesundheitsleistungen und Präventionsangebote in Anspruch zu nehmen.
Für die Europäische Region sind die Auswirkungen der Pandemie auf die Krebsversorgung schlichtweg katastrophal. Sie haben uns die tatsächlichen menschlichen Kosten bei Vernachlässigung einer nichtübertragbaren Krankheit wie Krebs vor Augen geführt.
Dies ist ein Weckruf für uns – von den Bürgern bis zu den Regierungen –, Krebs gemeinsam in Angriff zu nehmen.
Beschleunigte Lösungen
Heute geben wir den Startschuss zu einer gesamteuropäischen Krebsinitiative, die alle in dem Ziel einer wirksameren Bekämpfung von Krebs vereinen und Politikern dabei die richtigen Entscheidungen ermöglichen soll.
Diese Initiative ist eine wesentliche Stoßrichtung in dem Europäischen Arbeitsprogramm der WHO, in dem für wirksame Lösungen für Gesundheitsprobleme unserer Bürger durch gemeinsames Handeln für mehr Gesundheit geworben wird.
Die Initiative umfasst fünf Elemente: Prävention (letztendlich eine politische Entscheidung), Früherkennung, allgemeiner Zugang zu Diagnose- und Behandlungsangeboten, Palliativversorgung und Schwerpunktlegung auf Daten.
Wir müssen Veränderungen entlang des gesamten Kontinuums der Krebsversorgung herbeiführen. Unsere Vision ist kühn, aber dennoch realistisch. Unser Ziel ist es, eine Europäische Region zu schaffen, in der Krebs keine lebensbedrohliche Krankheit mehr ist und in der ein Sterben an Krebs nicht mehr als die Norm akzeptiert wird.
Unsere ersten Schwerpunkte liegen auf Krebserkrankungen im Kindesalter sowie auf Gebärmutterhals- und Brustkrebs. Unsere Zielsetzung lautet, Kooperationen und Partnerschaften auszubauen, politische Führungskompetenz zu stärken, die Jugend und die Zivilgesellschaft einzubinden und nicht zuletzt die Umsetzung von Schlüssellösungen der WHO zu forcieren. Dies sind kosteneffektive, evidenzbasierte Konzepte und Maßnahmen, die von fachlichen Leitlinien und Instrumenten begleitet werden und in Verbindung mit Sachverstand und Ressourcen der WHO spürbare Veränderungen auf der Ebene der Länder herbeiführen sollen.
Heute begrüße ich Aron Anderson, einen schwedischen Abenteurer mit eigenen Krebserfahrungen, als Botschafter der Europäischen Region der WHO für die Krebsbekämpfung. Arons Stimme und persönliche Erfahrungen werden bei der vor uns liegenden Arbeit im gemeinsamen Kampf gegen Krebs von unschätzbarem Wert sein.
Heute haben wir die Gelegenheit, einen neuen Weg einzuschlagen, die Lehren der Pandemie nutzbringend anzuwenden und die Prävention und Bekämpfung von Krebs zu verstärken. Wir können den Krebs nicht eliminieren, aber wir können als Ziel anstreben, krebsbedingte Todesfälle zu verhindern. Beteiligten Sie sich an unserer Initiative „Gemeinsam gegen Krebs“.
Ich danke Ihnen.