Erklärung – COVID-19: ein schwieriger Start ins Jahr 2021, neue COVID-19-Varianten und vielversprechende Fortschritte bei den Impfungen
Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
Kopenhagen, 7. Januar 2021
Guten Morgen.
Zunächst einmal wünsche ich Ihnen ein frohes und gesundes Neues Jahr 2021.
Wir waren auf einen schwierigen Start in das neue Jahr gefasst, und genau so ist es auch eingetreten. Ein Jahr nach der ersten Nachricht der WHO über das Virus stehen uns nun neue Mittel und deutlich mehr Wissen zur Verfügung, doch COVID-19 hat uns immer noch fest im Griff, da die Fallzahlen in Europa weiter in die Höhe schnellen und wir aufgrund der Mutation des Virus vor neuen Herausforderungen stehen.
Dieser Augenblick stellt einen Kipppunkt im Verlauf der Pandemie dar – an dem Wissenschaft, Politik, Technik und Wertvorstellungen eine vereinte Front bilden müssen, um dieses hartnäckige und schwer zu greifende Virus zurückzudrängen.
In der Europäischen Region der WHO wurden 2020 über 26 Mio. bestätigte COVID-19-Fälle verzeichnet, davon nachweislich über 580 000 mit tödlichem Ausgang. In den 27 Ländern, die an der Überwachung der Mortalität aufgrund aller Ursachen (EuroMOMO) teilnehmen, wurden 2020 knapp 313 000 zusätzliche Todesfälle gemeldet. Dies stellt ein Erhöhung der Zahl zusätzlicher Todesfälle um das Dreifache gegenüber dem Jahr 2018 und um das fast Fünffache gegenüber 2019 dar.
Nun, zu Beginn des Jahres 2021, leben mehr als 230 Mio. Menschen in der Europäischen Region in Ländern, in denen ein vollständiger landesweiter Lockdown gilt, und in der kommenden Woche werden aus weiteren Ländern Ankündigungen in Bezug auf Lockdown-Maßnahmen erwartet. Die Übertragungs- und Infektionsraten verharren in der gesamten Europäischen Region auf sehr hohem Niveau. Mit Stand vom 6. Januar weisen fast die Hälfte aller Länder und Gebiete in der Europäischen Region eine Sieben-Tages-Inzidenz von über 150 neuen Fällen pro 100 000 EW auf, und ein Viertel haben in den vergangenen zwei Wochen einen Anstieg der Fallinzidenz um mehr als 10% erlebt. Mehr als ein Viertel aller Mitgliedstaaten und Gebiete in der Europäischen Region verzeichnen eine sehr hohe Inzidenz und erleben eine Überlastung ihrer Gesundheitssysteme.
Auch wenn es in einigen Ländern Anzeichen für eine Stabilisierung oder gar einen Rückgang der Inzidenz gibt, so ist hier doch erhebliche Vorsicht geboten. Denn die Wirkung der Feiertage – mit Versammlungen im familiären und nachbarschaftlichen Umfeld und teilweise Nachlässigkeit in Bezug auf räumliche Distanz und Maskentragen – lässt sich noch nicht konkret beziffern. Auch die Test- und Meldetätigkeit war während der Feiertage oft geringer, sodass das Bild von der aktuellen epidemiologischen Situation wohl nur unvollständig ist. Deshalb bedarf es jetzt vor einer allmählichen Aufhebung geltender Maßnahmen eines umsichtigen Ansatzes in Form einer Bewertung der Entwicklungen der letzten Tage.
2021 bringt neue Möglichkeiten und Instrumente, u. a. eine Impfung, doch auch neue Herausforderungen durch das Virus selbst.
Wie alle Viren hat sich auch COVID-19 während des Zirkulierens mit der Zeit verändert. Ich kann die Sorgen über mögliche Folgen der besorgniserregenden Variante des SARS-CoV-2 gut nachvollziehen. In 22 Ländern der Europäischen Region der WHO konnte diese neue Variante bereits nachgewiesen werden.
Sie ist insofern problematisch, als sie eine höhere Übertragbarkeit aufweist. Bisher gehen wir davon aus, dass es beim von dieser Variante verursachten Krankheitsbild keine wesentliche Veränderung gibt, sodass der Krankheitsverlauf von COVID-19 weder schwerer noch milder ausfällt. Die Variante breitet sich in allen Altersgruppen aus, und Kinder tragen offenbar kein erhöhtes Risiko. Unserer Einschätzung nach könnte diese besorgniserregende Variante mit der Zeit andere zirkulierende Varianten ersetzen, wie sich bereits im Vereinigten Königreich und inzwischen auch zunehmend in Dänemark zeigt.
Doch mit erhöhter Übertragbarkeit und einem vergleichbar schweren Krankheitsverlauf ist die Variante besorgniserregend: denn ohne verschärfte Kontrollmaßnahmen zur Verlangsamung der Ausbreitung wird es stärkere Auswirkungen auf die bereits überlasteten Gesundheitseinrichtungen geben. Ich möchte die Länder dringend dazu auffordern, diese Last dadurch zu verringern, dass sie alles in ihren Kräften Stehende tun, um die Übertragung zu verhindern und die Wachsamkeit im Hinblick auf den
Nachweis neuer Varianten zu erhöhen, indem sie:
1.bei ungewöhnlich schneller Übertragung und einem unerwarteten Krankheitsbild bzw. Krankheitsverlauf Untersuchungen anstellen;
2.die Sequenzierung einer systematisch ausgewählten Teilmenge der Infektionen mit SARS-CoV-2 intensivieren und diese Daten bei der Festlegung frühzeitiger Gesundheitsschutzmaßnahmen heranziehen;
3.diese Daten weitergeben, sodass wir uns ein besseres Bild von dem wahren Ausmaß der Zirkulation dieser und anderer Varianten machen können. Solidarität in der Wissenschaft ist in Zeiten wie dieser von entscheidender Bedeutung.
Die Situation ist besorgniserregend und zwingt uns, kurzfristig mehr zu tun als bisher und die gesundheitlichen und sozialen Maßnahmen zu intensivieren, um die steile vertikale Kurve in manchen Ländern abflachen zu können, die dort vielleicht zum ersten Mal aufgetreten ist. Um die Übertragung zu reduzieren, unsere COVID-19-Stationen zu entlasten und Menschenleben zu retten, gilt es, die grundlegenden Maßnahmen zu intensivieren, mit denen wir alle vertraut sind: Einhaltung von Maskenpflicht und Abstandsgeboten, Begrenzung von Personenzahlen und regelmäßiges Händewaschen, in Verbindung mit ausreichenden Test- und Rückverfolgungssystemen, einer angemessenen Unterstützung für Personen in Quarantäne und Isolation und in zunehmendem Maße mit Impfungen – wenn wir alle mitmachen, wird es funktionieren.
Mit dem Anlaufen der Impfmaßnahmen gegen COVID-19 in einigen Ländern der Europäischen Region der WHO wurde die Grundlage dafür geschaffen, Impfungen zu einem Mittel zur Eindämmung der gegenwärtigen Pandemie zu machen. Zwar gibt es über den Impfbeginn gegen COVID-19 in der Europäischen Region je nach Land recht unterschiedliche Berichte, doch insgesamt ergibt sich ein vielversprechendes Bild. Dennoch: Auch wenn ich Ihnen versichern kann, dass die WHO und ihre Partnerorganisationen sich nach Kräften darum bemühen, jedem Land Zugang zu Impfstoffen zu verschaffen, so ist es doch auch erforderlich, dass jedes Land, das in der Lage ist, seinen Beitrag zu leisten und einen chancengleichen Zugang zu den Impfstoffen und deren Anwendung zu unterstützen, dies auch tut. Als Kollektiv können wir es uns einfach nicht leisten, dass ein Land oder eine Bevölkerungsgruppe auf der Strecke bleibt.
Angesichts der begrenzten Impfstoffvorräte und der zunehmenden Belastung für unsere Gesundheitssysteme kommt es entscheidend darauf an, bei der Impfung unserem Gesundheitspersonal und den am stärksten gefährdeten Gruppen in der Gesellschaft Vorrang einzuräumen. Ihr Mut und ihre Aufopferungsbereitschaft in den vergangenen Monaten dürfen nicht in Vergessenheit geraten; nun ist es an der Zeit, das an vorderster Linie eingesetzte Personal mit den neuen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, zu schützen.
Zu diesem Zeitpunkt und nach so vielen Monaten mit wechselnden Phasen der Hoffnung und der Verzweiflung ist die Herdenimmunität verständlicherweise ein erstrebenswertes Endziel. Doch sie kann nicht unser unmittelbares und vorrangiges Anliegen sein. Ich möchte hervorheben, dass die Einführung von Impfungen in erster Linie dazu dient, die Zahl schwerer Krankheitsverläufe in gefährdeten Gruppen zu reduzieren, den Druck auf unsere Krankenhäuser zu verringern und die Gefahr eines Zusammenbruchs unserer Gesundheitssysteme abzuwenden. Auch wenn ich mir darüber im Klaren bin, dass es sich dabei um eine außergewöhnliche Anstrengung handelt, so ist der Nutzen doch überwältigend.
Nach der letzte Woche veröffentlichten Notfallliste der WHO für die Verwendung des Impfstoffs von Pfizer/BioNTech hat der Strategische Beirat für Immunisierungsfragen (SAGE) am Dienstag die Grundsatzempfehlungen für die Verwendung dieses Impfstoffs geprüft. Wir haben alle die Empfehlung zur Kenntnis genommen, die Zeit zwischen der ersten und zweiten Dosis des Impfstoffs flexibler zu gestalten, als ursprünglich vom Hersteller angegeben. Wohl gemerkt: Eine solche Entscheidung bildet einen sicheren Kompromiss zwischen den derzeit begrenzten Produktionskapazitäten und dem Gebot für Regierungen, möglichst viele Menschen zu schützen und gleichzeitig die Belastung der Gesundheitssysteme durch eine mögliche nachfolgende Welle zu verringern. Ich möchte betonen, dass diese Entscheidung im Einklang mit bereits in klinischen Versuchen gewonnenen Erkenntnissen über Impfstoffwirksamkeit getroffen wurde. Dr. Siddhartha Datta, der heute bei uns ist, wird vielleicht noch etwas hierzu ausführen, wenn wir Ihre Fragen beantworten.
Ob bei der Zuteilung von Impfstoffen und der Prioritätensetzung, beim Zugang zu medizinischen Gütern und Tests oder bei gesundheitlichen Maßnahmen und Konzepten zur Bekämpfung der Pandemie: es ist unsere Pflicht, unsere Entscheidungen aufgrund der zentralen Werte der Menschheit zu treffen: Solidarität, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit. Dies ist der einzige Weg, der uns aus dieser Zeit der Ungewissheit führt, denn niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind.
Vielen Dank.