Erklärung – Internationaler Frauentag: Notwendigkeit eines Wiederaufbaus zum Besseren, bei dem Frauen die Führung übernehmen

Video: Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, 4-03-2021

Presseerklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

4. März 2021

Guten Morgen.

In der letzten Woche stieg die Zahl der neuen COVID-19-Fälle in der Europäischen Region um 9% auf knapp über 1 Million. Damit endete ein vielversprechender sechswöchiger Rückgang der Neuinfektionen und mehr als die Hälfte unserer Region verzeichnet erneut steigende Fallzahlen.

In Zentral- und Osteuropa beobachten wir einen raschen Wiederanstieg. Auch in vielen westeuropäischen Ländern, in denen die Fallzahlen bereits hoch waren, steigen die Zahlen der Neuinfektionen.

Der kontinuierlichen Belastung unserer Krankenhäuser und Gesundheitsfachkräfte wird solidarisches Handeln im medizinischen Bereich zwischen europäischen Nachbarn entgegengebracht. Und dennoch sollten unsere Gesundheitssysteme über ein Jahr nach Beginn der Pandemie nicht in dieser Lage sein.

Wir müssen uns wieder auf das Wesentliche konzentrieren.

Die hohen Übertragungsraten und die rasche Ausbreitung der bedenklichen Virusvarianten in allen Teilen der Region erfordern:

  1. eine erhöhte Wachsamkeit gegenüber jenen Varianten, die mit der Gefahr einer erhöhten Übertragbarkeit oder einem schwereren Krankheitsverlauf einhergehen;
  2. verbesserte Tests und verstärkte Isolation von infizierten Personen, verbesserte Ermittlung und Unter Quarantäne-Stellung von Kontaktpersonen sowie eine verbesserte Versorgung;
  3. eine stärkere Fokussierung auf die Prävention und Bekämpfung anderer Krankheiten;
  4. größere Anstrengungen zur Wiedereinbeziehung von Gemeinschaften und zur Bekämpfung der Pandemiemüdigkeit;
  5. eine einheitliche, allmähliche und evidenzgeleitete Wiedereröffnung der Gesellschaft innerhalb von und zwischen den Ländern, wenn die rechte Zeit dafür ist;
  6. eine beschleunigte Bereitstellung der Impfstoffe.

B.1.1.7, die erstmals im Vereinigten Königreich identifizierte Virusvariante, wurde mittlerweile in 43 der 53 Länder in der Europäischen Region verzeichnet; B.1.351, die in Südafrika identifizierte Variante, in 26 Ländern; und P1, die in Brasilien und Japan identifizierte Variante, in 15 Ländern.

Wir müssen die Ausbreitung des Virus überall unterdrücken und dabei auf jene Maßnahmen zurückgreifen, von denen wir wissen, dass sie Wirkung zeigen.

Impfmaßnahmen retten bereits Leben, die Zahl der Krankenhauseinweisungen sowie der Todesfälle sinkt in den am stärksten gefährdeten Gruppen erheblich, doch es wird Zeit in Anspruch nehmen, alle Bevölkerungsgruppen zu impfen.

Insgesamt haben 45 Länder in der Europäischen Region mit der Durchführung von Impfmaßnahmen begonnen; 1,9% der Bevölkerung in 40 Ländern und 24,5% der Gesundheitsfachkräfte in 20 Ländern sind bereits vollständig gegen COVID-19 geimpft worden.

Am Montag ist Internationaler Frauentag und ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um auf jene Probleme aufmerksam zu machen, die Frauen und einen der größten Beschäftigungssektoren für Frauen, weltweit wie auch regionsweit, betreffen: die Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialwesen.

Zu Beginn der Pandemie gab es in der Region kein einziges Land, das eine Gleichstellung der Geschlechter erreicht hatte. Kein einziges. COVID-19 hat seitdem die zugrunde liegenden strukturellen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern verschärft und verdeutlicht.

Wir wissen schon lange, dass Notlagen sich unverhältnismäßig stark auf die Gesundheit von Frauen auswirken – und COVID-19 ist hier keine Ausnahme: von den bestätigten Fällen sind Frauen und junge Erwachsene stärker betroffen.

Das Gesicht der Gesundheitsfachkraft an vorderster Front, von der wir so oft sprechen, ist in den meisten Fällen das Gesicht einer Frau. Mehr als sieben von zehn Fachkräften im Gesundheitswesen und in Gesundheitseinrichtungen weltweit sind Frauen. In der Europäischen Region machen Frauen 84% aller Pflegekräfte und 53% aller Ärzte aus.

Auf Gesundheitsfachkräfte entfallen 8% der globalen COVID-19-Fälle, und ihr Infektionsrisiko ist mehr als dreimal so hoch wie das Risiko für die meisten von uns, also von jenen, die sie zu schützen versuchen. Vor fünf Wochen waren von den 1,3 Mio. Gesundheitsfachkräften, die sich mit COVID-19 infiziert hatten, 68% Frauen.

Wir müssen alles in unserer Macht stehende tun, um das an vorderster Front tätige Personal zu schützen. Es ist von entscheidender Bedeutung und die Pflicht aller Regierungen, dafür zu sorgen, dass die Impfung der Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialwesen gewährleistet wird.

Ich habe heute drei Botschaften für Sie.

Erstens müssen wir die schwerwiegenden sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 auf Frauen reduzieren, ihre wirtschaftliche Teilhabe muss verstärkt werden und wir müssen das Problem des Lohngefälles angehen.

Dies können wir durch die Investition in Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen anhand einer gerechten Vergütung und gerechter Arbeitsbedingungen sowie durch eine entsprechende Anerkennung erreichen.

In Nicht-Pandemie-Zeiten leisten Frauen dreimal so viel unbezahlte Pflege- und Hausarbeit wie Männer. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben dieses Ungleichgewicht verschärft, ein typisches Beispiel hierfür sind etwa die Schulschließungen.

Frauen sind häufiger verantwortlich für den Heimunterricht als Männer, und angesichts eingeschränkter Kinderbetreuungsangebote liegt die Last der unbezahlten Kinderbetreuung primär auf den Frauen, wodurch ihre Fähigkeit zur Ausführung bezahlter Arbeit eingeschränkt wird. Und auch für den Großteil der Hausarbeit sowie die Betreuung von Kindern und älteren Menschen sind noch immer unverhältnismäßig oft Frauen verantwortlich.

Beim Gesundheitspersonal gruppieren sich Frauen in minderqualifizierte und schlechter bezahlte Berufe. Das geschlechtsspezifische Lohngefälle im Gesundheitswesen ist mit 25% größer als in anderen Bereichen, und das ist inakzeptabel.

Zweitens sollten wir kollektiv gewährleisten, dass Frauen zunehmend bei der Entscheidungsfindung auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene zur Prävention und Bekämpfung von COVID-19 mitwirken.

Aus gutem Grund ist das Thema des diesjährigen Internationalen Frauentags am 8. März „Frauen in Führungspositionen: eine gleichberechtigte Zukunft in einer von COVID-19 geprägten Welt erreichen“ – denn die Arbeit im globalen Gesundheitswesen wird schon zu lange von Männern geleitet und von Frauen geleistet, und dies schlägt sich auch in der Tatsache nieder, dass Frauen 70% der Gesundheitsfachkräfte ausmachen, aber nur 25% der Führungspositionen einnehmen.

Frauen sind in den nationalen bzw. globalen Entscheidungsprozessen im Kampf gegen die Pandemie weitgehend abwesend. Diese Kluft bei den Führungspositionen ist von Stereotypen, Diskriminierung und Machtgefälle bestimmt. Einige Frauen werden aufgrund von Rasse oder sozioökonomischer Klasse weiter benachteiligt.

Meine dritte Botschaft am heutigen Tag lautet: Wir brauchen verstärkte soziale Unterstützung, Prävention, frühzeitige Erkennung und Behandlung für Frauen, die durch häusliche Gewalt gefährdet sind. Darüber hinaus müssen wir die Auswirkungen des Virus auf die psychische Gesundheit bekämpfen und einen Burnout bei Gesundheitsfachkräften verhindern.

In allen Teilen der Europäischen Region ist ein dramatischer Anstieg der Berichte von Gewalt gegen Frauen zu verzeichnen. Zahllose Frauen werden zu einem „Lockdown“ zu Hause mit ihren Peinigern gezwungen. Und obwohl die Gefahr von Gewalt zugenommen hat, ist der Zugang zu entsprechenden Angeboten Berichten zufolge weitgehend unterbrochen. Aufnahmestellen für Opfer von häuslicher Gewalt sind voll oder werden für andere Zwecke genutzt oder wurden geschlossen. Ersthelfer sind überfordert.

Zudem sind Frauen infolge von COVID-19 einer größeren psychologischen Belastung ausgesetzt als Männer. Daten eines österreichischen Sorgentelefons aus dem Jahr 2020 zeigen, dass 68% der Anrufer weiblich waren und dass Frauen deutlich schlechter als Männer bei sämtlichen Parametern für psychische Gesundheit abschnitten.

Arbeitet man im Gesundheitswesen, ist man stärker durch Traumata, stressbedingte Störungen und Depressionen gefährdet. Studien zeigen, dass 20–70% der Gesundheitsfachkräfte mit psychischen Problemen kämpfen. Die größte Sorge ist dabei oft die Angst vor einer Infektion mit dem Virus und vor dem Unbekannten.

Es bedarf finanzieller Ressourcen und operationeller Kapazitäten für entsprechende Unterstützungsdienste – auch während eines Lockdowns.

Nichts von alledem dürfen wir ignorieren. Und all dies können wir ändern. Denn wenn Systeme bis ins Mark erschüttert werden, besteht die Chance auf ein Umdenken und auf den Aufbau besserer Gesellschaften – und wir sind es uns selbst schuldig, diese Chance zu ergreifen.

Dabei geht es nicht nur um die Beseitigung langjähriger Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Es geht um Frauen als Führungspersönlichkeiten im Gesundheitswesen und um eine genderspezifische Reaktion auf Krisen. Es geht darum, dass Gleichberechtigung und das Schutzbedürfnis von Frauen im Zentrum jeglicher Reaktion stehen. Und es geht darum, Missstände zu beseitigen – sowohl außerhalb als auch innerhalb der Krankenhausmauern– zum Wohl der Allgemeinheit.

Globale Gesundheit sollte von uns allen geleitet und geleistet werden.

Ich wünschen Ihnen am Montag einen fröhlichen Internationalen Frauentag.