Erklärung – Aktuelles über COVID-19: ein Kipppunkt im Verlauf der Pandemie
Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa - Pressekonferenz in russischer Sprache
Kopenhagen, 14. Januar 2021
Guten Morgen.
Zunächst einmal wünsche ich Ihnen ein frohes und gesundes Neues Jahr 2021.
Wir waren auf einen schwierigen Start in das neue Jahr gefasst, und genau so ist es auch eingetreten. Ein Jahr nach der ersten Nachricht der WHO über das Virus stehen uns nun neue Mittel und deutlich mehr Wissen zur Verfügung, doch COVID-19 hat uns immer noch fest im Griff, da die Fallzahlen weiter in die Höhe schnellen und wir aufgrund der Mutation des Virus vor neuen Herausforderungen stehen.
Dieser Augenblick stellt einen Kipppunkt im Verlauf der Pandemie dar – an dem Wissenschaft, Politik, Technik und Wertvorstellungen eine vereinte Front bilden müssen, um dieses hartnäckige und schwer zu greifende Virus zurückzudrängen.
In der Europäischen Region der WHO wurden 2020 über 26 Mio. bestätigte COVID-19-Fälle verzeichnet, davon nachweislich über 580 000 mit tödlichem Ausgang.
Nun, zu Beginn des Jahres 2021, leben mehr als 280 Mio. Menschen in der Europäischen Region der WHO in Ländern, in denen ein vollständiger landesweiter Lockdown gilt, und in der kommenden Woche werden aus weiteren Ländern Ankündigungen in Bezug auf Lockdown-Maßnahmen erwartet. Die Übertragungs- und Infektionsraten verharren in der gesamten Europäischen Region auf sehr hohem Niveau.
Auch wenn es in einigen Ländern Anzeichen für eine Stabilisierung oder gar einen Rückgang der Inzidenz gibt, so ist hier doch erhebliche Vorsicht geboten. Denn die Wirkung der Feiertage – mit Versammlungen im familiären und nachbarschaftlichen Umfeld und teilweise Nachlässigkeit in Bezug auf räumliche Distanz und Maskentragen – lässt sich noch nicht konkret beziffern. Auch die Test- und Meldetätigkeit war während der Feiertage oft geringer, sodass das Bild von der aktuellen epidemiologischen Situation wohl nur unvollständig ist.
2021 bringt neue Möglichkeiten und Instrumente, u. a. eine Impfung, doch auch neue Herausforderungen durch das Virus selbst.
Wie alle Viren hat sich auch COVID-19 während des Zirkulierens mit der Zeit verändert. Ich kann die Sorgen über mögliche Folgen der besorgniserregenden Variante SARS-CoV-2 202012/01 gut nachvollziehen, denn dieser neue Stamm wurde schon aus 25 Ländern der Europäischen Region, darunter die Russische Föderation, gemeldet.
Er ist insofern problematisch, als er eine höhere Übertragbarkeit aufweist. Bisher gehen wir davon aus, dass es beim von dieser Variante verursachten Krankheitsbild keine wesentliche Veränderung gibt, sodass der Krankheitsverlauf von COVID-19 weder schwerer noch milder ausfällt. Die Variante breitet sich in allen Altersgruppen aus, und Kinder tragen offenbar kein erhöhtes Risiko.
Aufgrund ihrer erhöhten Übertragbarkeit bei vergleichbar schwerem Krankheitsverlauf gibt die Variante erheblichen Grund zur Besorgnis: denn ohne verschärfte Kontrollmaßnahmen zur Verlangsamung der Ausbreitung werden die bereits überlasteten Gesundheitseinrichtungen noch stärker unter Druck geraten.
Diese alarmierende Situation zwingt uns, kurzfristig mehr zu tun als bisher und die gesundheitlichen und sozialen Maßnahmen zu intensivieren, um die steile vertikale Kurve in manchen Ländern abflachen zu können. Um die Übertragung zu reduzieren, unsere COVID-19-Stationen zu entlasten und Menschenleben zu retten, gilt es, die grundlegenden Maßnahmen zu intensivieren, mit denen wir alle vertraut sind: Einhaltung von Maskenpflicht und Abstandsgeboten, Begrenzung von Personenzahlen und regelmäßiges Händewaschen, in Verbindung mit ausreichenden Test- und Rückverfolgungssystemen, einer angemessenen Unterstützung für Personen in Quarantäne und Isolation und in zunehmendem Maße mit Impfungen – wenn wir alle mitmachen, wird es funktionieren.
Wir empfehlen den Ländern weiterhin, die genomische Sequenzierung von Isolaten von SARS-CoV-2 auszuweiten und ihre Daten zu veröffentlichen. Solidarität in der Wissenschaft ist entscheidend, wenn wir unsere Kräfte mobilisieren, um die Ausbreitung des Virus wirksamer unter Kontrolle zu bringen.
Heute wird der IGV-Notfallausschuss wieder tagen und dabei Maßnahmen in Bezug auf die neuen Varianten des Virus erörtern. Wir werden Sie weiter über diesen Prozess auf dem Laufenden halten.
Angesichts dieser neuen Herausforderungen verfolgen wir aufmerksam Berichte über den Beginn der Impfmaßnahmen gegen COVID-19.
95% der weltweit bisher verabreichten 23,5 Mio. Dosen Impfstoff entfielen auf nur zehn Länder. Ich kann Ihnen versichern, dass die WHO und ihre Partnerorganisationen sich nach Kräften darum bemühen, jedem Land Zugang zu Impfstoffen zu verschaffen, und so ist es auch erforderlich, dass jedes Land, das in der Lage ist, seinen Beitrag zu leisten und einen chancengleichen Zugang zu den Impfstoffen und deren Anwendung zu unterstützen, dies auch tut. Als Kollektiv können wir es uns einfach nicht leisten, dass ein Land oder eine Bevölkerungsgruppe auf der Strecke bleibt.
Bisher haben 31 Länder in der Europäischen Region der WHO mit ihren Impfkampagnen begonnen. Doch angesichts der begrenzten Impfstoffvorräte und der zunehmenden Belastung für unsere Gesundheitssysteme kommt es entscheidend darauf an, bei der Impfung unserem Gesundheitspersonal und den am stärksten gefährdeten Gruppen in der Gesellschaft Vorrang einzuräumen. Ihr Mut und ihre Aufopferungsbereitschaft in den vergangenen Monaten dürfen nicht in Vergessenheit geraten; nun ist es an der Zeit, das an vorderster Linie eingesetzte Personal mit den neuen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, zu schützen.
Ob bei der Zuteilung von Impfstoffen und der Prioritätensetzung, beim Zugang zu medizinischen Gütern und Tests oder bei gesundheitlichen Maßnahmen und Konzepten zur Bekämpfung der Pandemie: es ist unsere Pflicht, unsere Entscheidungen aufgrund der zentralen Werte der Menschheit zu treffen: Solidarität, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit. Dies ist der einzige Weg, der uns aus dieser Zeit der Ungewissheit herausführt, denn niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.