Grundsatzrede.Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor, WHO

Videoansprache des Generaldirektors

12. September 2017, Budapest

Danke, Frau Vorsitzende.

Eure Exzellenz Herr Tsipras, Ministerpräsident von Griechenland, sehr geehrte Damen und Herren Minister, sehr geehrte Frau Regionaldirektorin Dr. Jakab, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren!

Gestatten Sie mir, seine Exzellenz Herrn Ministerpräsident Tsipras zu einem Erfahrungsaustausch willkommen zu heißen. Vor einigen Monaten trafen wir schon einmal aufeinander, und ich habe damals zwei Eindrücke gewonnen, die Ich mit Ihnen teilen möchte. Erstens war ich sehr beeindruckt von Griechenlands Bekenntnis zur allgemeinen Gesundheitsversorgung, und zweitens von seiner Großzügigkeit im Umgang mit den Migranten. Es hat mich wirklich inspiriert zu sehen, wie Führungsstärke Veränderungen bewirken kann, auch in schweren Zeiten.

Es erfüllt mich mit Stolz, hier erstmals als Generaldirektor vor Ihnen stehen zu können. Schon der Dienst an meinem eigenen Land als Gesundheits- und Außenminister war mir eine außerordentliche Ehre. Doch die Chance, der gesamten Menschheit – und damit auch der Bevölkerung der Europäischen Region – dienen zu dürfen, ist ein noch größeres Privileg.

Mir ist allerdings voll und ganz bewusst, dass eine solch große Ehre auch eine große Verantwortung mit sich bringt. Wir sind hier, weil unser Auftrag Gesundheit für alle und überall lautet, und in der Europäischen Region leben 900 Millionen Menschen. Jeder von ihnen hat ein Recht auf Gesundheit.

Diese Region verfügt über eine ungeheure Diversität, denn sie erstreckt sich von Skandinavien bis nach Zentralasien, von der Arktis bis zum Mittelmeer und vom Atlantik bis zum Nordpazifik.

Ebenso groß wie die Vielfalt der Völker, Kulturen und Landschaften in dieser Region ist die Vielfalt der Menschen und der Gesundheitssysteme.
Es gibt viel, auf das Sie stolz sein können. Hunderte Millionen Menschen in Europa profitieren uneingeschränkt von einer allgemeinen Gesundheitsversorgung und erhalten weltweit erstklassige Gesundheitsleistungen, oft kostenlos und am Ort der Erbringung.

Infolgedessen haben einige Länder der Europäischen Region eine im weltweiten Vergleich besonders hohe Lebenserwartung.

Doch gleichzeitig gibt es in Ihrer Region die höchsten Raten in Bezug auf Tabak- und Alkoholkonsum. Sie sehen sich einer hohen Belastung mit nichtübertragbaren Krankheiten gegenüber, und namentlich Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes und psychischen Erkrankungen.

Diesen Erkrankungen fallen Menschen in der Blütezeit ihres Lebens zum Opfer, in ihren produktivsten Jahren.

Und Sie wissen nur zu gut, dass eine alternde Bevölkerung mehr Langzeitpflege benötigt und dass die Kosten hierfür zwangsläufig steigen werden.

Kein Land, egal wie wohlhabend es sein mag, kann einfach tatenlos zusehen und warten, bis diese Menschen in seinen Krankenhäusern auftauchen. Die günstigsten und wirksamsten Interventionen sind solche, die Gesundheit fördern und Krankheit verhindern, also stärkere Besteuerung von Tabak, bessere Kennzeichnung von Lebensmitteln und sogar so einfache Maßnahmen wie Straßenschwellen.

Allerdings sind einige der Ursachen von Krankheit und Tod außerhalb ihrer eigenen Kontrolle, etwa die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels und der Veränderung der Umwelt, in der sie leben. Daher dürfen wir unsere Arbeit nicht in einem Elfenbeinturm betreiben und Gesundheitspolitik nicht isoliert formulieren. Stattdessen müssen wir mit den Kollegen in den Politikbereichen Energieversorgung, Verkehrswesen und Städteplanung dafür sorgen, dass wir die Zukunft so gestalten, dass die gesundheitlichen Folgen von Klimawandel und Umweltbelastung abgemildert und aufgefangen werden.

Deshalb sind Ihre in dieser Woche anstehenden Beratungen zum Thema Umwelt und Gesundheit im Kontext der Ziele für nachhaltige Entwicklung sehr wichtig und hochaktuell. Ich hoffe, dass sie zu sinnvollen Verbesserungen für die Gesundheit in der Europäischen Region führen werden. Dazu sind wir hier.

Doch damit dies gelingt, müssen wir auch die WHO auf sinnvolle Weise verändern. Ein Teil dieser Veränderungen ist schon eingeleitet, anderes muss erst noch geschehen. Lassen Sie mich daher erläutern, wie ich mir die Arbeit in den kommenden Wochen und Monaten vorstelle.

In Zeiten des Übergangs ist es sehr wichtig, die laufende Arbeit fortzuführen und das Schiff auf Kurs zu halten. Jeden Tag setzen sich die Bediensteten der WHO in aller Welt energisch dafür ein, die Gesundheit auf der Ebene der Länder auf tausenderlei Weise – im Großen wie im Kleinen – zu verbessern. Dies muss fortgesetzt werden

Aber ich habe von Ihnen auch gehört, dass es eine Reihe dringender Prioritäten gibt, bei denen wir unmittelbar handeln können und müssen. Daher habe ich einige rasche Initiativen auf den Weg gebracht, damit wir:

  • in Notlagen wirksamer handeln können;
  • unsere Führungsarbeit stärken, indem wir die Arbeit des Exekutivrates und der Weltgesundheitsversammlung untersuchen, um sie effizienter und strategischer zu gestalten;
  • die WHO zu einem noch besseren Arbeitsplatz machen können;
  • die Öffentlichkeitsarbeit der WHO stärken können, um politische Unterstützung für unsere globalen Gesundheitsziele zu mobilisieren;
  • die Art und Weise unserer Mittelbeschaffung überdenken und grundlegend ändern können;
  • unsere Mittel kosteneffizienter verwerten können;
  • eine Sonderinitiative für Klimawandel und Gesundheit in kleinen Inselnationen auflegen können; und
  • den Übergang für die Zeit nach der Poliomyelitis planen können.

Dies sind die unmittelbaren Prioritäten. Doch wir haben auch damit begonnen, größere grundlegende Veränderungen vorzubereiten, die wir benötigen, damit die WHO besser für die gesundheitlichen Herausforderungen der Zukunft gerüstet ist.

Am Anfang haben wir einfach zugehört. Ich habe innerhalb der WHO ein Programm „Ideen für den Wandel“ initiiert, um auf allen Ebenen der Organisation einen Reflektionsprozess und innovative Ideen zu fördern. Wir haben Hunderte von großartigen Anregungen bekommen, die wir jetzt in einen strategischen Plan einbringen.

Vor diesem Hintergrund haben wir die Arbeit zur Gestaltung unseres nächsten Allgemeinen Arbeitsprogramms aufgenommen, das die Strategie der WHO zwischen 2019 und 2023 bestimmen wird.

Das Konzeptpapier wurde zunächst auf der Tagung des Regionalkomitees für Afrika in Simbabwe und dann in der vergangenen Woche auf der des Regionalkomitees für Südostasien auf den Malediven erörtert. Die bisherigen Rückmeldungen haben mich sehr ermutigt. Die Gesundheitsminister haben sich intensiv in diese Arbeit eingebracht.

Die häufigste Rückmeldung zu dem Konzeptpapier bestand darin, dass dieses ausführlich darauf eingehen solle, wie die Länder durch starke und belastbare Gesundheitssysteme, ein solides Arbeitskräfteangebot im Gesundheitswesen, einschließlich des gemeindenahen Personals, sowie eine angemessene inländische Gesundheitsfinanzierung allmählich eine allgemeine Gesundheitsversorgung verwirklichen können.

Gestern wurden Sie bereits über das Konzeptpapier zum Allgemeinen Arbeitsprogramm informiert, und ich danke Ihnen für Ihre Rückmeldung.

Letztlich ist dies Ihre WHO, und die Prioritäten, werden von Ihnen, den Mitgliedstaaten, festgelegt.

Gestatten Sie mir, Sie noch einmal kurz an die von uns vorgeschlagenen Prioritäten zu erinnern.

Unser Ausgangspunkt sind die Ziele für nachhaltige Entwicklung. Sie sind der Rahmen für all unser Handeln. Sie beinhalten die Prioritäten, die Sie, die Mitgliedstaaten, vereinbart haben, und wir müssen sie uns zu eigen machen. Es gibt viele Synergien zwischen der Agenda 2030 und „Gesundheit 2020“, dem Rahmenkonzept der Europäischen Region für Gesundheit und Wohlbefinden; insbesondere legen beide großen Wert auf Chancengleichheit.

Von den SDG ist ein Ziel ausdrücklich der Gesundheit gewidmet, doch trägt Gesundheit auch zu den meisten anderen Zielen bei oder profitiert von ihnen. Einige der größten gesundheitlichen Zugewinne werden aus Verbesserungen außerhalb der Gesundheitspolitik erwachsen. Daher muss sich die WHO, um schneller Fortschritte erzielen zu können, mit Partnern in allen maßgeblichen Politikbereichen verbünden, denn solange diese nicht alle an einem Strang ziehen, wird es nicht gelingen, die sozialen, politischen und ökonomischen Determinanten wirksam in Angriff zu nehmen.

Im Zusammenhang mit den SDG wird in dem Konzeptpapier zum Allgemeinen Arbeitsprogramm folgende Mission für die WHO vorgeschlagen: Sicherheit für die Welt, Verbesserung der Gesundheit und Hilfe für die Schwächsten. Lassen Sie mich das wiederholen: Sicherheit für die Welt, Verbesserung der Gesundheit und Hilfe für die Schwächsten. Bei einer Mission ist eine klare Formulierung immer wichtig. So sehe ich die Mission der WHO. Um sie erfüllen zu können, schlage ich fünf strategische Prioritäten vor.

Erstens erwartet die Welt von der WHO, dass sie Epidemien und andere gesundheitliche Notlagen verhindern, aufdecken und bekämpfen kann.
Dazu zählt die dringend notwendige Bekämpfung der Ausbreitung antimikrobieller Resistenzen. Dieses Thema ist hier in der Europäischen Region besonders relevant. In dieser Region sind über 6% aller Todesfälle auf resistente Bakterienstämme zurückzuführen. Dies ist keine theoretische Bedrohung, sondern eine sehr reale und aktuelle Gefahr. Wenn wir sie nicht als dringende globale gesundheitliche Notlage behandeln, dann werden wir den alltäglichsten Infektionen schutzlos ausgeliefert sein.

Es gibt vielleicht kein anschaulicheres Beispiel für die Notwendigkeit ressortübergreifender Maßnahmen als antimikrobielle Resistenzen. Dieses Problem können wir im Gesundheitswesen nicht allein lösen; vielmehr brauchen wir eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Lebensmittelbranche und der Landwirtschaft, wenn wir uns irgendeine Hoffnung auf Erfolg machen wollen.

Es ermutigt mich zu sehen, dass Mitgliedstaaten wie das Vereinigte Königreich, die Niederlande und Dänemark im Kampf gegen antimikrobielle Resistenzen voranschreiten. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie hier eine Führungsrolle übernommen haben.

Die zweite Priorität ist eng mit der ersten verknüpft: die Erbringung von Gesundheitsleistungen in Notlagen und Hilfe beim Wiederaufbau der Gesundheitssysteme in instabilen, von Konflikten betroffenen und gefährdeten Staaten. Und genau das tut die WHO durch ihr Büro in Gaziantep (Türkei), wo wir unentbehrliche Gesundheitsleistungen für den Norden Syriens bereitstellen. In den kommenden Tagen werden wir über Gaziantep die erste Sendung mit Notfall-Kits zur Behandlung nichtübertragbarer Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Asthma nach Syrien liefern.

Die dritte Priorität ist die Unterstützung der Länder bei der Stärkung ihrer Gesundheitssysteme auf dem Weg zu einer allgemeinen Gesundheitsversorgung. Falls Sie noch nicht wussten, dass allgemeine Gesundheitsversorgung aus meiner Sicht die oberste Priorität für die WHO sein muss, dann wissen Sie es jetzt. Gesundheit darf kein Luxus für diejenigen sein, die ihn sich leisten können. Gesundheit ist ein Menschenrecht und eine politische Grundsatzentscheidung, um die ich die Länder dringend bitten möchte.

Der Weg zu einer allgemeinen Gesundheitsversorgung führt über Investitionen in die Gesundheitssysteme, die als Bindeglied für all die Prioritäten aus dem Allgemeinen Arbeitsprogramm – unserem strategischen Plan – dienen. Entscheidend sind dabei der Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln, die heute in erheblichem Maße für Zuzahlungen zu den Gesundheitsausgaben verantwortlich sind, sowie ein quantitativ und qualitativ passend zugeschnittenes Arbeitskräfteangebot zur Befriedigung der heutigen gesundheitlichen Erfordernisse. Beide Themen stehen diese Woche auf Ihrer Tagesordnung.

Um die Fortschritte auf dem Weg zu einer allgemeinen Gesundheitsversorgung messen zu können, müssen wir die Ausgangslage kennen. Daher werden wir Ende diesen Jahres unseren ersten Bericht zur allgemeinen Gesundheitsversorgung veröffentlichen, in den Informationen über das Abschneiden der einzelnen Länder in Bezug auf die drei Dimensionen eines Gesundheitssystems – Leistungserbringung, finanzielle Absicherung und Chancengleichheit – einfließen werden.

Wir werden auch die besten Praktiken dokumentieren und mit den Ländern zusammenarbeiten, um evidenzbasierte Lösungen umsetzen zu können.

Die vierte Priorität besteht darin, schnellere Fortschritte in Bezug auf die konkreten gesundheitsbezogenen Vorgaben aus den SDG zu erzielen. Ich habe die SDG schon als den Rahmen bezeichnet, innerhalb dessen unsere gesamte Arbeit angesiedelt sein wird, doch tragen wir auch die Verantwortung dafür, dass die praktischen Instrumente und das fachliche Know-how bereitgestellt werden, die die Länder für Fortschritte bei den konkreten gesundheitsbezogenen Vorgaben benötigen.

Wir werden uns hier auf vier Felder konzentrieren: Verbesserung der Gesundheit von Frauen, Kindern und Jugendlichen; Beendigung der Epidemien von HIV, Tuberkulose, Malaria und Hepatitis; Prävention vorzeitiger Todesfälle aufgrund nichtübertragbarer Krankheiten, einschließlich psychischer Erkrankungen; und Schutz vor den gesundheitlichen Folgen des Klimawandels und der Umweltbelastung.

Abschließend möchte ich sagen, dass wir das globale Steuerungsorgan für Gesundheitspolitik sind. Hier hat die WHO einen entscheidenden Platzvorteil: nur sie verfügt über das Ansehen und die Glaubwürdigkeit, um die zahlreichen Akteure in der globalen Gesundheitspolitik an einen Tisch zu bringen und einen Konsens im Hinblick auf die Verwirklichung gemeinsamer Ziele herbeizuführen. Die WHO kann und muss daher eine entscheidende Rolle bei der Ausgestaltung der zunehmend komplexen globalen Gesundheitsarchitektur spielen.

Wir wissen alle, dass Strategien manchmal einfach auf dem Regal verstauben. Das Konzeptpapier befasst sich nicht nur mit der Frage, was die WHO tun wird, sondern auch, wie wir es schaffen wollen – und natürlich auch der wichtigsten Frage: warum wir es tun sollten. Es nennt mehrere große Umstellungen, die ich hier hervorheben möchte.

  1. Wir werden uns stärker auf Ergebnis und Wirkung konzentrieren.
  2. Wir werden Prioritäten setzen.
  3. Wir wollen noch stärker operativ tätig werden, gerade in instabilen, von Konflikten betroffenen und gefährdeten Gebieten.
  4. Wir werden die Länder in den Mittelpunkt der Arbeit der WHO rücken.
  5. Wir werden politisch führen, indem wir uns auf globaler Ebene für Gesundheit einsetzen. Die WHO wird künftig außer auf Fachkompetenz auch stärker auf politische Kompetenz setzen.

Die WHO sollte nicht davor zurückschrecken, sich mit den führenden Politikern unserer Welt zu treffen. Unser Anliegen ist zu wichtig, und es steht zu viel auf dem Spiel. Sinnvolle Veränderungen sind möglich, wenn sich die Politik dafür einsetzt. Die WHO darf daher keine Angst davor haben, bei der Erfüllung ihrer Mission über die fachliche Ebene hinaus auf die politische Bühne zu treten.

Wo ich auch hinkomme, bin ich stets zutiefst ermutigt von der Entschlossenheit der höchsten politischen Ebene, mehr für die Gesundheit zu tun.

Ich sehe auch großen Enthusiasmus für die WHO und für Ihrer aller Einsatz. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass politischer Wille der Schlüssel zur Veränderung ist. Er allein reicht zwar nicht aus, aber ohne ihn sind Veränderungen ungleich schwieriger zu erreichen. Für einen Paradigmenwechsel benötigen wir ein Eingreifen der Politik.

Meine Freunde, Herr Premierminister, wir sind hier, weil uns die Gesundheit der Weltbevölkerung am Herzen liegt. Sie muss jetzt und in den kommenden Wochen und Monaten in unseren Gedanken und Überlegungen allgegenwärtig sein.

Vor uns liegen enorme Herausforderungen – ebenso groß muss unser Anspruch sein.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Köszönöm.

Und noch einmal vielen Dank an Sie, Herr Ministerpräsident. Diese Art von politischem Engagement ist das, was wir uns wünschen und auch benötigen – und ein Musterbeispiel für politische Führung. Also noch einmal vielen Dank, und ich sehe unserer Zusammenarbeit erwartungsvoll entgegen.