Erklärung – Durch Solidarität können wir das Virus besiegen
Erklärung an die Diplomatischen Vertretungen in Dänemark zum Thema COVID-19. Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
Kopenhagen, 19. März 2020
Guten Morgen, Exzellenzen, und vielen Dank, dass Sie an dieser Veranstaltung teilnehmen wollen.
Zu Beginn sollten wir unsere Gedanken und besten Wünsche all jenen Einzelpersonen, Familien und Unternehmen widmen, die sich gemeinsam darum bemühen, den COVID-19-Ausbruch zu bewältigen und sich in ihrem Umfeld an die Situation anzupassen, insbesondere aber all jenen in Ihren Ländern und darüber hinaus, die direkt von dem Virus betroffen sind. Ich möchte es auch nicht versäumen, sowohl persönlich als auch im Namen des Regionalbüros für Europa den Angehörigen der Gesundheitsberufe, die an vorderster Linie Tag und Nacht im Dienste unserer Bevölkerung tätig sind, herzlich für ihren heroischen Einsatz zu danken.
Heute habe ich drei wesentliche Botschaften für Sie.
Erstens: Durch Solidarität können wir das Virus besiegen.
Die Situation verschärft sich, und wir müssen Seite an Seite kämpfen, um sie zu bewältigen. Mit Stand von gestern Abend waren weltweit über 207 000 Fälle aus 166 Ländern und Gebieten gemeldet. Leider hat COVID-19 bisher schon über 8600 Menschen das Leben gekostet. Während in China immer weniger Fälle und heute sogar keine im Inland übertragenen Fälle mehr registriert werden, ist die Europäische Region mit über 40% der weltweiten Fälle zum Epizentrum der Pandemie geworden.
Der COVID-19-Ausbruch stellt unsere Solidarität auf eine Probe, die wir unbedingt bestehen müssen. Es kommt entscheidend darauf an, dass wir alle uns an die Grundsätze internationaler Zusammenarbeit und Transparenz halten und die vielversprechendsten Maßnahmen durchführen.
Es ist wichtig, dass wir dies gemeinsam tun, voneinander lernen und unsere Anstrengungen vereinheitlichen. Der Erfolg liegt einzig und allein an uns. Bei enger Zusammenarbeit und Abstimmung der Maßnahmen der einzelnen Regierungen ist es möglich, das Virus zu besiegen.
Hier möchte ich Ihre Regierungen bitten, ihre Maßnahmen zur Schließung von Grenzen und zur Verhängung von Ein- oder Ausfuhrbeschränkungen sorgfältig abzuwägen und ggf. zu überdenken. Solche Maßnahmen behindern die Versorgung mit dringend benötigten Geräten und Materialien wie etwa persönlichen Schutzausrüstungen für das an vorderster Linie tätige Gesundheitspersonal. Dies hat direkte Auswirkungen auf die Bereitschaftsplanung und Handlungsfähigkeit der Gesundheitssysteme.
Darüber hinaus möchte ich als Vertreter der Weltgesundheitsorganisation Ihre Regierungen bitten, uns Reise- und Bewegungsfreiheit zu gewähren, damit wir unsere Aufgabe, nämlich Ihnen zu dienen, wahrnehmen können. An dieser Stelle begrüße ich ausdrücklich die Entscheidung der Regierung Montenegros, die Ein- und Ausreise von Mitarbeitern der WHO zum Zwecke der Bekämpfung von COVID-19 zu erlauben.
Zweitens sollten wir dafür Sorge tragen, dass Gesundheit auch weiterhin einen hohen Stellenwert auf der politischen Tagesordnung behält.
Der Lauf der Geschichte hat sich in nur zwölf Wochen verändert, und wir wissen immer noch nicht, wo dies enden wird.
Mit Stand von heute Morgen wurden in der Europäischen Region über 75 000 Fälle gemeldet, von denen mehr als 77% in vier Ländern – Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland – registriert wurden. Die Kurve zeigt weiter nach oben.
Millionen Menschen in unserer Region erleben derzeit radikale Veränderungen in ihrem Alltag. Es ist ganz einfach eine neue Realität. Die Bedeutung der öffentlichen Gesundheitsdienste wird besser verstanden. Der Wert von qualifiziertem Gesundheitspersonal und die Arbeit unserer Gesundheitssysteme werden geschätzt wie nie zuvor. Wenn wir erkennen, wie anfällig unser Lebensstil uns macht, wird Gesundheit zum obersten Anliegen. Ich appelliere an unsere Regierungen, dies beizubehalten.
Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren Botschafter und Delegierte, ich begrüße wärmstens die Anstrengungen Ihrer Regierungen und unserer Mitgliedstaaten, die Ihre personellen und finanziellen Ressourcen, Ihre Energie und Ihren guten Willen in diesen globalen Kraftakt einbringen. Es kommt jetzt darauf an, niemanden zurückzulassen oder im Abseits stehen zu lassen.
Ich bitte Ihre Regierungen, uns nach besten Kräften bei den Vorsorge- und Gegenmaßnahmen behilflich zu sein.
Die WHO, die Stiftung für die Vereinten Nationen sowie eine Reihe von Partnerorganisationen haben erstmals einen Solidaritätsfonds zur Bekämpfung von COVID-19 eingerichtet, der der Finanzierung der Unterstützung der anfälligsten und bedürftigsten Gruppen dient und die Reaktionspläne der WHO ergänzen soll.
Hier in der Europäischen Region profitiert der Plan zur Bekämpfung von COVID-19 von den wichtigen Impulsen und der Überzeugungsarbeit von Dr. David Nabarro, dem unserer Region zugeteilten Sondergesandten der WHO für die Vorsorge- und Gegenmaßnahmen in Bezug auf COVID-19. Für diese Unterstützung bin ich ihm aufrichtig dankbar.
Ich kann Ihren Regierungen zusichern, dass die uns zur Verfügung gestellten personellen und finanziellen Ressourcen vorrangig in jenen Ländern eingesetzt werden, in denen die Anforderungen und Risiken höher und die Kapazitäten in den Gesundheitssystemen und bei der Bereitschaftsplanung geringer sind. Ich garantiere Ihnen, dass Ihre Beiträge effizient und effektiv eingesetzt werden.
Drittens ist die Bewältigung des COVID-19-Ausbruchs eine gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Am 11. März hat der Generaldirektor der WHO die erste Pandemie eines Coronavirus in der Geschichte ausgerufen. Dieser Entscheidung waren ein weltweiter Anstieg der Fallzahlen um das Dreizehnfache innerhalb von zwei Wochen und eine entsprechende Erhöhung der Zahl der betroffenen Länder vorausgegangen.
Es war ein Weckruf für jedes einzelne Land, die mutigsten Maßnahmen zu ergreifen, um das neue Virus zu bekämpfen.
Dabei kommt es auf gesamtgesellschaftliches und gesamtstaatliches Handeln an. Für eine Stärkung der Widerstandsfähigkeit und wirksame Gegenmaßnahmen bedarf es gemeinsamer Anstrengungen zur Bekämpfung einer gemeinsamen Bedrohung.
Ich bitte Ihre Regierungen, bei ihren Gegenmaßnahmen alle maßgeblichen Ressorts in ausgewogener Weise einzubeziehen und eine regelmäßige und rechtzeitige Kommunikation mit allen betroffenen Bereichen der Gesellschaft zu pflegen.
Die Beteiligung der Bevölkerung ist entscheidend.
Ich bitte Ihre Regierungen, Ressourcen, Zeit und Mühe in die Risikokommunikation und in eine Interaktion mit der Bevölkerung zu investieren, bei der Zuhören den gleichen Stellenwert erhält wie Sprechen. Eine wirksame Kommunikation mit der Öffentlichkeit und eine gezielte Zusammenarbeit mit der Bevölkerung, örtlichen Partnern und anderen Interessengruppen zur Vorbereitung und zum Schutz von Einzelpersonen, Familien und öffentlicher Gesundheit während der ersten Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 ist entscheidend für den Erfolg unserer kollektiven Anstrengungen zur Bewältigung dieser Pandemie.
Im Augenblick gibt es für alle Länder und ihre Regierungen drei Prioritäten: Ich werde mich hier hauptsächlich auf die erste konzentrieren, weil sie so wichtig ist:
Wir sollten unmittelbar nach einem COVID-19-Ausbruch zügige, wirksame und energische Maßnahmen zu seiner Eindämmung und Unterdrückung ergreifen: dabei kommt es auf schnelles Handeln an, denn jeder Tag der Verzögerung erschwert die Aufgabe der öffentlichen Gesundheitsdienste und verschärft die sozioökonomischen Folgen erheblich. Doch wir müssen den Handlungsschwerpunkt auf Eindämmung und Unterdrückung belassen, selbst wenn sich die lokale Übertragung fest etabliert hat. Die Aufrechterhaltung des Schwerpunkts auf den grundlegenden Funktionen des öffentlichen Gesundheitswesens ist entscheidend für das Wohl unserer Bevölkerung und ihre Gesundheitsversorgung. Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Jede Gemeinschaft in jedem Land muss Kontaktpersonen ermitteln, Verdachtsfälle testen, Patienten isolieren und den Menschen Anleitung dazu geben, wie sie sich schützen und die Geschwindigkeit der Übertragung verringern können. Die Erfahrungen in Südostasien zeigen: Wenn wir uns hierauf konzentrieren und es gründlich machen, können wir den COVID-19-Ausbruch eindämmen und die Notwendigkeit schädigender Schließungen verringern, die für die Menschen so schwer zu ertragen sind.
Um vorbereitet und gerüstet zu sein, muss jeder Bürger, jede Gesundheitsfachkraft und jede Gesundheitseinrichtung darauf vorbereitet sein, zu schützen und zu pflegen. Für die Krankenhäuser kommt es entscheidend auf Bereitschaftsplanung und Schaffung der erforderlichen Kapazitäten an. Jedes Land muss seine Gesundheitszentren für die Bewältigung eines großen Zustroms von Patienten und den Schutz des Gesundheitspersonals vor Ansteckung ausrüsten.
Jedes Land muss Maßnahmen der sozialen Distanzierung in Erwägung ziehen. Wir brauchen sozialen Zusammenhalt, müssen aber räumlich Abstand halten. Gleichzeitig müssen wir auf die Ängste der Menschen eingehen und uns im Klaren darüber sein, dass Schließungen immer eine extreme Belastung darstellen: die Menschen haben Angst, Familien haben Schwierigkeiten mit dem Arbeiten von zuhause und dem Online-Unterricht oder – besonders schwerwiegend – befürchten Einkommensverluste bei Schließung von Firmen und eine Einschränkung ihrer beruflichen Möglichkeiten. Wir müssen jederzeit vorausdenken: Wo könnten wir in zwei Wochen stehen – oder in zwei Monaten?
Viele unserer Länder in der Europäischen Region arbeiten inzwischen auf eine Abflachung der Kurve der Epidemie und auf eine Unterdrückung der COVID 19-Ausbrüche hin. Wie Sie aus den Regionen Westlicher Pazifikraum und Afrika und auch aus Dänemark gleich hören werden, wurden bereits verschiedene Strategien zur Eindämmung des Ausbruchs und zur Schadensminderung in die Wege geleitet, damit weniger neue Fälle über einen längeren Zeitraum auftreten. Dies erhöht die Chance, dass das Gesundheitswesen ausreichend ausgestattet ist, um eine sichere und hochwertige Versorgung zu gewährleisten.
Wir beim WHO-Regionalbüro für Europa arbeiten rund um die Uhr gemeinsam mit Ihnen auf eine Bewältigung dieser Pandemie hin. In den vergangenen vier Wochen haben wir im Rahmen von insgesamt 40 Ländermissionen fachliche Unterstützung geleistet. Wir bemühen uns zusammen mit unseren Partnerorganisationen und den medizinischen Notfallteams um eine Ausweitung der Reaktionskapazitäten.
Abschließend möchte ich Ihnen nochmals meine drei zentralen Botschaften bzw. Bitten ans Herz legen:
- Bitte schließen Sie sich miteinander kurz und stimmen Sie Ihre Gegenmaßnahmen aufeinander ab, um sicherzustellen, dass die Maßnahmen eines Landes nicht das Handeln anderer Länder behindern, sondern es ergänzen.
- Bitte unterstützen Sie auch weiterhin die Gegenmaßnahmen Ressourcen und handeln Sie solidarisch, beziehen Sie alle Menschen ein und sorgen Sie dafür, dass niemand zurückgelassen wird und die am stärksten Gefährdeten die nötige Unterstützung erhalten.
- Bitte ermutigen Sie die Bevölkerung und die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft zu aktivem Engagement im Rahmen gesamtstaatlichen Handelns.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, Ihre Entschlossenheit und all ihre Anstrengungen.