Untätigkeit ist tödlich. Antibiotikaresistenzen breiten sich in der Europäischen Region weiter aus
WHO schlägt am Weltgesundheitstag Alarm
Kopenhagen, 7. April 2011
Jedes Jahr sterben nach Schätzungen allein in den Ländern der Europäischen Union über 25 000 Menschen an Infektionen mit antibiotikaresistenten Bakterien, die meist im Krankenhaus erworben wurden. Die tatsächlichen Zahlen für die gesamte Europäische Region der WHO, zu der 53 Länder gehören, sind nicht bekannt, da hier keine Daten vorliegen, aber es gibt Anzeichen dafür, dass die Situation sogar noch schlimmer ist. Ärzte und Wissenschaftler in der gesamten Region befürchten, dass aufgrund des rücksichtslosen Einsatzes von Antibiotika – und der daraus resultierenden Entstehung und Ausbreitung antibiotikaresistenter Bakterien – eine Rückkehr zu Verhältnissen droht, wie sie vor Entdeckung der Antibiotika herrschten, und einfache Infektionen nicht mehr behandelbar und alltägliche Eingriffe und Interventionen mit lebensbedrohlichen Gefahren verbunden wären.
Anlässlich des Weltgesundheitstages 2011, der unter dem Motto „Wer heute nicht handelt, kann morgen nicht mehr heilen“ steht, unterstreicht das WHO-Regionalbüro für Europa die reale und akute Gefahr, dass lebensrettende Antibiotika ihre Wirkung verlieren, und mobilisiert im Kampf gegen Untätigkeit, Unwissenheit und Verantwortungslosigkeit. Es ruft alle maßgeblichen Akteure – politische Entscheidungsträger und Planer, Bürger, Patienten, praktizierende und verschreibende Ärzte, Tierärzte, Landwirte, Apotheker und die pharmazeutische Industrie – dazu auf, Antibiotika sachgemäß und verantwortungsbewusst anzuwenden, um den Kampf gegen Antibiotikaresistenzen möglichst wirksam zu unterstützen.
„Wir müssen heute Alarm schlagen, weil wir an einem entscheidenden Punkt angekommen sind, an dem Antibiotikaresistenzen ein nie da gewesenes Ausmaß erreicht haben und neue Antibiotika nicht schnell genug zur Verfügung stehen werden“, sagte Zsuzsanna Jakab, WHO-Regionaldirektorin für Europa. „Antibiotika sind eine ungeheuer wichtige Entdeckung, doch wir wissen sie nicht mehr zu schätzen und setzen sie stattdessen übermäßig oder unsachgemäß ein; deshalb gibt es heute Super-Erreger, die auf kein Arzneimittel mehr ansprechen. Angesichts des wachsenden Reise- und Handelsvolumens in Europa und weltweit müssen sich die Bürger darüber im Klaren sein, dass kein Land in Sicherheit ist, bis alle Länder gegen dieses Problem ankämpfen.“
Die Antwort des WHO-Regionalbüros für Europa
Die Entstehung antimikrobieller Resistenzen ist ein komplexes Problem, das durch eine Vielzahl miteinander verknüpfter Faktoren bedingt ist; deshalb sind sektorübergreifende Gegenmaßnahmen dringend erforderlich. Antibiotika gehören zu den wichtigsten antimikrobiellen Mitteln, und das Regionalbüro arbeitet in vielen Bereichen mit den Mitgliedstaaten zusammen: Surveillance der Antibiotikaresistenz; vernünftiger Umgang mit Antibiotika; Infektionsprävention und -bekämpfung; Forschung und Innovation. Es möchte seine Anstrengungen intensivieren und hat dazu einen strategischen Aktionsplan ausgearbeitet, den es allen Gesundheitsministern in der Region auf der jährlichen Tagung des Regionalkomitees im September 2011 vorstellen wird. Das Regionalbüro unterhält enge Kontakte zu verschiedenen EU-Institutionen wie der Europäischen Kommission, dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten und der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, aber auch mit Instituten für Bevölkerungsgesundheit wie dem Nationalen Institut für öffentliche Gesundheit und Umwelt (RIVM) in den Niederlanden und mit nichtstaatlichen Organisationen wie ReAct in Schweden.
Eine Reihe von Mitgliedstaaten der Europäischen Region hat schon demonstriert, was zur Bekämpfung der Antibiotikaresistenz getan werden kann, doch in vielen anderen Ländern gibt es keine nationalen Vorschriften für die Verwendung von Antibiotika, erhalten Tiere Antibiotika zur Wachstumsförderung oder Krankheitsprävention und betreiben Unternehmen eine verantwortungslose Verkaufsförderungspolitik. In zu vielen Ländern können Antibiotika von Jedermann ohne Rezept erworben und von Landwirten ohne Verschreibung nach eigenem Gutdünken eingesetzt werden. Außerdem werden sie von Ärzten nur allzu leichtfertig oder gänzlich zu Unrecht verschrieben und von den Bürgern zur Behandlung von viralen Infektionen wie Grippe und Erkältung angewandt, die viele (fälschlicherweise) für mit Antibiotika behandelbar halten.
Eine informelle Untersuchung in 21 Ländern im östlichen Teil der Europäischen Region ergab, dass in 14 von ihnen Antibiotika rezeptfrei erhältlich sind. Nur sieben der 21 Länder verfügen über einen nationalen Aktionsplan gegen Antibiotikaresistenz, und ebenfalls nur sieben über eine nationale Koordinierungsstelle. In weniger als der Hälfte der untersuchten Länder gab es nationale Leitlinien für Handhygiene in Gesundheitseinrichtungen, nur ein Drittel der Länder verfügte über ein nationales Surveillance-System mit Datenbank für Antibiotikaresistenzen.
Mit Sensibilisierungskampagnen konnte der übermäßige Einsatz von Antibiotika teilweise erfolgreich bekämpft werden, und einige Länder können nachweisen, dass eine ständige Abnahme des Antibiotikaverbrauchs zu einer entsprechenden Abnahme der Resistenzbildung führt. Durch strenge Infektionspräventions- und
-bekämpfungsprogramme im Krankenhausbereich, etwa durch einfache Handhygiene, kann etwa das Auftreten des methicillin-resistenten Staphylococcus aureus (MRSA), des gefürchteten Krankenhausbakteriums, signifikant reduziert werden.
Resistenzen breiten sich von der Nahrungskette und der Umwelt aus
Antibiotikaresistente Bakterien und Resistenzgene können durch Kontakt mit Lebensmitteln oder Zuchttieren auf den Menschen übertragen werden. Dies ist auf die übermäßige und missbräuchliche Anwendung von Antibiotika zur Krankheitsprävention oder Wachstumsförderung bei Zuchttieren zurückzuführen. In manchen Ländern kommen Antibiotika bei Tieren offenbar mehr zur Anwendung als in der Humanmedizin. Manche Antibiotika wie Ciprofloxacin sind von entscheidender Bedeutung für die Humanmedizin, werden aber gleichzeitig von Tierärzten in großem Umfang an Zuchttieren eingesetzt. So entstehen Arzneimittelresistenzen, die sich auf den Menschen ausbreiten können. Zwar ist die Verwendung von Antibiotika zur Wachstumsförderung seit 2006 in der Europäischen Union verboten, doch ist dies nicht in allen Ländern der Europäischen Region der WHO der Fall. Das Auftreten von Infektionen mit resistenten Erregern wie Salmonella und Campylobacter, zwei verbreiteten, durch Lebensmittel übertragenen Bakterien, steht in eindeutigem Zusammenhang mit dem Einsatz von Antibiotika in der Viehzucht.
Neue Antibiotika
Die Notwendigkeit neuer Antibiotika wächst in dem Maße, in dem sich Resistenzen in den Ländern der Europäischen Region ausbreiten und die Behandlung von Infektionen wie Blutvergiftungen sehr erschweren, selbst bei Einsatz von Reserveantibiotika wie Carbapenemen. So enthält z. B. das zunehmend verbreitete Resistenzgen NDM-1 (New Delhi metallo-ß-lactamase-1) ein Enzym, das Carbapeneme wirkungslos machen kann. Derzeit sind nur sehr wenige Antibiotika zur Bekämpfung resistenter Bakterien in Entwicklung, und die weltweite Ausbreitung hochgefährlicher Resistenzgene gilt unter Experten als Albtraum-Szenario. Die multiresistente Tuberkulose, die im östlichen Teil der Region ein sehr großes Problem darstellt, breitet sich weiter aus und bedroht viele Menschenleben.
Veranstaltungen
Am 7. April 2011 wird das WHO-Regionalbüro für Europa eine neue regionale Strategie zur Eindämmung der Antibiotikaresistenzen vorstellen. Zum Weltgesundheitstag werden zahlreiche Veranstaltungen in allen Teilen der Europäischen Region stattfinden, u. a. Pressegespräche und Fachtagungen: In Moskau sind die Zielgruppe die russischsprachigen Länder; in anderen Städten liegen die Schwerpunkte auf der Entstehung neuer Mechanismen der Antibiotikaresistenz (London), auf der Sensibilisierung für die Notwendigkeit neuer Antibiotika (Straßburg), auf der dringenden Notwendigkeit der Bekämpfung der multiresistenten Tuberkulose (Kiew) oder auf der Förderung eines umsichtigen Umgangs mit Antibiotika sowie der Infektionsprävention (Kopenhagen); in Rom schließlich wird eine neue Publikation mit dem Titel Tackling antibiotic resistance from a food safety perspective in Europe [dt.: Bekämpfung von Antibiotikaresistenz in Europa aus Sicht der Lebensmittelsicherheit] vorgestellt.
Faktenblätter
Faktenblätter und sonstige Informationen finden Sie auf der Website des WHO-Regionalbüros für Europa.
Weitere Auskunft erteilen:
Bernardus Ganter
Leitender Berater, Übertragbare Krankheiten
WHO-Regionalbüro für Europa
Mobiltel.: + 45 20 45 92 73
E-Mail: bga@euro.who.int
Hilde Kruse
Programmleiterin, Lebensmittelsicherheit
Europäisches Zentrum der WHO für Umwelt und Gesundheit, Rom
WHO-Regionalbüro für Europa
Tel.: +39 064877525
E-Mail: hik@ecr.euro.who.int
Kees de Joncheere
Arzneimittel und Gesundheitstechnologien
WHO-Regionalbüro für Europa
Tel.: +45 39 17 14 32
E-Mail: cjo@euro.who.int
Viv Taylor Gee
Kommunikationsberaterin
WHO-Regionalbüro für Europa
Tel.: + 45 39 17 12 31
Mobiltel.: +45 2272 3691
E-Mail: vge@euro.who.int
Albena Arnaudova
Kommunikationsreferentin
WHO-Büro bei der Europäischen Union, Brüssel
Tel.: +32 25064658
E-Mail: arnaudovaa@who-eu.be