Erklärung – Europäische Region der WHO: COVID-19-Fallinzidenz steigt, Zahl der Todesfälle nähert sich der Eine-Million-Marke
Presseerklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europe
18. März 2021
Vergangene Woche war es ein Jahr her, seit die WHO erklärte, dass die am 30. Januar 2020 ausgerufene gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite die erste je von einem Coronavirus verursachte Pandemie darstellt.
Seitdem hat es allein in unserer Region fast 42 Millionen Fälle gegeben, weltweit sind es über 120 Millionen. Doch wir haben auch gewaltige wissenschaftliche Durchbrüche und die Einführung wirksamer Instrumente erlebt, deren Anwendung uns Macht über das Virus verleiht.
Die Macht des Kollektivs. Der Heroismus unseres Einsatzpersonals. Wenn ich auf die vergangenen zwölf Monate zurückblicke, sehe ich die bemerkenswerten Eigenschaften, die wir alle an den Tag gelegt haben, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Letztendlich retten wir mit unserem Verhalten Menschenleben.
Doch die Gefahr ist noch unverkennbar und ungebrochen.
Am akutesten ist die Situation gerade in Teilen unserer Region, die in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 die Krankheit erfolgreich bekämpft hatten. So gehören die Inzidenzraten und die Zahl der Krankenhauseinweisungen und Todesfälle in den Ländern Zentraleuropas, des Balkans und des Baltikums zu den höchsten weltweit.
Die Fallinzidenz steigt weiter und bewegt sich in Richtung Osten. Wir beobachten nun seit drei Wochen einen kontinuierlichen Anstieg der COVID-19-Fallzahlen, und allein letzte Woche wurden in der Europäischen Region über 1,2 Millionen neue Fälle gemeldet.
Vergangene Woche überschritt die Zahl der Todesfälle in der Europäischen Region die Marke von 900 000. Wöchentlich verlieren wegen des Virus mehr als 20 000 Menschen in unserer Region ihr Leben. Die Zahl der Menschen in Europa, die an COVID-19 sterben, ist jetzt höher als um dieselbe Zeit im vergangenen Jahr – dies verdeutlicht, wie stark sich das Virus ausgebreitet hat.
Wir warten noch auf das Einsetzen von Wirkung und Nutzen der Impfungen, aber ich kann Ihnen versichern, dass sie sich einstellen werden. Doch bis dahin müssen wir weiter konsequent an dem gesamten Spektrum der Instrumente festhalten, das uns zur Verfügung steht.
48 der 53 Länder bzw. Gebiete der Europäischen Region haben das Auftreten der besorgniserregenden Variante B.1.1.7 gemeldet, die sich allmählich innerhalb unserer Region durchsetzt. Trotz dieser sich schneller ausbreitenden Variante haben einige Länder – u. a. Dänemark, Irland, Portugal, Spanien und das Vereinigte Königreich – mit gesundheitlichen und sozialen Maßnahmen die Übertragung auf ein niedriges Niveau gesenkt, das es nun aufrechtzuerhalten gilt.
Fünf Länder der Europäischen Region haben Impfstoffe von der COVAX-Fazilität erhalten, deren übergeordnete Maxime – ein gerechter und chancengleicher Zugang zu Impfstoffen – nun Realität wird. Die Kluft beim Zugang zu Impfstoffen in unserer Region verringert sich, doch es mangelt weiter an Chancengleichheit: So haben alle Länder mit hohem Volkseinkommen mit ihren Impfkampagnen begonnen, während dies nur in 60% der Länder mit niedrigem bis mittlerem Einkommen der Fall ist.
Mit aktuellem Stand haben 46 Länder der Europäischen Region insgesamt mehr als 107 Millionen Dosen Impfstoff verabreicht. In 45 Ländern sind 3% der Bevölkerung vollständig geimpft, und Daten aus 23 Ländern deuten darauf hin, dass 51% des Gesundheitspersonals mindestens eine Dosis erhalten haben.
27 Länder befinden sich aktuell in einem partiellen oder vollständigen Lockdown, während 21 ihre Beschränkungen allmählich lockern. Manche tun dies in der Annahme, dass sich aufgrund der wachsenden Zahl der Geimpften sofort eine Verbesserung der epidemiologischen Situation einstellen wird. Solche Annahmen sind noch verfrüht.
Lassen Sie sich nicht täuschen: Impfungen an sich sind – vor allem angesichts ihrer unterschiedlichen Inanspruchnahme in den einzelnen Ländern – kein Ersatz für gesundheitliche und soziale Maßnahmen.
Innerhalb unserer Region liegt die Durchimpfung je nach Land zwischen unter 1% und 44%, und es wäre auch noch eindeutig verfrüht, die Wirkung der Impfungen auf die Gesamtzahl der Krankenhauseinweisungen und Todesfälle infolge von COVID-19 bestimmen zu wollen. Dennoch sind die ersten Daten aus Israel, Schottland und dem übrigen Vereinigten Königreich in Verbindung mit der Effektivität der Impfstoffe von Pfizer/BioNTech und AstraZeneca in Bezug auf schwere Krankheitsverläufe vielversprechend und belegen, dass Menschenleben gerettet werden.
In dem Maße, in dem sich die Inanspruchnahme der Impfungen erhöht, wird auch ihre Wirkung zunehmend erkennbar, und Studien wie die genannten dienen der Politik als Orientierungshilfe und werden uns dabei helfen zu verstehen, wie die verschiedenen Impfstoffe in unsere Strategie passen. Wir begrüßen diese Studien, heben aber hervor, dass die verfügbaren Daten begrenzt und weitere Untersuchungen dringend notwendig sind.
Das WHO-Regionalbüro für Europa und das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten haben ein solides Protokoll für die Untersuchung der Effektivität von Impfstoffen in der Bevölkerung entwickelt, das aussagekräftige länderübergreifende Vergleiche von Ergebnissen ermöglichen soll.
Einige Länder in der Europäischen Region haben vorübergehend die Impfungen mit der Vakzine von AstraZeneca ausgesetzt. Dies geschah als Vorsichtsmaßnahme, nachdem mehrere Länder von seltenen Blutgerinnungsstörungen bei Geimpften berichtet hatten. Die Entdeckung, Untersuchung und Bewertung dieser Fälle zeugt von leistungsfähigen Surveillance- und Regulierungsmechanismen.
Bei Impfkampagnen gehört es zur Routine, auf potenzielle unerwünschte Ereignisse hinzuweisen. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Ereignisse durch die Impfung bedingt sind.
Venöse Thromboembolien stellen weltweit die dritthäufigste Herz-Kreislauf-Erkrankung dar. Sie treten in der Bevölkerung unabhängig von Impfungen auf. Die Impfung gegen COVID-19 verringert nicht die Zahl der Krankheits- oder Todesfälle aufgrund anderer Ursachen.
Nach aktuellem Stand wissen wir nicht, ob einige oder alle dieser Erkrankungen durch die Impfung oder durch andere zufällige Faktoren verursacht wurden. Die WHO bewertet derzeit die neuesten Sicherheitsdaten, und die Ergebnisse dieser Untersuchung werden umgehend veröffentlicht. Doch nach bisherigen Erkenntnissen überwiegen die Vorteile des Impfstoffs von AstraZeneca bei weitem seine Risiken; deshalb sollte er weiter verabreicht werden, um Menschenleben zu retten.
Impfstoffe funktionieren und werden uns letztendlich die Rückkehr in eine neue Normalität ermöglichen. Doch dazu müssen wir der Wissenschaft vertrauen und den Glauben an den unglaublichen Schutz wahren, den Impfungen gegen alle impfpräventablen Krankheiten und damit auch gegen COVID-19 bieten.
Inzwischen haben wir natürlich auch die Zukunft im Blick. In dieser Woche hat die Paneuropäische Kommission für Gesundheit und nachhaltige Entwicklung unter Vorsitz von Prof. Mario Monti einen Handlungsappell veröffentlicht, politische Prioritäten im Lichte von Pandemien zu überdenken, die entstandenen Risse zu schließen und an den Rahmenbedingungen anzusetzen, die die COVID-19-Pandemie ermöglicht haben. Dies trägt konkret dazu bei, Gesundheit zu einem Herzstück der Gesellschaft zu machen, die Vorbereitung auf künftige gesundheitliche Notlagen zu erleichtern und dafür zu sorgen, dass Gesundheit künftig nicht mehr als Randthema behandelt wird.
Schützen Sie sich. Vielen Dank.