Impfung auf die Bedürfnisse gefährdeter Gruppen ausrichten

WHO/Emilia Tontcheva

Impfprogramme sind nicht immer dafür gerüstet, Untergruppen konkret zu bestimmen und Kampagnen und Angebote auf die Bedürfnisse und Wünsche dieser Untergruppen auszurichten. Dagegen hat das Regionalbüro Instrumentarium zusammengestellt, das in einem Projekt in Zusammenarbeit mit dem bulgarischen Gesundheitsministerium, dem nationalen Zentrum für infektiöse und parasitäre Erkrankungen und der Zivilgesellschaft erprobt werden soll.

Das Projekt soll verschiedene Ansätze prüfen, wie Impfangebote an einzigartige Bedürfnisse gefährdeter Gruppen so angepasst werden können, dass die Eltern ihre Kinder gemäß dem nationalen Impfschema impfen lassen. Während eines ersten Besuchs im Mai traf ein Team des Regionalbüros auf bulgarische Ansprechpartner und Akteure und begann damit, marginalisierte Bevölkerungsgruppen und Roma-Gemeinschaften ausfindig zu machen, die von durch Impfung vermeidbaren Krankheiten bedroht sind.

Dr. Angel Kunchev, Leitender staatlicher Gesundheitsinspektor, unterstützt das Projekt seit den Anfängen im Dezember 2010 mit Leib und Seele. „Wir möchten die Methode ausprobieren, sind ungeduldig auf die erhofften Ergebnisse und stolz, sie als erstes Land in einem Impfprogramm zu erproben“, sagte er.

Der Pilotversuch soll sechs Monate dauern. Das Regionalbüro hofft das Instrumentarium den anderen Mitgliedstaaten Anfang 2013 anbieten zu können.

Impfung gefährdeter und schwacher Bevölkerungsgruppen in Bulgarien

Nadezhda (Hoffnung) heißt eine der größten Ansiedlungen von Roma in Bulgarien und macht 15% der Einwohnerschaft von Slivengrad aus, der achtgrößten Stadt des Landes. Die 20 000 Bewohner von Nadezhda wohnen auf einem Areal, das nicht größer ist als ein Dutzend Fußballfelder. Vorurteile und Misstrauen verschärfen die Wirkung von schlechten sanitären und hygienischen Verhältnissen und fehlenden öffentlichen Angeboten, hierunter Gesundheitseinrichtungen.

Im Zeitraum 2009–2010 führte ein großer Masernausbruch in Bulgarien gerade in Nadezhda zu vielen Erkrankungen und Todesfällen. Der Ausbruch traf diese und ähnliche Gemeinden wegen ihrer geringen Durchimpfung am stärksten. Trotz hervorragender Impfkampagnen zur Beendigung des Ausbruchs, liegt die Impfrate für Masern, Diphtherie, Poliomyelitis und Röteln in Nadezhda unter dem Landesdurchschnitt.

„Eine unserer größten Herausforderungen bestand bisher darin, die Gesundheitsinterventionen auf die einzelnen Empfängergruppen auszurichten. Hier in Bulgarien erkennen wir an, dass das Instrumentarium uns helfen kann, die im Aktionsplan für die Integration der Roma gesetzten Ziele zu erreichen – insbesondere die Verbesserung der medizinischen Versorgung neugeborener und vorschulpflichtiger Kinder,“ sagte Emilia Tontcheva, Leiterin des WHO-Länderbüros in Bulgarien.

Verhaltensbezogenes Instrumentarium des Regionalbüros

Das neue Instrumentarium soll den Ländern helfen Beweggründe, Hintergründe (Angebotsseite) und Faktoren der Fähigkeit zu verstehen, welche das Impfverhalten gefährdeter und schwacher Bevölkerungsgruppen beeinflussen. Dazu zählen:

· Anleitungen zur Grundlagenforschung,

· gesellschaftliche und verhaltensbezogene Rahmenbedingungen, die auf Motive und Barrieren der Zielgruppen im Verhältnis zum Impfen untersucht werden,

· eine Sammlung weltweit bewährter Praktiken und Erfahrungen aus Impfprogrammen.

Mitgliedstaaten, die das Instrumentarium übernehmen, werden Schulungen zur Erstellung und Unterteilung von Profilen der gefährdeten Gruppen und zur angemessenen Reaktion auf Umstände sowie gesellschaftliche und verhaltensbezogene Barrieren sowie kommunikative und mediale Präferenzen angeboten.

Impfproblematik

Viele Länder in der Europäischen Region der WHO stehen vor ähnlichen Herausforderungen, wie das bulgarische Impfprogramm in Bezug auf die Erfüllung der Bedürfnisse von Gemeinden wie Nadezhda.

Das Versagen von Einrichtungen der primären Gesundheitsversorgung, die Stigmatisierung und die Risikowahrnehmung wirken sich alle negativ auf die Chancengleichheit aus (in Bezug auf den Zugang zu hochwertiger Gesundheitsversorgung). Das wiederum hat Folgen für die Inzidenz von durch Impfung vermeidbaren Krankheiten wie Masern. 2010 erkannte der Strategische Beirat der WHO für Immunisierungsfragen (SAGE), dass die Europäische Region ohne Arbeit für eine Verhaltensänderung und eine größere Nachfrage nach Impfungen ihr Ziel der Eliminierung von Masern und Röteln bis 2015 nicht erreichen wird.

Die Aufforderung zur Impfung oder Aufklärung allein wird aber nicht zur erwarteten Handlung führen, solange die Impfprogramme nicht berücksichtigen, ob die Menschen einen Nutzen von der Impfung erwarten. Durch einen am Nutzer ausgerichteten Ansatz vergleichbar dem sozialen Marketing kann ein Programm die Zielgruppe besser verstehen und daher angemessener und wirksamer handeln.

Es gibt viele Gründe, warum die Menschen sich und ihre Kinder nicht impfen lassen. Diese reichen von Gleichgültigkeit, fehlendem Zugang, Bequemlichkeit bis zu fehlendem Vertrauen in die Impfstoffe und die sie anbietenden Einrichtungen. In der ebenso vielschichtigen wie vielfältigen Europäischen Region muss jedes Land diese Gründe genau erkennen, individuelle Antworten geben sowie Botschaften und Impfangebote darauf so abstellen können, dass die Bedürfnisse der gefährdeten Gruppen erfüllt werden. Das Instrumentarium soll den Ländern helfen, diese Fähigkeit zu entwickeln und zu stärken, wobei das Projekt in Bulgarien die Wirksamkeit erstmalig erprobt.