Wissenschaft als Voraussetzung und Folge der Politik: der Brückenschlag

WHO-Symposion zur Agenda für Umwelt und Gesundheit in der Europäischen Region

Kopenhagen/Madrid, 20. Oktober 2008

Ist Politik eine direkte Folge verfügbarer Erkenntnisse? Kann die Forschung enger in die Entscheidungsfindung eingebunden werden? In welchen Phasen des politischen Prozesses ist die Forschung am wichtigsten und wie ist ihr Stellenwert im Verhältnis zu anderen Einflussfaktoren? Wie lassen sich politikrelevante Forschungsprioritäten festlegen? Welche Rolle spielen die verschiedenen Akteure? Wie gehen Politiker und Forscher mit dem Informationsbedarf in Zeiten der Ungewissheit um?

So lauten aktuelle zentrale Fragen zum Verhältnis von Politik und Wissenschaft. Sie werden den Kern der Erörterungen während der Zusammenkunft von Politikern und Forschern aus der gesamten Europäischen Region der WHO beim Internationalen gesundheitspolitischen Symposion über Forschung im Bereich Umwelt und Gesundheit ausmachen, das vom 20. bis 22. Oktober 2008 in Madrid, Spanien, stattfindet. Das WHO-Regionalbüro für Europa und das Instituto de Salud Carlos III des spanischen Ministeriums für Wissenschaft und Innovation veranstalten die Tagung in Zusammenarbeit mit der Generaldirektion Forschung der Europäischen Kommission. Das Ministerium für Gesundheit und Verbraucherangelegenheiten ist Gastgeber des Symposions.

„Die Geschichte der Umweltkrisen und ihrer Folgen hat uns gelehrt, dass wir die Wissenschaft besser als ein Instrument zur Unterstützung der Politikgestaltung nutzen müssen. Die gesundheitlichen Folgen etwa im Zusammenhang mit dem Toxischen-Öl-Syndrom, BSE [Bovine Spongiforme Encephalopathie] und aktuell dem Klimawandel sind nun so deutlich, dass die politische Elite operationale Forschungsergebnisse benötigt, die ihnen das Erkennen der wirksamsten Maßnahmen zur Verringerung der Risiken und Bewältigung der Gefahren für die öffentliche Gesundheit erlauben“, sagt der WHO-Regionaldirektor für Europa Dr. Marc Danzon. „Daher bringen wir hier in Madrid Sachverständige aus der Forschung im Bereich von Umwelt und Gesundheit und wichtige Entscheidungsträger aus der Europäischen Region an einen Tisch.“ Auf dem Symposion werden die Wissenschaftler und Politiker Berichte aus der aktuellen Forschung hören, selbst alternative Vorgehensweisen erörtern und sich um gemeinsame Standpunkte für die Gestaltung der strategischen Planung zur Forschung im Bereich der öffentlichen Gesundheit bemühen.

„Die menschliche Gesundheit ist das letzte, aber wichtigste Opfer von Umweltkatastrophen“, sagt der spanische Minister für Gesundheit und Verbraucherangelegenheiten Dr. Bernat Soria Escoms. „Die Wissenschaft hat in den vergangenen zwei Jahrhunderten ein solides Fundament für eine revolutionäre Verbesserung der öffentlichen Gesundheit geschaffen. Doch heute brauchen wir angesichts der enormen Herausforderungen auf globaler Ebene und der beispiellosen technologischen Entwicklungen mehr denn je Erkenntnisse über deren jeweiligen gesundheitlichen Folgen. Als Politiker benötigen wir rechtzeitig realistische und relevante Erkenntnisse als Grundlage unserer Entscheidungen für einen andauernden Schutz der öffentlichen Gesundheit. Kann die Forschergemeinschaft das leisten?“

„Mobilisierung und rechtzeitige Reaktion werden durch einen kontinuierlichen Dialog mit der Forschergemeinschaft möglich. Wir müssen uns bemühen, aus den Forschungsergebnissen unterschiedlicher Disziplinen in der ganzen Welt die besten herauszudestillieren. Spanien unterstützt die Wissenschaft und fördert eine engere Verzahnung der Forschung im Bereich von öffentlicher Gesundheit und Umwelt. Da viele neue Fragen noch nicht erschöpfend zu beantworten sind, müssen wir die Ressourcen und intellektuellen Kapazitäten auf internationaler Ebene bündeln und uns gegenseitig in der Bewältigung der neuen Problemstellungen unterstützen. Unsere konzeptionelle Antwort sollte auf einer Linie mit den Verträgen der Europäischen Union (EU) liegen, wonach Umweltpolitik auf dem Vorsorgeprinzip beruhen soll,“ sagt hierzu die spanische Ministerin für Wissenschaft und Innovation Dr. Cristina Garmendia. „Die biomedizinische Forschung von heute ist ein gutes Beispiel für die Licht- und Schattenseiten des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts. Die meisten von uns sind zwar stolz über jeden hier investierten Euro, weil er die Chance zu einem längeren und gesünderen Leben bedeutet. Doch ist der gesellschaftliche Wert dieser Investitionen von gleichen Zugangschancen zur Gesundheitsversorgung abhängig. Wir stehen gegenüber der Gesellschaft in der Pflicht, sie mit der Wissenschaft aus einer anderen Perspektive heraus zu versöhnen. Wir haben einige Fortschritte in dieser Richtung erzielt; Wissenschaft und Technik sind heute zentrale Teile der politischen Agenda für die Zusammenarbeit mit den benachteiligten Gesellschaften und die Förderung ihrer sozioökonomischen Entwicklung.

Das Symposion wird ein wichtiges Forum für die Zusammenarbeit der Forschung im Bereich der öffentlichen Gesundheit mit Schwerpunkt auf Umwelt und Gesundheit sein.

„Die Europäische Union ist eine wichtige finanzielle Beitragsgeberin für Forschung und Entwicklung in Europa. Mit ihrem 7. Rahmenprogramm (1) stellt sie im Zeitraum 2007–2013 mehr als 50 Mrd. ? für die Forschung insgesamt zur Verfügung. Hiervon sind allein zwei Mrd. ? der Forschung im Umweltbereich gewidmet“, stellt der Generaldirektor der Generaldirektion Forschung José Manuel Silva Rodriguez fest. „In das Umweltthema eingebettet ist die Aktivität Umwelt und Gesundheit, aus der Maßnahmen des umweltbezogenen Gesundheitsschutzes finanziert werden. Der Umfang der Investitionen in das FP7 zeigt, welche Bedeutung die Europäische Kommission der Forschung allgemein beimisst, und spiegelt die großen Erwartungen der Gesellschaft an die Forschungsgemeinschaft wider. Hierin liegt eine einzigartige Gelegenheit und Herausforderung für die wissenschaftlichen Einrichtungen, das Tempo zu bestimmen.“

Während des Symposions werden auch die wichtigsten Erkenntnisse benannt, welche die Grundlage für die fünfte Ministerkonferenz der WHO zum Thema Umwelt und Gesundheit als nächsten Meilenstein im Prozess Umwelt und Gesundheit für die Europäische Region bilden sollen.

Das zweite Vorbereitungstreffen auf hoher Ebene für diese Konferenz wird direkt im Anschluss an das Symposion stattfinden (22. bis 24. Oktober). Es wird vom WHO-Regionalbüro für Europa und dem spanischen Ministerium für Gesundheit und Verbraucherangelegenheiten veranstaltet und den Ruf nach einem stärkeren Bekenntnis zum Schutz der Gesundheit von Kindern vor Umweltgefahren unter besonderer Berücksichtigung von zwei der vier Prioritätenbereiche der Region für Maßnahmen weiter verfolgen: saubere Luft und chemikalienfreie Umwelt (2). Die Tagung wird sich auch mit dem wichtigsten politischen Dokument der Konferenz befassen. Da es als gesichert gilt, dass bewährte Maßnahmen des gesundheitsbezogenen Umweltschutzes fast 1,8 Millionen Menschenleben pro Jahr in den 53 Mitgliedstaaten der Europäischen Region der WHO retten könnten, wird die Konferenz die Umsetzung der Verpflichtungen durch die Länder in den vergangenen fünf Jahren prüfen und die Fortschritte bewerten.

Auf dem Symposium diskutierte Fragen und Fallbeispiele

Das Toxische-Öl-Syndrom (TOS) ist einzigartig in der Medizingeschichte:

  • nie vor diesem Vorfall in Spanien 1981 wurde ein solches Ereignis gemeldet,
  • seither hat es kein vergleichbares Ereignis gegeben (Ausnahme vielleicht das Eosinophilie-/Myalgiesyndrom)

Die Hypothese, dass vergiftetes Speiseöl die Krankheit verursachte, wurde dank der Beobachtungen eines klugen Arztes aufgestellt. Die Entscheidung für gesundheitspolitische Maßnahmen auf der Grundlage limitierter, aber plausibler Erkenntnisse ist ein klassisches Beispiel für eine Epidemiologie, die im Dienste der Gesundheit der Bevölkerung steht. Obwohl 20 000 Menschen in den ersten drei Monaten des Ausbruchs betroffen waren und über 300 in den ersten sieben Monaten starben, stellte das nationale Gesundheitssystem unter Beweis, dass es sowohl die betroffenen Menschen versorgen als auch die notwendigen Untersuchungen über den Ursprung der Krankheit anstellen konnte.

Zwar zeigten Untersuchungen, dass die Betroffenen viele Wirkstoffgemische aufnahmen, doch wurde die chemisch für TOS letztlich verantwortliche Substanz trotz erheblicher Forschungsanstrengungen nicht gefunden. Dies ist nicht nur vom wissenschaftlichen Standpunkt aus unbefriedigend, sondern auch aus gesundheitspolitischer Perspektive beunruhigend, denn es bedeutet, dass eine ähnliche Lebensmittelvergiftung für die Zukunft nicht auszuschließen ist. Die spontane Zusammenarbeit zwischen der spanischen Regierung und dem WHO-Regionalbüro für Europa im Rahmen eines wissenschaftlichen TOS-Beirates war eine Voraussetzung für die Klärung vieler Einzelaspekte der Erkrankung. Eine Lehre aus dieser Erfahrung ist, wie wichtig es ist:

  • bei Krisen im Bereich der öffentlichen Gesundheit früh zu handeln, auch wenn die Wissenschaft noch nicht alles versteht;
  • multidisziplinär vorzugehen;
  • Betroffene an den Untersuchungen zu beteiligen.

TOS ist ein ideales Beispiel für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, die als Modell für die Handhabung von Lebensmittelsicherheit und künftigen Ausbrüchen noch unbekannter Krankheiten und Umweltkatastrophen dienen kann.

Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass Luftverschmutzung nahezu 350 000 vorzeitige Sterbefälle in der EU verursacht und damit die durchschnittliche Lebenserwartung um fast ein Jahr verkürzt. Eine politische Antwort auf diese Herausforderung ist schwierig, weil sie sowohl die Anwendung neuer Technologien (etwa Dieselfahrzeuge mit geringeren Emissionen) als auch die Schaffung neuer Bedingungen fordert, die einen Verhaltenswechsel der einzelnen Person zur Verringerung der Luftverschmutzung und der Belastung der Bevölkerung unterstützen können. Solche Aktionen sind zwar weniger spektakulär als Krisenmaßnahmen, unterstützen aber eine gesunde Entwicklung der Kinder und beugen der Erkrankung von Millionen von Erwachsenen vor. Die neulich verkündete EU-Richtlinie zur Luftgüte ist ein Beispiel für eine solche Lösung und stellt einen realistischen Kompromiss zwischen gesundheitlich hehren Zielen und ihrer praktischen Umsetzbarkeit in den Ländern dar. Unter Bezug hierauf wird auf dem Symposion erörtert werden, in welchem Umfang weitere Erkenntnisse zu den Wirkungen der Luftverschmutzung eine Regulierung begünstigen könnten, welche den gesundheitlichen Nutzen höher priorisiert.

Viele Herausforderungen treten im globalen Maßstab auf. Die Investitionen in ein besseres Verständnis des Umfangs der Risiken aufgrund des Klimawandels und der Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen haben sich zum Beispiel als rechtzeitig und wirksam erwiesen. Die Befunde der Zwischenstaatlichen Sachverständigengruppe über Klimaänderungen (IPCC) haben die nie zuvor gesehene Zunahme des Ausstoßes an Treibhausgasen und ihre Auswirkungen auf das Klimasystem und die menschliche Gesundheit unterstrichen und dokumentiert, welche Maßnahmen wirksam und wirtschaftlich machbar sein könnten. Die Sicherheit der Gesundheit ist heute in großer Gefahr und der Klimawandel könnte in den kommenden Jahren Millionen von Menschen zu Opfern machen. Die Gesundheitseffekte in der Region lassen sich bereits beobachten: 70 000 zusätzliche Sterbefälle durch Hitzewellen im Jahr 2003 und die veränderte geografische Ausbreitung einiger Vektoren sind erste Alarmzeichen. Die Teilnehmer des Symposions werden auch diskutieren, wie diese Erkenntnisse die Entscheidungsfindung dazu unterstützt haben, wie das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen sich in globalen, regionalen und nationalen Politiken widerspiegeln soll.

Außerdem wird das Symposion das Thema moderne Risikosteuerung beleuchten. Um die Umweltrisiken und -krisen zu bewältigen, benötigen die Regierungen nicht nur Erkenntnisse zu den Gesundheitseffekten der umweltbezogenen Determinanten, sondern auch die Kapazität zur Bewältigung einer ernsthaften Kontroverse über solche Erkenntnisse. Dies ist insbesondere dann dringlich, wenn eine Regierung schnell entscheiden muss, es aber noch keine gesicherten Erkenntnisse und zugleich/oder eine wachsende öffentliche Panikreaktion gibt. Die jüngsten Erfahrungen mit der Bewältigung von Risiken gesellschaftsnotwendiger Aktivitäten (wie der Entsorgung von Abfall und der Erzeugung und Handhabung von Energie und Chemikalien) haben gezeigt, wie schwierig dieses Unterfangen in Industrienationen sein kann. Es besteht heute ein allgemeiner Konsens darüber, dass Konzepte zur Handhabung umweltbedingter Risiken und Krisen entwickelt und in einem transparenten Entscheidungsprozess verabschiedet werden sollten, an dem die Öffentlichkeit und der Gesundheitssektor beteiligt sind.

Weitere Auskunft erteilen:

Presseinformationen:
Cristiana Salvi
Fachreferentin, Partnerschaften und Kontakte
WHO-Regionalbüro für Europa
Via Francesco Crispi 10, I-00187 Rom, Italien
Tel.: +39 06 4877543
Mobiltel.: +39 348 0192305
Fax: +39 06 4877599
E-Mail: csa@ecr.euro.who.int

Maite Perea
Leiterin der Presseabteilung, Ministerium für Gesundheit und
Verbraucherschutz
Paseo del Prado 18–20, E-28071 Madrid, Spanien
Tel.: +34 91 596 15 87 44
Fax: +34 91 596 15 86 78
E-Mail: mperea@msc.es

Fernando Torrecilla
Pressebüro, Ministerium für Wissenschaft und Neuerungen
Calle de Albacete 5, E-28027 Madrid, Spanien
Tel.: +34 91 603 75 09
E-Mail: prensa.investigacion@micinn.es

Weiterführende Literatur

(1) Die Rahmenprogramme der Europäischen Kommission sind Instrumente zur Finanzierung von Forschung in unterschiedlichen Bereichen, darunter Umwelt und Gesundheit. Seit dem 1. Januar 2007 läuft das Siebte Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Gemeinschaft (FP7). Mit ihm soll das Potenzial für wirtschaftliches Wachstum unterstützt und die Wettbewerbsfähigkeit Europas durch Investitionen in Wissen, Innovation und Humankapital gestärkt werden.

(2) Aktionsplan zur Verbesserung von Umwelt und Gesundheit der Kinder in der Europäischen Region der WHO (CEHAPE) [Website]. Kopenhagen, WHO-Regionalbüro für Europa, 2006.