Erklärung – Die COVID-19-Pandemie und ihre Kollateralschäden überwinden

WHO

Dr Hans Henri P. Kluge, WHO Regional Director for Europe

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

Kopenhagen, 18. Februar 2021

Mit über 37 Mio. Fällen und fast 830 000 Todesfällen weist die Europäische Region der WHO die fünfte Woche in Folge rückläufige Fallzahlen auf. Zum ersten Mal seit September letzten Jahres beträgt die Zahl der innerhalb einer Woche neu gemeldeten Fälle weniger als eine Million. Die Zahl der neuen Todesfälle ist zwar noch immer hoch, doch ist auch sie die dritte Woche in Folge rückläufig.

Die Übertragung verlangsamt sich somit allmählich in den meisten Teilen der Region. Europa weist damit gegenwärtig einen abnehmenden Anteil der globalen durch Krankheit und Sterblichkeit bedingten Last auf, der sich bei den neuen Fällen derzeit auf 28% und bei den neuen Todesfällen derzeit auf 21% beläuft.

Ein zweigleisiger Ansatz

Wenn die Zahl der COVID-19-Fälle in vielen Ländern auf einem niedrigen Niveau liegt, wie dies derzeit der Fall ist, bietet sich für die Gesundheitsbehörden die Gelegenheit, sich auf die Evaluation und Verbesserung ihrer eigenen Reaktion zu konzentrieren. Vor diesem Hintergrund habe ich alle Gesundheitsminister in der Europäischen Region angeschrieben und ihnen eine Einschätzung der aktuellen Situation sowie eine Prüfliste zusätzlicher Maßnahmen geschickt, die die Mitgliedstaaten in Erwägung ziehen sollten.

Dies ist jedoch auch die Zeit, um unsere Gesundheitsdienste wieder auf Kurs zu bringen, Strategien zu entwerfen und Gesundheitsangebote über die Reaktion auf COVID-19 hinaus bereitzustellen.

Weltweit berichten 9 von 10 Ländern, dass während der Pandemie grundlegende Gesundheitsleistungen unterbrochen wurden. Krebspatienten waren davon in hohem Maße betroffen. Sie sind aufgrund ihres geschwächten Immunsystems stärker gefährdet, und ihre Behandlungen wurden entweder aufgeschoben oder unterbrochen. Für einige Länder ist es unmöglich geworden, Krebspatienten zur Behandlung ins Ausland zu schicken.

Nicht nur COVID-19-Stationen sind in den vergangenen Monaten an ihre Belastungsgrenze gestoßen. Auch psychiatrische Stationen waren davon betroffen. Einige haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie über ihre Müdigkeit sprechen, während andere Menschen buchstäblich um ihr Leben kämpfen. Viele von uns versuchen, mit einer Achterbahn der Gefühle fertig zu werden: von Angstzuständen und Trauer bis hin zu Depressionen.

Auch antimikrobielle Resistenz stellt eine wachsende Gefahr dar, durch die die wirksame Prävention und Behandlung von Infektionen bedroht werden. Untersuchungen in neun Ländern und Gebieten, in denen es keine Leitlinien für die Behandlung gibt oder diese nicht befolgt werden, in denen man Antibiotika rezeptfrei erwerben kann, zeigen einen besorgniserregenden Anstieg des Gebrauchs von Antibiotika aufgrund des Irrglaubens, dass Antibiotika eine COVID-19-Infektion verhindern können.

Eine Studie schätzte auf der Grundlage weltweit erhobener Daten, dass 2020 in einem Zeitraum von 12 Wochen rund 28,5 Mio. geplante Operationen aufgrund von COVID-19 abgesagt werden mussten.

Impfprogramme für Kinder wurden in nahezu allen Ländern unterbrochen, und in einigen Ländern wurden die Impfprogramme vorübergehend komplett ausgesetzt.

Dies sind nur einige der zahlreichen Probleme, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen.

Impfung von Gesundheitsfachkräften

In den kommenden Wochen, wenn mehr und mehr Gesundheitsfachkräfte geimpft werden, werden auch die Kapazitäten für die Bewältigung des Rückstaus an verschobenen Operationen, abgesagten Chemotherapien und ausgesetzten Impfkampagnen wieder zunehmen. Darauf sollten wir nach und nach unsere Aufmerksamkeit richten und gleichzeitig die Übertragung von COVID-19 unterdrücken.

Ein widerstandsfähiges Gesundheitssystem erfordert angemessene personelle Ressourcen, um sicherzustellen, dass jeder überall Zugang zu Gesundheitsangeboten erhält. Bislang sind verfügbaren Daten aus 20 Ländern in der Region zufolge zwischen 1% und 46%, also durchschnittlich 19%, des Gesundheitspersonals vollständig gegen COVID-19 geimpft.

Ein stärkerer, geimpfter Personalbestand im Gesundheitswesen, weniger durch COVID-19 bedingte Krankenhauseinweisungen und mit zunehmender Impfung der älteren Bevölkerung weniger Todesfälle sollten uns den Raum und die Zeit geben, die erforderlich sind, um uns neu aufzustellen – was als solches eine gewaltige Aufgabe darstellt.

Der Kampf an mehreren Fronten erfordert Ressourcen und Wachsamkeit, und erneut ist es das Gesundheitspersonal, das die schwerste Last zu tragen hat.

Im vergangenen Jahr haben die Gesundheitsfachkräfte tagtäglich ihr eigenes Leben riskiert und außerordentliche Widerstandskraft und Anteilnahme bewiesen. Für ihre Opfer und ihr Engagement habe ich den größten Respekt – insbesondere, da sie es sind, die nun bei der Durchführung der Impfprogramme gefordert sind.

Und auch sie sind es, die damit beauftragt werden, unsere routinemäßigen und grundlegenden Gesundheitsleistungen wieder auf Kurs zu bringen, um die Kollateralschäden und Nebenwirkungen dieser Pandemie zu bewältigen. Sie haben außergewöhnliche Mühen auf sich genommen und müssen nun noch darüber hinausgehen.

Um sie bei diesen Anstrengungen zu unterstützen, müssen jene von uns, die nicht an vorderster Front arbeiten, sich weiterhin verantwortungsbewusst verhalten und sich an die Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und die sozialen Maßnahmen halten, damit unsere Gesundheitssysteme sich darum bemühen können, nicht nur COVID-19-Patienten zu retten, sondern auch Menschen mit Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Tuberkulose.

Keine Zeit für Nachlässigkeit

Worauf es jetzt ankommt, ist, wie wir auf die positiven epidemiologischen Trends reagieren.

Trotz des allgemein ermutigenden Bildes, das sich uns bietet, können epidemiologische Verbesserungen auch ein Gefühl von Sicherheit verleihen, das zu übereilten Entscheidungen und somit zu einem Wiederanstieg der Fallzahlen führt.

Die Verlangsamung der Ausbreitung des Virus ist überwiegend durch die Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und die sozialen Maßnahmen bedingt. Wir als Einzelne haben die Macht, den derzeitigen positiven Trend zu untergraben oder ihn zu unterstützen. Die notwendigen Werkzeuge dafür stehen uns zur Verfügung. Wir sollten sie nutzen und ihre volle Wirkung entfalten lassen.

Auch wenn neue Varianten zusätzliche Herausforderungen mit sich bringen, gehen sie doch alle auf das SARS-CoV-2-Virus zurück und können alle mit den uns zur Verfügung stehenden Werkzeugen bekämpft werden. Mehrere Länder haben die Übertragung dieser Varianten erheblich eingedämmt.

Rund 40 Länder in der Europäischen Region haben damit begonnen, gegen COVID-19 zu impfen. Und dennoch wurden in den 30 Ländern, die diesbezügliche Daten zur Verfügung gestellt haben, bislang nur 1,8% der Bevölkerung vollständig geimpft. Impfstoffe bringen in jedem Fall eine Wende, doch da das Angebot derzeit begrenzt ist, bleiben die wirksamsten Werkzeuge weiterhin die Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und die sozialen Maßnahmen.

Angesichts der Berichte über neue Varianten sind Verwirrung und Müdigkeit nur verständlich. Doch lassen Sie mich Ihnen versichern, dass diese Umstände nur vorübergehend sind. Natürlich werden wir auch in den kommenden Monaten weiterhin Vorsichtsmaßnahmen treffen müssen, doch wenn wir alle unsere Rolle spielen und Verantwortung dafür übernehmen, dass die Übertragungsraten niedrig bleiben, werden wir in der Lage sein, die verhängten Beschränkungen aufzuheben.

Jetzt ist die Zeit, die durch die gravierenden Unterbrechungen der Gesundheitsangebote verursachten Schäden zu begrenzen, den durch COVID-19 bedingten Kollateralschäden entgegenzuwirken und gleichzeitig die Pandemie unter Kontrolle zu halten.

Schützen Sie sich. Vielen Dank.