Ein Viertel aller Frauen in der Europäischen Region der WHO erleben körperliche bzw. sexuelle Gewalt durch einen Intimpartner
Kopenhagen / Wien / Vilnius, 25. November 2013
Heute, zum Auftakt der 16-tägigen weltweiten Kampagne gegen Gewalt an Frauen, wird die Stadt Wien gemeinsam mit dem Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen und dem WHO-Regionalbüro für Europa die Anti-Gewalt-Flagge hissen, um auf diese versteckte Epidemie in der Europäischen Region aufmerksam zu machen.
25,4% der Frauen in der Europäischen Region sind irgendwann im Laufe ihres Lebens körperlicher oder sexueller Gewalt (oder beidem) durch einen Intimpartner ausgesetzt; 5,2% erleben sexuelle Gewalt von einer anderen Person als ihrem Partner; dies geht aus dem WHO-Bericht über Schätzungen zum Ausmaß von Gewalt gegen Frauen weltweit und in der Europäischen Region hervor.
„Gewalt gegen Frauen darf in keiner Gesellschaft geduldet werden“, sagt Zsuzsanna Jakab, WHO-Regionaldirektorin für Europa. „Die Beseitigung von Gewalt erfordert entschlossene Anstrengungen zur Förderung von Gleichheit zwischen den Geschlechtern, die Infragestellung geschlechtsspezifischer Vorurteile und eine engagierte Arbeit mit Frauen und Mädchen – nicht nur als Opfer von Gewalt, sondern auch als befähigte Akteurinnen des Wandels. Wir müssen bereichsübergreifend tätig werden und alle Teile der Gesellschaft für ein abgestimmtes Handeln mobilisieren, das sich an dem neuen Rahmenkonzept der Europäischen Region für Gesundheit und Wohlbefinden, Gesundheit 2020, orientiert.“
„Zum Schutz vor Gewalt gehört es auch, dass den Frauen die Würde zurückgegeben wird, die ihnen durch die Gewalt genommen wurde. Wir müssen unermüdlich auf die Gewalt gegen Frauen aufmerksam machen und die Thematik auch auf die politische Tagesordnung setzen. Diese Sensibilisierungsarbeit kostet Kraft, doch sie bringt uns unseren Zielen näher“, sagt Barbara Prammer, Präsidentin des österreichischen Nationalrates. „Österreich hat Gesetze gegen Gewalt eingeführt und damit auch im europäischen Kontext Pionierarbeit geleistet. Darüber hinaus war Österreich auch unter den ersten Ländern, die die Konvention des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vorbehaltlos ratifiziert haben. Im Rahmen seines Vorsitzes im Europarat seit November 2013 wird Österreich ein besonderes Gewicht auf das Thema Schutz vor Gewalt legen.“
Die am 25. und 26. November in Wien versammelten Experten appellieren an die Länder, die neuen klinischen und konzeptionellen Leitlinien der WHO anzuwenden und die Registrierung von Gewalt gegen Frauen zu verbessern.
„Wir müssen dieses versteckte Verbrechen ans Licht bringen und die vielfältigen Erscheinungsformen geschlechtsspezifischer Gewalt überall in der Europäischen Union aufzeigen, die von physischer und psychischer Gewalt innerhalb von Partnerschaften über sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung, Zwangsprostitution und Menschenhandel bis zu Genitalverstümmelung reichen“, sagt Thérèse Murphy, Geschäftsführerin des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen in Vilnius (Litauen). „All diese Formen der Gewalt stellen eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte dar und spielen auch bei geschlechtsspezifischer Diskriminierung eine Rolle, indem sie Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen widerspiegeln und verstärken.“
Neue Leitlinien der WHO für Gesundheitsfachkräfte
Die Einrichtungen des Gesundheitswesens spielen eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, da sie für die Opfer oftmals die erste Anlaufstelle sind. Die neuen klinischen und konzeptionellen Leitlinien der WHO beinhalten effektive Maßnahmen für das Gesundheitswesen beim Umgang mit Gewalt gegen Frauen. Sie enthalten Empfehlungen in Bezug auf unmittelbare Hilfsangebote, die Entdeckung und klinische Versorgung von Fällen von Gewalt durch Intimpartner und sexuellen Übergriffen, die Ausbildung von Leistungserbringern, konzeptionelle und programmatische Lösungsansätze für die Leistungserbringung sowie eine Meldepflicht bei Gewalt durch Intimpartner.
„Die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen macht entschlossene gemeinsame Anstrengungen erforderlich und nimmt auf der politischen Tagesordnung der Stadt Wien einen hohen Stellenwert ein. Unsere Sozial-, Gesundheits- und Frauenpolitik steht an vorderster Front bei den bereichsübergreifenden Bemühungen mit dem Ziel, die von Gewalt betroffenen Frauen wirksam zu unterstützen und sinnvolle Präventionsmaßnahmen einzuführen. Dies geschieht durch ein besonders gut entwickeltes Netz von Schutz- und Beratungseinrichtungen sowie durch ein breites Spektrum von Gesundheits- und Sozialleistungen, zu denen auch spezielle Angebote für besonders gefährdete und benachteiligte Gruppen gehören“, erklären die Wiener Stadträtinnen Sandra Frauenberger und Sonja Wehsely. Im Mittelpunkt des Netzes der Schutzmaßnahmen stehen die Frauenhäuser mit ihren insgesamt 175 Plätzen für von Gewalt betroffene Frauen und Kinder – mit denen die vom Europarat geforderte Richtgröße von 1 Platz pro 10 000 Einwohner übertroffen wird. Ein besonderer Schwerpunkt wird auf die Schulung von Gesundheitspersonal und Opferschutzgruppen gelegt, um sicherzustellen, dass die von Gewalt Betroffenen entdeckt, angemessen behandelt und kontinuierlich betreut werden.
Dringender Bedarf an zuverlässigen, vergleichbaren Daten
Die Entwicklung von Handlungskonzepten zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt ist inner- wie außerhalb der Europäischen Union eine Priorität; hierfür bedarf es zuverlässiger administrativer und statistischer Daten über Opfer und Täter, die nach Geschlecht, Alter und Opfer-Täter-Beziehung aufgeschlüsselt sein müssen. Dieses Engagement wird in der Frauen-Charta der Europäischen Kommission (2010) und in der Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2010−2015, im Stockholmer Programm (2010−2014), in der Istanbuler Konvention (Konvention des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) sowie in der Strategie „Gesundheit 2020“ bekräftigt. Doch geschlechtsspezifische Gewalt ist nach wie vor weit verbreitet und wird oft nicht angezeigt. Die vorhandenen Daten reichen nicht aus, um sich ein zuverlässiges Bild von der Prävalenz geschlechtsspezifischer Gewalt in Europa zu machen.
Seit 2010 hat das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE) zu der wichtigen Arbeit im Bereich der geschlechtsspezifischen Gewalt in Europa beigetragen. Im Zeitraum 2010–2013 hat das EIGE insgesamt sieben Studien zu dieser Thematik in Auftrag gegeben. Während der Konferenz in Wien wird das Institut die Ergebnisse einiger dieser Studien präsentieren, die sich mit Genitalverstümmelung, dem Gender Equality Index und mit administrativen Datenquellen für geschlechtsspezifische Gewalt befassen. Das sog. „Opfer-Paket“ der EU und die Richtlinie 2012/29/EU über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe werden weiter zu der Diskussion beitragen. In den Schlussfolgerungen des Rates „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“ (EPSCO) von 2012 wurden intensivere Anstrengungen zur Entwicklung gemeinsamer Definitionen und Indikatoren für alle Formen geschlechtsspezifischer Gewalt in Europa und die Gewährleistung ihrer einheitlichen Anwendung innerhalb der EU wie auch der einzelnen Mitgliedstaaten gefordert.
Die neue Studie des EIGE über die administrativen Daten belegt, dass der derzeit geltende Regulierungsrahmen die Erhebung vergleichbarer Daten über Gewalt gegen Frauen (z. B. Daten über Opfer und Täter, Zugang zu Angeboten für Gewaltopfer, Antwort staatlicher Einrichtungen auf ihre Bedürfnisse) nicht in ausreichendem Maße begünstigt. In der Studie wird auch die Notwendigkeit eines unter den EU-Mitgliedstaaten harmonisierten Ansatzes für die Datenerhebung unterstrichen.
„Unsere Ergebnisse sprechen eindeutig für einen unter den EU-Mitgliedstaaten harmonisierten Ansatz zur Datenerhebung im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt“, erklärt Thérèse Murphy vom EIGE zu der Studie, deren Ergebnisse auf der Konferenz erstmals vorgestellt werden.
Über die Konferenz „Beseitigung von Gewalt gegen Frauen – ressortübergreifende Konzepte und Maßnahmen“
Die Konferenz, die am 25. und 26. November 2013 in Wien stattfindet, bringt mehr als 200 Repräsentanten an einen Tisch, um die Ergebnisse neuer Untersuchungen über Gewalt gegen Frauen, den dringenden Bedarf an zuverlässigen Daten zu dieser Thematik und die Notwendigkeit eines Zusammenwirkens aller Bereiche der Gesellschaft zur Bekämpfung bzw. Verhütung geschlechtsspezifischer Gewalt zu erörtern. Weitere Themen auf der Tagesordnung sind die Frage der Einführung der neuen internationalen Leitlinien für Gesundheitseinrichtungen zur Behandlung von Gewaltopfern und Fallstudien über erfolgreiche Projekte und Maßnahmen.
An der Konferenz nehmen auch Vertreter internationaler Organisationen sowie Experten aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft teil. Die Konferenz wird von der Stadt Wien, dem EIGE und dem WHO-Regionalbüro für Europa gemeinsam organisiert.
Kampagne gegen geschlechtsspezifische Gewalt
Am 25. November, dem Internationalen Tag für die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, fällt der Startschuss für eine weltweite Kampagne unter dem Motto „16 Tage gegen Gewalt an Frauen und Mädchen“. Aus diesem Anlass hissten die Delegierten auf der Konferenz im Beisein der amtsführenden Stadträtinnen Sandra Frauenberger und Sonja Wehsely sowie von Vertretern einer Vielzahl nichtstaatlicher Organisationen die Anti-Gewalt-Flagge der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes vor dem Rathaus in Wien.
Beteiligen Sie sich an der Debatte auf Twitter (#stopVAWvienna) und verfolgen Sie die Konferenz im Livestream (http://viewer.dacast.com/beta/b/25779/c/34321).
Weitere Informationen finden sich auf den Webseiten der WHO und des EIGE