Erklärung – COVID-19: Fragile Fortschritte
Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
20. Mai 2021
Guten Morgen, guten Tag!
Die Zahl der COVID-19-Fälle und der damit verbundenen Todesfälle geht zurück. Die wöchentlichen Fallzahlen in der Europäischen Region sind von einem Plateau von 1,7 Millionen Mitte April auf knapp 685 000 neue Fälle in der letzten Woche gesunken. Dies entspricht einem Rückgang um 60% innerhalb eines Monats.
Diese Fortschritte sind fragil. Und das ist nicht das erste Mal. Lassen Sie uns nicht die gleichen Fehler machen, wie im letzten Jahr zu dieser Zeit, die zu einem Wiederaufflammen von COVID-19 und dazu geführt haben, dass unsere Gesundheitssysteme, Gemeinschaften und Volkswirtschaften erneut mit voller Wucht von der Pandemie getroffen wurden.
Wir haben unsere Lektion gelernt und ein bitteres Lehrgeld gezahlt. Wir sind auf dem richtigen Weg, aber wir müssen das Virus, das in dieser Region fast 1,2 Millionen Menschenleben gefordert hat, weiterhin genau beobachten. Diese Zahl entspricht der Einwohnerzahl von Brüssel.
In verschiedenen Ländern gibt es Gegenden, in denen die Übertragungsraten wieder steigen, und das könnte sehr rasch zu einem gefährlichen Wiederanstieg der Fallzahlen führen.
In der vergangenen Woche war die Inzidenz in acht Ländern der Region nach wie vor hoch und lag bei über 150 neuen Fällen pro 100 000 EW. Die Pandemie ist noch nicht vorüber.
In den kommenden Monaten werden zunehmende Mobilität, physische Interaktion und Zusammenkünfte in Europa möglicherweise zu einer verstärkten Übertragung führen. Wenn die sozialen Maßnahmen gelockert werden, wie dies in den meisten Ländern in allen Teilen der Region derzeit der Fall ist, müssen Tests und Sequenzierung, Isolation, Kontaktermittlung, Quarantäne und Impfung verstärkt werden, um die Kontrolle zu behalten und zu gewährleisten, dass der Trend weiterhin rückläufig bleibt.
Während mehrere Länder in unserer Region derzeit die Tests für ihre Bürger ausweiten, um den Zugang zu Kultur- und Veranstaltungsorten sowie gesellschaftliche Zusammenkünfte zu ermöglichen, müssen wir daran denken, dass es so etwas wie ein Nullrisiko nicht gibt. Zudem haben bislang lediglich 23% der Menschen in der Europäischen Region ihre erste Impfdosis erhalten, während 11% bereits vollständig geimpft sind. Es liegt noch ein weiter Weg vor uns, bevor alle Impfberechtigten in der Region vollständig geimpft sind.
Weder Tests noch Impfungen stellen einen Ersatz für die Einhaltung von Maßnahmen wie der körperlichen Distanzwahrung und dem Tragen von Schutzmasken in öffentlichen Räumen oder Gesundheitseinrichtungen dar.
Die meisten von uns sind nach wie vor von dem Virus bedroht und noch nicht geimpft. Gerade jetzt, angesichts der anhaltenden Bedrohung und neuer Ungewissheiten, müssen wir weiterhin Vorsicht walten lassen und überdenken, ob internationale Reisen notwendig sind, oder ganz auf diese verzichten. Impfstoffe mögen zwar ein Licht am Ende des Tunnels sein, doch dürfen wir uns von diesem Licht nicht blenden lassen.
Die neue besorgniserregende Variante B.1.617, die erstmals in Indien identifiziert wurde, wurde mittlerweile auch in mindestens 26 der 53 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region der WHO nachgewiesen, von Österreich über Griechenland und Israel bis nach Kirgisistan. Die meisten dieser Fälle sind mit internationalen Reisen verbunden, doch es ist auch schon zu einer Weiterübertragung gekommen. Diese neue Variante muss noch weiter erforscht werden, doch sie ist in der Lage, sich rasch auszubreiten und den Virenstamm B.1.1.7 zu verdrängen, der in Europa am weitesten verbreitet ist.
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass alle COVID-19-Varianten auf die gleiche Art und Weise eingedämmt werden können: mit Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und sozialen Maßnahmen.
Und dass alle bislang aufgetretenen COVID-19-Varianten auf die zur Verfügung stehenden zugelassenen Impfstoffe ansprechen.
In der letzten Woche haben wir die Gesundheitsminister aus allen 53 Mitgliedstaaten einberufen, um eine Bestandsaufnahme zur Annahme der Impfungen zu machen, und Strategien zu entwickeln, wie sich der Nutzen der vorhandenen Impfstoffe auf mehr Menschen in der Region ausweiten lässt.
Die Annahme der Impfung unter den über 80-Jährigen in der Region beträgt mittlerweile 75%. Die vorrangige Impfung älterer Erwachsener, einschließlich jener in Langzeitpflegeeinrichtungen, trägt Früchte. Die Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit sind eindeutig. Während die Zahl der neuen Fälle in allen Altersgruppen seit Mitte April zurückgeht, sind die Raten in den ältesten Altersgruppen am schnellsten gesunken. Die über 80-Jährigen sind nun am wenigsten bei neuen Fällen in der gesamten Region vertreten. Zu Beginn des Jahres waren sie noch am stärksten vertreten.
Die Daten sprechen für sich selbst. Die wöchentliche Inzidenz unter den über 80-Jährigen in der Region fiel von 27,4 Fällen pro 10 000 EW Mitte Dezember 2020 auf 6,2 Fälle in der ersten Mai-Woche 2021. In der gleichen Altersgruppe fiel die wöchentliche Sterblichkeit im gleichen Zeitraum von 4,6 pro 10 000 EW auf 0,9. Darin zeigt sich der Wert von Impfstoffen. Jedes Mal, wenn ein Mensch sich impfen lässt, jedes Mal, wenn man sich für das Tragen einer Schutzmaske entscheidet und Distanz zu anderen wahrt, machen wir wichtige Fortschritte im Kampf gegen ein Virus, das auch weiterhin den Lohn ernten wird, wenn wir die Zügel schleifen lassen.
Es besteht jedoch kein Zweifel, dass wir dank Ihrer Bemühungen auf Kurs bleiben, um diese Pandemie Geschichte werden zu lassen.
Ich danke Ihnen.