Wie können Gesundheitssysteme ökonomische Krisen überstehen?

Neuer Bericht stellt Maßnahmen der Länder vor

Kopenhagen, 14. September 2009

Die aktuelle Wirtschaftskrise bedroht oder beeinträchtigt bereits den Lebensstandard von Millio-nen Menschen und Familien in der Europäischen Region der WHO sowie die Einnahmensgrund-lage für die Gesundheits- und Sozialsysteme, heißt es in einem neuen Bericht, der heute anläss-lich der Jahrestagung des Leitungsgremiums dieser Region, des WHO-Regionalkomitees für Eu-ropa, in Kopenhagen veröffentlicht wird.

Der vom WHO-Regionalbüro für Europa herausgegebene Bericht spürt Veränderungen in der Gesundheitspolitik nach und dokumentiert Anstrengungen der Länder in der Region zur Bewäl-tigung einer Krise, die wahrscheinlich zu signifikanten positiven wie negativen Veränderungen der gesellschaftlichen Normen, Lebensstile und gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen führen, aber insgesamt die gesundheitlichen Chancenungleichheiten verstärken wird.

Regierungen vor angespannter Haushaltslage

Die Analyse zeigt, dass die 2009 begonnenen Kürzungen der Staatshaushalte 2010 in vielen Ländern fortgesetzt werden, was sich unausweichlich auf die Ausgaben für Gesundheit auswirkt. Belgien, Estland, Lettland, Litauen, Portugal, die Slowakei, die Tschechische Republik und Un-garn haben bereits Kürzungen als Folge erwarteter Mindereinnahmen angekündigt. Haushalts-korrekturen werden auch in Bulgarien, Montenegro, der Republik Moldau, der Ukraine und Weißrussland erwartet.

Vor der Krise hatten einige Länder geplant, 2009 ihre Gesundheitsbudgets aufzustocken – Ar-menien zum Beispiel um ca. 20% – um einen besseren Sozialschutz bieten zu können. Ob diese Zuwächse jetzt beibehalten werden können, ist jedoch fraglich. Einige Länder im Westen der Region erwägen Optionen zur Bewältigung der schrumpfenden Einnahmen und vorhergesagten Defizite wie die Anhebung staatlicher Zuschüsse zu den Sozial- und Krankenversicherungen, die Umlegung regionaler Finanzierungsmechanismen und die Deckelung von Gesundheitskosten. Österreich und Deutschland etwa zahlen bereits staatliche Zuschüsse als Ausgleich für wachsen-de Defizite in den Sozial- und Krankenversicherungen.

Arme und benachteiligte Menschen leiden am stärksten in der Krise

Ein signifikanter Anteil der Bevölkerung in der Europäischen Region der WHO unterliegt nach-weislich einem Armutsrisiko: In der Europäischen Union sind das 16% der Bevölkerung. Einige Länder haben daher Pläne zum Schutz der am stärksten von der Krise betroffenen Gruppen ent-wickelt. Georgien etwa hat sein medizinisches Hilfsprogramm (staatlich finanzierte Coupons für die Krankenversicherung) auf zusätzliche 200 000 Menschen unterhalb der Armutsgrenze aus-geweitet und im Januar 2009 führte Slowenien eine staatlich finanzierte Krankenversicherung für benachteiligte Gruppen ein.

Die private Finanzierung erweist sich ebenfalls als wichtig für die Gesundheitsversorgung. Eine politische Initiative hat in Portugal die Absenkung der Benutzergebühren für Notfall- und Kran-kenhausversorgung angeregt. In den meisten Ländern in der Mitte und im Osten der Region wer-den sich die Rufe nach privater Zusatzfinanzierung wahrscheinlich mehren. Estland hat die Mehrwertsteuer auf Medikamente ausgedehnt, Ungarn überlegt eine Anhebung der Mehrwert- und Verbrauchssteuern und Kroatien plant erhöhte Nutzergebühren für Medikamente.

Investitionen in das Gesundheitspersonal

Die Mitgliedstaaten spüren eventuell noch nicht die Auswirkung des aktuellen Umbruchs auf ihr Gesundheitspersonal zur Gänze, da gewisse Konzepte noch vor der Krise umgesetzt wurden. Zum Beispiel meldete Deutschland für 2008 einen Anstieg der beschäftigten Gesundheitskräfte (33 000 Neueinstellungen bzw. +3,2 %), doch wird eine solche Einstellungspraxis jetzt zuneh-mend auf Widerstand treffen. Im Bereich der Entlohnung zeichnet der Bericht ein durchwachse-nes Bild. Bulgarien und Ungarn haben die Gehälter von Gesundheitspersonal in staatlichen Krankenhäusern eingefroren, dagegen haben Finnland und Griechenland (nach Tarifverträgen mit den Gewerkschaften) und Rumänien die Gehälter des Gesundheitspersonals erhöht, während Slowenien eine vor der Krise geplante Gehälteranhebung jetzt zwar noch durchführt, dadurch aber voraussichtlich das Budget der Krankenversicherung erheblich belastet.

Die Mobilität der Gesundheitsfachkräfte hat sich nach den Beobachtungen kaum verändert; ein-deutige Statistiken über die Auswirkung der Krise auf die Migration gibt es nicht. Dennoch wird davon ausgegangen, dass die aktuelle Lage vermutlich Veränderungen der Mobilitäts- und Migrationsmuster auslösen wird und Gesundheitsfachkräfte (und ihre Familien) in die Länder mit den besten Beschäftigungsaussichten ziehen oder aus Ländern mit verschlechterten Beschäf-tigungsmöglichkeiten in ihre Heimatländer zurückkehren werden.

Preise für medizinische Leistungen und Arzneimittel

Vielerorts hat die Krise zu einem Aufwärtstrend der Arzneimittelpreise geführt. Im Osten der Region sind die Länder wegen des Preisanstiegs für Gesundheitsleistungen und Arzneimittel stark besorgt. In der Ukraine etwa zogen die Preise für Gesundheitsleistungen in den ersten zwei Monaten im Jahr 2009 um über 30 % gegenüber dem Vergleichszeitraum in 2008 an; ähnliche Anstiege werden aus Kasachstan und der Republik Moldau gemeldet. In Litauen führte die Mehrwertsteueranhebung zu erhöhten Preisen.

In vielen Ländern wirken sich solche Preisanstiege beträchtlich auf die Privatausgaben für Ge-sundheit aus, u. a. in Albanien, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Griechenland, Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan und Zypern. Diese Anstiege können Patienten davon abhalten, medi-zinisch notwendige, aber unbezahlbare, Maßnahmen durchführen zu lassen. Auf längere Sicht kann die Nichtbefolgung von Therapieanweisungen zu einer größeren Prävalenz der Krankhei-ten, zu häufigeren Komplikationen chronischer Erkrankungen und zu ausgedehnter Medikamen-tenresistenz von Infektionskrankheiten führen. Bislang lässt sich jedoch kaum ein geändertes Nutzungsverhalten in Bezug auf Gesundheitsangebote und Arzneimittelverbrauch feststellen. Das ist insofern wichtig, als in den Ländern der Region mit mittlerem Volkseinkommen Direkt-zahlungen für Arzneimittel durch chronisch Kranke als größter Risikofaktor für einen finanziel-len Ruin durch Gesundheitsausgaben gelten.

Verteuern sich grundlegende Konsumgüter, können die Verbraucher zu einer geänderten Le-bensweise gezwungen sein und das kann positive wie negative Folgen haben. So wird etwa ein Anstieg des Verbrauchs von billigem Fast Food gemeldet, gleichzeitig lassen die Menschen aber auch das Auto häufiger stehen und benutzen öffentliche Verkehrsmittel und/oder bewegen sich mehr. Außerdem können steigende Arbeitslosigkeit, die Verschlechterung der Lebensbedingun-gen und der durch die Krise ausgelöste zusätzliche Stress auch zu weniger gesundheitsförderli-chen Lebensweisen oder zu riskanterem Verhalten wie Drogen- und Alkoholkonsum führen.

Die Perspektive der Europäischen Region der WHO

Im zurückliegenden Jahrzehnt hat das WHO-Regionalbüro für Europa mit den Mitgliedstaaten daran gearbeitet, die Gesundheit der Bürger durch stärkere Gesundheitssysteme zu verbessern. Diese Arbeit muss trotz der gegenwärtigen wirtschaftlichen Talfahrt fortgesetzt werden: Kurz-fristige Reaktionen und aktuelle Erfordernisse dürfen keinen negativen Effekt auf die künftige Gesundheit in der Region haben.

„Wir haben aus früheren Krisen gelernt, dass die Gesundheitsergebnisse und das finanzielle Ri-siko durch Gesundheitsprobleme mit veränderten Mittelzusagen für die Gesundheitssysteme (fi-nanzielle und personelle Ressourcen, Arzneimittel und medizinisches Gerät, Betriebskosten und Infrastruktur), mit veränderten Lebensbedingungen, Lebensstilen und Verhaltensweisen der Verbraucher sowie mit veränderten gesellschaftlichen Normen und Werten beeinflusst werden können“, sagt Dr. Nata Menabde, Stellvertretende Regionaldirektorin am Regionalbüro. „Im Idealfall könnte und sollte das Gesundheitssystem dreierlei tun: 1) die Bedürftigsten schützen, 2) sich auf Gebiete konzentrieren, in denen es wirksam und nutzenbringend tätig sein kann und 3) als Wirtschaftsteilnehmer Investitionen, Ausgaben und Einstellungen intelligent handhaben.“

„Schwere Entscheidungen stehen derzeit und künftig bei Ausgaben und Prioritäten an; dabei ist entscheidend, dass die Region und die Mitgliedstaaten trotz der aktuellen Probleme den Werten und Prinzipien der 2008 vereinbarten Charta von Tallinn verpflichtet bleiben und darauf achten ‚unsere gemeinsamen Werte Solidarität, Chancengleichheit und Teilhabe in der Gesundheitspoli-tik sowie bei der Umverteilung von Ressourcen und bei sonstigen Maßnahmen zu fördern und dafür zu sorgen, dass dabei die Bedürfnisse einkommensschwacher und anderer benachteiligter Bevölkerungsgruppen gebührend berücksichtigt werden‘ “, fügt Dr. Menabde hinzu.

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