Tristano Ajmone (Italien)

Wenn ich mit den anderen in meiner Selbsthilfegruppe zusammen bin, habe ich das Gefühl, atmen zu können. Ich weiß nicht, wie ich mein Leben ohne sie bewältigen würde. Sie sind die Brücke, die meine Erfahrungen in der Psychiatrie mit meinem gegenwärtigen Leben verbindet. Ihre fürsorgliche Gesellschaft kittet den Bruch, der zwischen meiner Zeit der Zwangseinweisung in der Psychiatrie und meiner jetzigen Freiheit liegt. Sie lässt meine Wunden heilen.

Meine ersten Erfahrungen mit dem psychiatrischen System machte ich schon als Jugendlicher. Ich war damals mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, und das zuständige Gericht entschied, mich psychiatrisch untersuchen und von psychiatrischen und psychosozialen Einrichtungen überwachen zu lassen. Im Alter von 26 Jahren wurde ich nach einer außer Kontrolle geratenen Schlägerei wegen Mordversuchs verhaftet. Ich verspürte damals ein ungeheures Gefühl der Einsamkeit und des Verlassenseins, und mein ganzes Leben war aus den Fugen geraten. Kurz zuvor war ich geschieden worden, beruflich lief es auch nicht gut, und ich nahm oft LSD. Bei meiner Inhaftierung wurde ich wieder einer psychiatrischen Untersuchung unterzogen, die aus nur einem kurzen Gespräch mit einem Psychiater bestand. Aufgrund dieses Gesprächs erklärte er mich für nur „beschränkt einwilligungsfähig“; nach italienischem Recht bedeutet dies, dass die betreffende Person wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit nur beschränkt schuldfähig ist. Deshalb – und trotz der Tatsache, dass ich mich nach meiner Tat sofort der Polizei gestellt und meine Verantwortung zugegeben hatte – wurde meine Aussage vom Gericht als die Worte eines Geistesgestörten verworfen.

Und so setzte sich mein Abstieg in die Abgründe des psychiatrischen Systems fort: Jahrelang bewegte ich mich ständig zwischen Strafvollzug und Psychiatrie – eine lange Geschichte, die ich für eine Publikation der WNUSP und des Baput Trust ausführlich niedergeschrieben habe: http://www.camhindia.org/first_person_stories.html#p27).

Seit Wiedererlangung meiner Freiheit bin ich zum erbitterten Kritiker der Psychiatrie und zum Vorkämpfer für die Abschaffung der Zwangspsychiatrie und für die Ermächtigung der Patienten geworden. Inzwischen habe ich schon seit Jahren keine psychiatrischen Medikamente mehr genommen oder psychiatrische Behandlung erdulden müssen, doch habe ich den Kontakt zum psychiatrischen System aufrechterhalten. Denn ich bin überzeugt, dass es viele gute psychiatrische Fachkräfte gibt, die bereit sind, aus den Fehlern des Systems zu lernen und dieses mit Hilfe der Erfahrungen der Patienten zu verändern.

Als langjähriger Kritiker der Methoden und Grundsätze der Psychiatrie bin ich nun Präsident einer gemeinnützigen Organisation namens Italienisches Observatorium für psychische Gesundheit (OISM). Ich habe schon viele Internet-Aktionen sowie Konferenzen und Publikationen organisiert und mich immer nach Kräften bemüht, auf die Situation anderer Patienten und Organisationen für Psychiatrie-Patienten bzw. Psychiatrie-Erfahrene aufmerksam zu machen, um ein Netzwerk von Gleichen aufzubauen. So ist es mir gelungen, die Öffentlichkeit in Italien für die Problematik der Zwangspsychiatrie zu sensibilisieren und dabei genug Krach zu schlagen, dass die Psychiater die Stimme der Patienten kaum mehr ignorieren können.

Heute werde ich oft von Fachkräften aus der Psychiatrie eingeladen, in offiziellem oder informellem Rahmen über Fragen der Psychiatriepolitik zu sprechen und darüber zu diskutieren, wie die Behandlung patientengerechter gemacht werden kann. Einige Organisationen aus dem Bereich psychische Gesundheit ignorieren oder zensieren mich wegen meiner kritischen Sichtweise, doch eine wachsende Zahl von Fachkräften befassen sich ernsthaft mit meinen Ansichten und Erfahrungen und üben Druck auf ihre Vorgesetzten aus, mich und andere ehemalige Psychiatrie-Erfahrene in lokale Projekte einzubinden.

Am erfreulichsten ist es, wenn wir eingeladen werden, Neuankömmlinge im System, d. h. Menschen, die zum ersten Mal in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen werden, kennen zu lernen, um sie in unser lokales Netzwerk einzubinden. Die Chance, diesen Menschen, denen eine längerfristige Einweisung droht, in ihrer Not helfen zu können, hat sich für beide Seiten als sehr wertvoll erwiesen.

Persönlich habe ich die gesamte Zwangserfahrung mit dem psychiatrischen System als hochgradig entmenschlichend und entwürdigend empfunden. Ich habe jahrelang unter einem Zwangsregime gelebt, das mich nicht vor Verfolgung und Angst schützen konnte. Mir wurde während meiner Gefangenschaft das Recht auf Hungerstreik verwehrt, und ich wurde gezwungen, Drogen zu nehmen, was nach meiner Religion, dem Islam, verboten ist. Meine Odyssee durch eine Reihe von Haft- und Psychiatrieanstalten war völlig unfreiwillig.

So wurde ich beispielsweise, als ich mich im Staatsgefängnis Don Soria weigerte, Neuroleptika zu nehmen, in die psychiatrische Haftanstalt Reggio Emilia überstellt (ein Hochsicherheitsgefängnis für „Geisteskranke“), wo Häftlinge, die die Einnahme von Medikamenten verweigern, routinemäßig geschlagen und für längere Zeit an vier Punkten fixiert werden. Mir wurde ständig mit einer Verlängerung meiner Inhaftierung gedroht, falls ich mich weiter den Anweisungen der Ärzte widersetzte. Darüber hinaus wurde ich auch zur Teilnahme an Psychotherapiegesprächen gezwungen, bei denen alle Aussagen des Patienten an den Richter weitergeleitet werden, der dann entscheiden soll, ob der Patient wieder freigelassen oder ob sein Urteil um weitere sechs oder zwölf Monate verlängert werden soll.

Ebenso war es mit den Beschäftigten in der Psychiatrie. Jeder berichtete seinem Vorgesetzten in der „Befehlskette“, die von den Pflegern bis hin zu den Richtern reichte. Einmal erhielt ich in einer der Kliniken Einsicht in meine medizinische Akte, und als ich sah, wie alles, was ich getan oder gesagt hatte, darin minutiös vermerkt war, wurde mir bewusst, unter was für einer strengen Überwachung ich lebte.

Heute dagegen kann ich frei über meine Erfahrungen berichten, und das ist extrem wichtig für mich. Ich habe eine persönliche Website, auf der ich Fotos von mir und meine Geschichte in der Psychiatrie eingestellt habe, und ich gebe oft Fremden meine Visitenkarte und fordere sie auf, die Website zu besuchen (www.tristano.oism.info). Ich schäme mich in keiner Weise, über meine Erfahrungen zu sprechen, und diejenigen, die mir zuhören, sind oft weder ängstlich noch empört. Vielmehr stellen sie einfach fest, dass sie nur wenig über psychische Störungen und Psychiatrie wissen – nicht mehr als sie aus den Medien erfahren.

Ich glaube, dass das psychischen Leiden anhaftende Stigma nur dadurch überwunden werden kann, dass man zeigt, dass Erfahrungen mit dem psychiatrischen System an sich nichts Anrüchiges sind. Die Menschen müssen erkennen, dass es sinnlos ist, eine Person aufgrund einer Diagnose einzuschätzen, die oft nicht mehr als eine Momentaufnahme darstellt. Die Menschen verändern sich, aber Stigmata halten sich.

In Italien ist Diskriminierung aufgrund einer psychiatrischen Diagnose sehr weit verbreitet. Solange man nicht mit dem psychiatrischen System in Kontakt gekommen ist, kann man sich noch so eigenartig verhalten, ohne dass jemand nennenswert davon Notiz nimmt; sobald man aber als „Psychiatrie-Fall“ abgestempelt ist, beginnen die Leute einen zu meiden oder mit einer künstlichen Distanz zu behandeln, selbst wenn man sich vollkommen normal verhält.

Die schlimmste Art der Diskriminierung, die ich erfahren habe, kommt jedoch vom psychiatrischen System selbst. Die Pfleger und die weniger qualifizierten Fachkräfte gaben den Patienten durch ihr Verhalten im täglichen Umgang meist zu verstehen, dass sie sie für Gestörte hielten. Unabhängig davon, wie vernünftig man sich verhielt, bekam man immer denselben abwesenden, verständnislosen Gesichtsausdruck zu sehen, als ob das Personal unter dem Bann der Diagnose stünde und daher völlig unzugänglich wäre. So war es für mich wesentlich angenehmer, mich mit dem Reinigungspersonal oder den Gefängniswärtern (die Polizeibeamte waren) zu unterhalten als mit dem Pflegepersonal. Zumindest sahen sie mich als Mensch und nicht nur als wandelnde Diagnose.

Natürlich gab es auch Fachkräfte in der Psychiatrie, die den Menschen in mir sahen und mir wirklich helfen wollten, doch es waren, ehrlich gesagt, nur wenige. Rückblickend komme ich zum dem Schluss, dass es nicht darum geht, ob eine Person „gut“ oder „böse“ ist. Vielmehr halte ich das gesamte System für von Grund auf falsch, und jeder, der daran beteiligt ist, muss sich zwangsläufig an die entsprechenden Regeln und Rollen anpassen.

Trotz allem war mir das psychiatrische System gelegentlich auch von Nutzen. Ich bin immer noch in Kontakt mit meinem Psychiater, dem einzigen Menschen, der wirklich versteht, was ich durchgemacht habe, und der zufällig sehr verständnisvoll ist. Die örtlichen psychiatrischen Dienste haben mir auch Kontakt zu einer Patientenorganisation vermittelt, der mir inzwischen sehr wichtig ist. Seit meinem Beitritt hat sich für mich eine neue Welt aufgetan: eine Welt von Gleichen, die auf ihre Schwächen ebenso stolz sind wie auf ihre tiefe Menschlichkeit. Ich weiß nicht mehr, wie ich sonst mein Leben bewältigen würde.