Kristas Geschichte

 

„Als Jugendliche habe ich jahrelang unter Depressionen gelitten, ohne zu wissen, was mir fehlte. Nach und nach wuchs meine Traurigkeit, und ich verlor immer mehr den Mut. Von meiner Familie erhielt ich keinerlei Unterstützung; für sie war ich das schwarze Schaf, und sie gaben mir das Gefühl, eine Versagerin zu sein. Erst als ich professionelle Hilfe aufsuchte, erkannte ich, dass ich nicht faul, dumm oder eine Lügnerin war, sondern einfach unter Depressionen litt.

Die ersten Symptome einer Depression bemerkte ich im Alter von ungefähr zwölf Jahren. Bis dahin war ich ein fröhliches, lebhaftes und sensibles Kind mit guten Leistungen in der Schule und mit vielen Hobbys. Ich hatte großen Spaß am Tanzen und Theaterspielen, Lesen und Schreiben, und ich ging gern mit meinen Freunden ins Kino. Ich war gerne bei der Familie meiner besten Freundin, die sehr gut zu mir war. Wenn ich bei ihnen war, stellte ich mir vor, wie es sein könnte, in einer friedlichen Atmosphäre zu leben.

Bei uns zuhause war alles ganz anders. Ich wusste nie, was passieren oder welche Stimmung herrschen würde, wenn ich nach Hause kam. Mein Vater war Alkoholiker, und wir hatten in der Familie oft furchtbaren Streit, aber am nächsten Morgen taten meine Eltern immer so, als sei nichts geschehen. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass sie einfach nicht wussten, was sie tun sollten – oder wie sie mir helfen sollten.

Für die Trunksucht meines Vaters gab es durchaus Gründe. Er hatte schon früh beide Eltern verloren und keine glückliche Kindheit gehabt. Da meine Kindheit noch in die Zeit der Sowjetunion fiel, war die gesamte Gesellschaft auf Lügen und Halbwahrheiten aufgebaut; auch dies hatte wesentlichen Einfluss auf die Situation in unserer Familie. Mein Vater suchte im Alkohol Trost und wurde mit der Zeit Alkoholiker.

Nüchtern war er ein freundlicher und sensibler Mensch, doch wenn er betrunken war, veränderte sich seine Persönlichkeit. Meine Mutter war wie ein Schatten: immer da, doch emotional unzugänglich. Solange mein Vater nüchtern war, fühlte ich mich ihm von allen am nächsten. Wenn er aber trank, war ich weitgehend auf mich allein gestellt.

Nach außen hin blieb ich weiterhin das fröhliche Mädchen, doch in meinem Inneren begannen mich die Depressionen aufzufressen. Die Symptome kamen allmählich: wachsende Traurigkeit, zunehmende Überempfindlichkeit und Antriebslosigkeit. In der Schule lief es immer noch gut, aber ich erledigte meine Hausaufgaben mehr oder weniger mechanisch, durch Auswendiglernen. Meine wahren Gefühle verbarg ich. Mit den Jahren gewöhnte ich mich immer mehr an meine Traurigkeit, bis ich mich schließlich an keinen anderen Gemütszustand mehr erinnern konnte.

Dann, im Jahr 2001, als ich 25 Jahre alt war, zerbrach meine Welt. Eine Vielzahl komplizierter und schmerzlicher Ereignisse führten zusammen mit einer unglücklichen Liebesgeschichte zu einer kurzzeitigen Psychose, die mich in meinem Innersten erschütterte. All meine inneren Kräfte versagten, und ich wünschte, ich wäre nie geboren. Ich dachte an Selbstmord, doch mein eigener Organismus schützte mich: Statt meines Lebens verlor ich den Verstand.

Rückblickend kann ich heute sagen, dass mir aufgrund dieser Erfahrung klar wurde, was für ein schwerwiegendes Problem ich hatte. Als meine Eltern mir nicht helfen konnten, wandte ich mich instinktiv an das Psychiatrische Krankenhaus in Tallinn.

Es war der richtige Ort für mich. Dort fühlte ich mich sicherer als zuhause, und ich wurde fürsorglich und verständnisvoll behandelt. Das Personal schützte mich vor meiner Familie und gab mir das Gefühl, auf meiner Seite zu sein. Sie führten ein ernstes Gespräch mit meinen Eltern über die Situation bei uns zuhause, doch meine Eltern meinten, an meiner Krankheit sei ich selbst schuld und sie hätten damit nichts zu tun, und so änderte sich kaum etwas an meiner Lage. 

Glücklicherweise sprach ich aufgrund meiner Persönlichkeit schnell auf die Behandlung an, die aus einer Kombination aus Medikamenten und Psychotherapie bestand. Seitdem treffe ich mich regelmäßig mit einem Psychologen. Die Therapie bezahle ich selbst; ich sehe sie als Investition in meine Gesundheit und mein Wohlbefinden.

Heute ist mein Leben völlig verändert. Ich brauche keine Medikamente mehr und bin wieder ebenso fröhlich, aktiv und freundlich wie als Kind.

Ich spreche sehr offen über meine Erfahrungen und über meine Überzeugung, dass eine vollständige Genesung möglich ist, jedoch nur dann, wenn man die meiste Arbeit selbst leistet. 2002 kehrte ich in die Berufstätigkeit zurück, als zunächst teilzeit- und später vollzeitbeschäftigte Sekretärin im Psychiatriezentrum Tallinn. Ich erzählte meiner Chefin meine Geschichte und erhielt von ihr Unterstützung.

Seit 2002 bin ich an einer Reihe von Projekten im Bereich psychische Gesundheit beteiligt. Mein primäres Anliegen ist es, Jugendlichen zu helfen, die (wie in meinem Fall) zum ersten Mal mit psychischen Problemen zu tun haben. Als ich feststellte, dass diese Menschen in der Gesellschaft keine Unterstützung erhalten, gründete ich mit finanzieller Unterstützung des Hamlet Trust eine Selbsthilfegruppe, die junge Menschen bei der Rehabilitation und Genesung unterstützen soll. Das erste Treffen der Selbsthilfegruppe fand im April 2004 statt. Ich war sehr nervös, doch alles lief bestens ab. Heute genießt die Gruppe bei ihren Mitgliedern und unter Psychiatriefachkräften gleichermaßen einen guten Ruf und ist wahrscheinlich die aktivste und effektivste Selbsthilfegruppe im ganzen Land. Ab 2008 wird die Gruppe nicht mehr Projektstatus haben, sondern ein dauerhaftes Angebot des Psychiatriezentrums Tallinn unter meiner Leitung sein.

Dank meiner Tätigkeit im Bereich psychische Gesundheit konnte ich auch mein Hochschulstudium wieder aufnehmen. Ich hatte es im Alter von 20 Jahren wegen meiner unbehandelten Depression abgebrochen. Für mich war das damals ein schwerer Schlag, da ich schon immer ehrgeizig war, doch glücklicherweise habe ich nun eine zweite Chance. Im Juni 2006 erfuhr der Leiter der Privatschule für Psychiatrieberufe aus einem Zeitungsartikel über meinen Fall und war beeindruckt von meiner Arbeit auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit. Er rief mich an und fragte mich, ob ich dort studieren wollte, und ich sagte glücklich zu. Die Studiengebühren sind hoch, doch ich bekam sie erlassen. Im April werde ich mein Psychologie-Diplom erhalten.

Das Verhältnis zu meiner Familie hat sich nicht spürbar verbessert. Mein Vater ist 2002 gestorben. Mit meiner Mutter und meiner (um neun Jahre älteren) Schwester komme ich zwar aus, aber wir stehen einander nicht nahe. Ich glaube, sie verstehen bis heute nicht, welche Auswirkungen die bedrückende Atmosphäre bei uns zuhause auf meine Psyche hatte.

Dennoch kann ich mich glücklich schätzen, eine vollständige Genesung erlebt und mein altes Selbst wieder gefunden zu haben. Es war ein langer Weg, aber er war es wert.“