Neuer Bericht fordert Ausrichtung der Arzneimittelinnovationen am Bedarf der Patienten

Kopenhagen/Genf, 16. Juli 2013

Erstmals sind in den Ländern der Europäischen Union mehr Menschen über 65 Jahre als unter 15 Jahre alt. Die meisten anderen Länder der Welt, darunter diejenigen mit niedrigem und mit mittlerem Einkommen, verzeichnen einen ähnlichen Trend. In einem neuen Bericht der WHO werden Arzneimittelforscher aufgefordert, ihre Forschungs- und Entwicklungsarbeit so anzupassen, dass sie diesem Wandel Rechnung trägt.

In dem Bericht „Vorrangige Arzneimittel für Europa und die Welt: Lagebericht 2013“ wird betont, dass der in den EU-Ländern beobachtete Wandel ein Indikator für den Rest der Welt ist, da künftig weltweit mehr Menschen altern und vor ähnliche gesundheitliche Herausforderungen gestellt sein werden.

Der Bericht befasst sich vor allem mit Arzneimittellücken, also dem Problem, dass medikamentöse Therapien für eine Krankheit oder ein Leiden bald unwirksam sein können, sich nicht für die Patienten-Zielgruppe eignen oder nicht vorhanden oder nicht wirksam genug sind.

Unzureichende Arzneimittelinnovation

„Obwohl die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung im Arzneimittelbereich in Europa seit 1990 um mehr als das Dreifache gestiegen sind, besteht ein zunehmendes Missverhältnis zwischen dem tatsächlichen Bedarf der Menschen und der Arzneimittelinnovation. Wir müssen dafür sorgen, dass die Branche sichere, wirksame, erschwingliche und geeignete Arzneimittel zur Deckung des künftigen Gesundheitsbedarfs entwickelt“, sagt Nina Sautenkova, Programmleiterin für Gesundheitstechnologie und Arzneimittel im WHO-Regionalbüro für Europa.

In gesundheitspolitischer Hinsicht ergibt sich aus dem tendenziell wachsenden Anteil der über 65-Jährigen eine größere Prävalenz altersbedingter Krankheiten oder Leiden wie Herzkrankheit, Schlaganfall, Krebskrankheit, Diabetes, Osteoarthritis, Rückenschmerzen, Hörverlust und Alzheimer-Krankheit. In Kombination mit gesundheitsfördernden und krankheitsvorbeugenden Initiativen muss bei diesen Leiden mehr in Forschung und Innovation investiert werden, um die Arzneimittellücke zu schließen. Die Bilanz der Erfolge seit der Veröffentlichung des ursprünglichen Berichts von 2004 fällt gemischt aus.

Investitionen in breit angelegte Versuche erforderlich

Patienten, insbesondere ältere Menschen, benötigen oft Arzneimittel für multiple chronische Leiden, doch sind Forschungs- und Behandlungsleitlinien eher krankheits- als patientenorientiert.

„Zwar wurden mehrere kleinere Versuche zur Kombinationstherapie durchgeführt, aber keine breit angelegten Studien eingeleitet. Ein Beispiel dafür ist die Verabreichung einer festen Dosis von Polypillen gegen ischämische Herzerkrankungen (oder Myokardischämie)“, erklärt Kees De Joncheere, Direktor der Abteilung für unentbehrliche Arzneimittel und Produkte im WHO-Hauptbüro. „Obwohl es positive Ergebnisse aus kleineren Versuchen gibt, brauchen wir Investitionen in großflächige Erprobungen, damit wir die Erkenntnisse gewinnen, die uns zeigen, ob wir die richtige Darreichungsform finden und dies praktisch umsetzen und so mehr Leben retten können.“

Künftige Forschungsbereiche

Neben altersbedingten Leiden werden in dem Bericht einige andere wichtige Themen für die künftige Arzneimittelforschung benannt. Eines davon ist der Bedarf an mehr Medikamenten, die nicht bei kalten Temperaturen gelagert werden müssen, wie hitzebeständiges Insulin für Diabetes und Oxytocin für die Geburtseinleitung, und die in Ländern ohne durchgängigen Zugang zu Kühlgeräten von großem Nutzen für die Gesundheitsversorgung wären.

Wie im Bericht von 2004 festgestellt wurde, besteht aufgrund der wachsenden Resistenz gewöhnlicher Mikroben gegenüber den für ihre Behandlung gedachten Arzneimitteln – als antimikrobielle Resistenz bezeichnet – die Gefahr, dass zahlreiche gegenwärtige Interventionen im Bereich der Gesundheitsversorgung unmöglich gemacht werden. Es ist dringend notwendig, nicht nur derzeitige Medikamente zu erhalten, sondern auch neue Optionen zu entwickeln.

Darüber hinaus beleuchtet der Bericht unter anderem weitere Faktoren, die bei der Arzneimittelinnovation entscheidend sind, etwa die optimale Gestaltung der Regulierungssysteme für die Marktzulassung, die Annahme einer effektiven Preisbildungs- und Kostenerstattungspolitik zur Schaffung von Anreizen und die Nutzung vorhandener elektronischer Gesundheitsakten zur Gewinnung wertvoller Daten für die Verbesserung der Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln. Innerhalb Europas gibt es Vorstöße in Richtung auf eine zuerst bedingte und später ausgeweitete Marktzulassung und eine wertorientierte Preisbildung, die den Zugang zu neuen Arzneimitteln und entsprechende Anreize verändern können. Schließlich wird in dem Bericht betont, dass Patienten und Bürger sinnvoll in Arzneimittelinnovationen und den Zugang zu Medikamenten einbezogen werden müssen.

„Vorrangige Arzneimittel für Europa und die Welt: Lagebericht 2013“ ist die aktualisierte Ausgabe eines 2004 erschienenen Berichts, die von Experten der WHO, der EU-Mitgliedstaaten, der Industrie und der akademischen Welt und anderen Interessenträgern, darunter Patienten. gemeinsam erstellt wurde.

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Öffentlichkeitsreferentin
WHO-Regionalbüro für Europa
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