Ansprache von Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, WHO-Generaldirektor, auf der 70. Tagung des WHO Regionalkomitees für Europa

Grundsatzrede Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor, WHO

14-09-2020

Eure Königliche Hoheit Kronprinzessin Mary,

sehr geehrter Herr Magnus Heunicke, Präsident der 69. Tagung des Regionalkomitees,

sehr geehrter Dr. Alexey Tsoy, Präsident der 70. Tagung des Regionalkomitees,

sehr geehrte Damen und Herren Minister, sehr geehrte Delegationsleiter,

sehr geehrter Herr Regionaldirektor Dr. Hans Kluge,

sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde!

Es ist mir eine große Ehre, auch in diesem Jahr wieder zu Ihnen sprechen zu können, wenn auch nur in virtueller Form.

Virtuelle Tagungen sind während der Pandemie für viele Organisationen, und auch für die WHO, zu einem wichtigen Instrument geworden. Sie haben uns ermöglicht, die globale Reaktion zu koordinieren, und zwar mit einer deutlich niedrigeren CO2 Bilanz als das Fliegen.

Doch ich muss zugeben, dass mir die persönliche Interaktion mit Ihnen allen sehr fehlt. Ich freue mich darauf, Sie bald wieder persönlich treffen zu können.

Doch unsere Tagung am heutigen Tag in virtueller Form abhalten zu müssen, ist ein geringer Preis im Vergleich zu dem Leid, das so viele Menschen in aller Welt und auch in Ihrer Region erleiden.

Zu Beginn möchte ich daher jedem einzelnen Mitgliedstaat mein tiefstes Beileid aussprechen für den großen Verlust an Menschenleben, den Sie alle erlitten haben.

Ich möchte dem Gesundheitspersonal in Ihren Ländern meinen größten Dank und meine tiefste Bewunderung aussprechen. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet.

Und ich möchte hiermit die Verpflichtung eingehen, dass die WHO auch weiterhin eng mit Ihnen zusammenarbeiten und Sie unterstützen wird, um diese Pandemie zu beenden und einen Wiederaufbau zum Besseren zu erreichen.

Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um den vielen Mitgliedstaaten in der Europäischen Region für ihre Unterstützung und Solidarität während dieser Krise zu danken.

Und auch dir, mein Bruder Hans, möchte ich für deine Führungsstärke während dieser wichtigen Zeit danken.

Dein erstes Jahr als Regionaldirektor ist ganz anders verlaufen, als du es erwartet hast, doch du bist gleich mit voller Kraft durchgestartet und hast bereits so viel erreicht in diesen letzten Monaten.

Wir haben den Verlust von Menschenleben und Existenzen zu beklagen, die Weltwirtschaft befindet sich in einer Rezession und es wurden soziale und politische Missstände aufgedeckt.

Die Europäische Region bildet hier keine Ausnahme. Viele Ihrer Länder zählen zu den am stärksten von der Pandemie getroffenen.

Und wir haben es noch lange nicht überstanden.

Die durchschnittliche tägliche Fallzahl in der Region ist derzeit höher als sie es während des ersten Höhepunkts der Pandemie im März war.
Glücklicherweise scheint sich die Zahl der Todesfälle auf einem relativ niedrigen Niveau zu halten – zumindest vorerst.

Doch jeder Todesfall ist eine Tragödie, und es gibt keinen Anlass zur Selbstzufriedenheit. Wenn wir die Übertragung nicht unter Kontrolle halten, werden noch mehr Menschen ihr Leben verlieren, und es besteht das Risiko, dass die sogenannten Lockdown-Maßnahmen wieder eingeführt werden müssen, die so folgenschwer waren.

Seit Beginn der Pandemie war die WHO darum bemüht, die Länder auf vielfältige Weise zu unterstützen, auf allen drei Ebenen der Organisation.
Wir haben Missionen in verschiedene Länder der Europäischen Region entsandt.

Wir haben persönliche Schutzausrüstung und Diagnostika im Wert von mehr als 330 Mio. US-$ in 165 Länder geliefert, darunter viele europäische Mitgliedstaaten.

Über die Lernplattform OpenWHO.org wurden 11 mehrsprachige Online-Schulungen angeboten, die nahezu 200 000 Teilnehmer aus der Europäischen Region verzeichneten.

Und über den beschleunigten Zugang zu Instrumenten für die Bekämpfung von COVID-19 sowie COVAX, die Initiative für den globalen Zugang zu COVID-19-Impfstoffen, setzen wir uns dafür ein zu gewährleisten, dass, sobald sich ein Impfstoff als sicher und wirksam erwiesen hat, dieser für alle Länder in der Region chancengleich zugänglich sein wird.

Die COVAX-Initiative gewährleistet den Zugang der Länder zum weltweit größten Impfstoffportfolio. Sobald uns ein Impfstoff zur Verfügung steht, wird der Vorrat zunächst begrenzt sein, und der Impfung von unentbehrlichem Personal und den am stärksten gefährdeten Menschen, darunter ältere Menschen und jene mit Vorerkrankungen, muss Vorrang eingeräumt werden.

In unserer vernetzten Welt wird das Virus weitere Opfer fordern und sich die ökonomische Erholung weltweit verzögern, wenn die Menschen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen bei der Verteilung von Impfungen zu kurz kommen.

Ich danke den vielen Mitgliedstaaten, die ihr Interesse bekundet haben, sich der COVAX-Initiative anzuschließen, und ich fordere all jene, die sich ihr bisher noch nicht angeschlossen haben, nachdrücklich dazu auf, dies bis diesen Freitag nachzuholen.

Doch wir müssen nicht auf die Verfügbarkeit eines Impfstoffs warten. Wir müssen jene Instrumente nutzen, die uns zur Verfügung stehen.

Die WHO fordert die Länder eindringlich dazu auf, sich auf vier wesentliche Prioritäten zu konzentrieren:

  • Erstens: verstärkende Ereignisse zu verhindern. Überall auf der Welt waren explosive Ausbrüche mit Menschenansammlungen in Stadien, Nachtclubs, Gebetsstätten und bei anderen Massenveranstaltungen verbunden.
  • Zweitens müssen wir Bedürftige schützen, Menschenleben retten und die Belastung der Gesundheitssysteme durch schwerkranke und lebensbedrohlich erkrankte Patienten reduzieren.
  • Drittens müssen wir die Gemeinschaften dazu erziehen und befähigen, sich selbst und andere zu schützen. Räumliche Distanz, Hand- und Atemhygiene sowie Schutzmasken können dabei behilflich sein, die Übertragung einzudämmen und Leben zu retten – nicht für sich, sondern zusammen genommen.
  • Und die vierte Priorität sollte sein, sich weiterhin an die Grundlagen der öffentlichen Gesundheit zu halten, d. h. Krankheitsfälle aufdecken, isolieren, testen und versorgen und ihre Kontakte ermitteln und unter Quarantäne stellen.

Jene Länder, die diese vier Dinge beherzigen und sie erfolgreich umsetzen, sind in der Lage, ihre Gesellschaft, Wirtschaft und Grenzen auf sichere Weise wieder zu öffnen.

Exzellenzen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde!

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Pandemie einen Rückschlag für unsere Bemühungen um die Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung und der dreifachen Milliarden-Zielmarke des Allgemeinen Arbeitsprogramms darstellt.

Doch das bedeutet nicht, dass wir aufgeben sollten. Ganz im Gegenteil! Wir müssen diesen Moment nutzen, um unser Hauptaugenmerk erneut auf ihre Verwirklichung zu richten und entsprechendes Engagement zu zeigen.

Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie eng die einzelnen Milliarden-Zielmarken miteinander verknüpft sind.

Gesundheit und Wohlbefinden, eine allgemeine Gesundheitsversorgung und Gesundheitssicherheit stellen die Beine eines dreibeinigen Hockers dar, die für soziale, wirtschaftliche und politische Stabilität sorgen.

Ich begrüße das Europäische Arbeitsprogramm, das Ihnen im Rahmen dieser Tagung zur Prüfung vorgelegt wird, und seine enge Verknüpfung mit dem Allgemeinen Arbeitsprogramm.

Diese Agenda hat vor dem Hintergrund von COVID-19 sogar noch größere Bedeutung.

Die Schwerpunktlegung auf eine gesunde Bevölkerung ist von entscheidender Bedeutung, um die Menschen gesund zu halten und Krankenhausaufenthalten vorzubeugen, indem an den Hauptursachen von Krankheit angesetzt wird, in der Luft, die die Menschen atmen, in den Lebensmitteln, die sie verzehren, in dem Wasser, das sie trinken und in den Umfeldern, in denen sie leben.

Die Pandemie hat uns das empfindliche Gleichgewicht zwischen den Menschen und unserem Planeten vor Augen geführt, eine Beziehung, die es durch einen einheitlichen Gesundheitsansatz zu pflegen gilt.

Wenn die Menschen auf Gesundheitsangebote angewiesen sind, ist es die Pflicht der Länder zu gewährleisten, dass diese Angebote zugänglich, bezahlbar und von hoher Qualität sind.

Eine allgemeine Gesundheitsversorgung ist das Ziel, dem sich alle Länder auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen im letzten Jahr verschrieben haben, und zwar auf der Grundlage einer starken primären Gesundheitsversorgung.

Und während viele Länder in ihre militärischen Kapazitäten für den Konfliktfall investieren, müssen sie ebenso in robuste Kapazitäten zum Schutz der öffentlichen Gesundheit investieren, um im Fall von Krankheitsausbrüchen vorbereitet zu sein und diese verhindern, erkennen und schnell auf sie reagieren zu können.

Die Pandemie erteilt uns allen einige schmerzhafte Lektionen.

Ich begrüße die Gründung der Paneuropäischen Kommission für Gesundheit und nachhaltige Entwicklung, die Lehren aus der Art und Weise ziehen soll, wie die Gesundheitssysteme verschiedener Länder mit der COVID-19-Pandemie umgegangen sind, und die Empfehlungen zu Investitionen und Reformen zur Verbesserung der Widerstandsfähigkeit von Gesundheits- und Sozialsystemen aussprechen soll.
Ich gratuliere dir, Hans, zu dieser Initiative und ich möchte Prof. Mario Monti und den anderen ehrenwerten Mitgliedern dieser Kommission meinen Dank aussprechen.

Ich ermuntere die Kommission dazu, mit den anderen Mechanismen zu kommunizieren, die zur Evaluation der internationalen Reaktion auf die Pandemie ins Leben gerufen wurden, darunter etwa die Unabhängige Kommission für Pandemievorsorge und -bekämpfung und der Prüfungsausschuss für die Internationalen Gesundheitsvorschriften.

In den kommenden Monaten wird es viele Bewertungen, Berichte und Empfehlungen zur Pandemie geben, so wie es auch bei früheren gesundheitlichen Notlagen der Fall war.

Die Welt ist gut darin, Bewertungen, Berichte und Empfehlungen zu verfassen. Wir sind jedoch nicht so gut darin, entsprechend zu handeln.

Welche Lehren auch immer dieses Mal zu ziehen sind, wir müssen aus ihnen lernen.

Welche Veränderungen auch immer herbeizuführen sind, wir müssen sie durchsetzen.

Welche Fehler auch immer begangen worden sein mögen, wir alle müssen die Demut beweisen, zu ihnen zu stehen.

Mit dem Finger auf andere zu zeigen, macht die Welt nicht sicherer. Durch Schuldzuweisungen lässt sich kein einziges Leben retten.

Nur gemeinsam, in Demut und Solidarität, können wir gewährleisten, dass eine Pandemie diesen Ausmaßes und dieser Schwere sich nie wieder ereignet.

Exzellenzen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde!

Auch während unserer Reaktion auf die Pandemie setzen wir die Umgestaltung der WHO fort, um Ihnen besser dienen zu können.

Durch unser kürzlich ins Leben gerufenes spezielles Programm zur Förderung der primären Gesundheitsversorgung werden wir uns gemeinsam mit Ihnen um die Stärkung des Fundaments der Gesundheitssysteme bemühen.

Durch unsere neue Abteilung für die Notfallvorsorge werden wir Sie dabei unterstützen, Notlagen zu verhindern, auf sie zu reagieren und ihre Folgen einzudämmen.

Durch das Büro des Leitenden Wissenschaftlers und unsere Abteilung für Daten, Analytik und Ergebniswirkung werden wir die Erkenntnisse und Instrumente liefern, die Sie benötigen, um Ihre Informationssysteme zu stärken und in der Lage zu sein, die besten Entscheidungen für die größtmögliche Wirkung zu treffen.

Und durch die neue WHO-Akademie werden wir Präsenz- und Online-Schulungen anbieten, um Gesundheitsfachkräfte dazu zu befähigen, Fortschritte in der medizinischen Versorgung und bei Praktiken für Patienten und Gemeinschaften zu beschleunigen. Die Akademie hat ihren Betrieb bereits aufgenommen und wird von uns auch im Kampf gegen die Pandemie genutzt.

Meine Brüder und Schwestern,

diese Pandemie wird ein Ende finden. Doch sie wird nicht die letzte sein.

Wir haben eine gemeinsame Verantwortung gegenüber unseren Kindern und zukünftigen Generationen, die Welt besser auf die nächste Pandemie vorzubereiten.

Noch nie stand so viel auf dem Spiel. Und nie war der Preis höher: eine gesündere, sicherere, gerechtere und nachhaltigere Welt.

I thank you. Vielen Dank. Merci beaucoup. Spasiba. Muchas gracias.