Experten befassen sich auf Tagung in Tiflis mit dem besorgniserregenden Anstieg der Zahl der Kaiserschnitte

Bei einer Tagung der WHO in Tiflis (Georgien) kamen Vertreter der Mitgliedstaaten sowie Politiker und Experten aus 19 Ländern zusammen, um sich auf einen Weg zu verständigen, wie sich die Zahl der unnötigen Kaiserschnitte in der Europäischen Region der WHO senken lässt.

Die Zahl der Kaiserschnitte zur Entbindung hat in den letzten 20 Jahren dramatisch zugenommen und nimmt Ärzten zufolge epidemische Ausmaße an. Es sind unvoreingenommene, evidenzbasierte Informationen nötig, um Frauen und Geburtshelfern als Wegweiser zu dienen und so die Anwendung von Kaiserschnitten zu optimieren.

Dr. Nino Berdzuli, Leiterin des Programms für sexuelle und reproduktive Gesundheit und die Gesundheit von Müttern und Neugeborenen beim WHO-Regionalbüro für Europa, eröffnete die Tagung mit einem deutlichen Hinweis auf die bestehende Herausforderung: „Die Operation ist lebenswichtig, wenn während Schwangerschaft und Geburt Komplikationen auftreten. Doch bei einer Kaiserschnittrate von mehr als 10% bis 15% gibt es keinerlei Beleg dafür, dass der Eingriff zu einer Reduzierung der Mütter- und Neugeborenensterblichkeit beiträgt. Vielmehr kann die Operation zu Komplikationen führen und sollte nur dann vorgenommen werden, wenn sie medizinisch notwendig ist.“

Präsentationen aus Ländern in der gesamten Region zeigen enorme Unterschiede bei der Kaiserschnittrate (zwischen 7% und 51%) und besorgniserregende Trends auf. Während sie in Teilen Nordeuropas zwischen 2010 und 2015 unter 20% lag, stieg sie in verschiedenen Ländern Südosteuropas auf 50% und mehr an.

Diese auffallenden Unterschiede bei der Kaiserschnittrate in der gesamten Europäischen Region werfen Fragen bezüglich der kurzfristigen und auch langfristigen Auswirkungen von Kaiserschnitten auf die Gesundheit von Mutter und Kind auf. Zudem unterstreichen sie die unterschiedlichen Entbindungspraktiken in den verschiedenen Ländern der Europäischen Region.

Mütter sind sich der Risiken oft nicht bewusst

Für die Mütter kann ein Kaiserschnitt im Hinblick auf zukünftige Schwangerschaften negative Folgen wie etwa ein höheres Risiko einer spontanen Frühgeburt, einer Uterusruptur und einer abnormalen Plazentabildung haben. Dies kann zu übermäßigen Blutungen bei der Mutter führen und oftmals die Entfernung der Gebärmutter erforderlich machen.

Für Säuglinge ist ein Kaiserschnitt mit Risiken verbunden, die den Müttern nicht immer bewusst sind, so etwa eine höhere Wahrscheinlichkeit für:

  • eine Aufnahme auf die Intensivstation für Neugeborene;
  • eine neonatale Depression aufgrund der Allgemeinanästhesie;
  • Atemnot, selbst bei einer termingerechten Entbindung;
  • Komplikationen beim Stillen;
  • Asthma; und
  • Adipositas.

Zudem haben Forschungen ergeben, dass höhere Kaiserschnittraten in den Ländern keine Garantie dafür sind, dass der Eingriff bei allen Frauen, bei denen er medizinisch erforderlich wäre, auch vorgenommen wird. Dies gilt insbesondere für ländliche Gebiete, zum Teil aufgrund fehlender Einrichtungen und mangelnder Qualifikationen.

Falsche Vorstellungen und Bequemlichkeit Hauptgründe für die Wahl eines Kaiserschnitts

In Studien aus zahlreichen Ländern werden wiederholt folgende Gründe für den Anstieg der Kaiserschnittraten genannt:

  • Angst vor Schmerzen;
  • Bedenken über Veränderungen im Genitalbereich nach einer vaginalen Entbindung;
  • der Irrglaube, dass ein Kaiserschnitt sicherer für das Baby ist;
  • Bequemlichkeit sowohl für die Gesundheitsfachkräfte als auch für die Mutter und deren Familie;
  • falsche finanzielle Anreize durch höhere Erstattungssätze für eine Entbindung per Kaiserschnitt als für vaginale Entbindungen;
  • Angst vor medizinischen Rechtsstreitigkeiten; und
  • eine geringere Toleranz für jegliche Art von Komplikationen oder temporäre ästhetische Unvollkommenheiten aufgrund der Entbindung durch den Geburtskanal.

Seit etlichen Jahren entscheiden sich Ärzte oftmals für eine Entbindung per Kaiserschnitt, da sie einfacher zu planen ist. Dies macht sie bequemer sowohl für die Ärzte als auch für die Mütter, insbesondere im Vergleich zu ungeplanten und oftmals langwierigen instrumentellen Entbindungen.

Ein übermäßiger Rückgriff auf Kaiserschnitte birgt jedoch Probleme für die medizinische Ausbildung: er kann zu Ausbildungsdefiziten im Hinblick auf die klinischen Fähigkeiten führen, die notwendig sind, um bei instrumentellen Entbindungen mit Komplikationen umzugehen. Dies gibt Anlass zu Befürchtungen in Bezug auf rechtliche Konsequenzen.

„Eine Zunahme der Zahl der Kaiserschnitte führt darüber hinaus zu unnötigen finanziellen Belastungen für die Gesundheitssysteme“, erklärte Dr. Berdzuli. „Medizinisch unnötige Kaiserschnitte stellen keine effiziente Nutzung der begrenzten Ressourcen im Gesundheitswesen dar. Es müssen Handlungskonzepte entwickelt werden, die Gesundheitseinrichtungen dazu ermutigen, eine auf Werte gestützte, kosteneffektive Gesundheitsversorgung anzubieten.“

Zu den Faktoren, die höhere Raten vaginaler Entbindungen begünstigen, gehören restriktive Konzepte für den Wunsch der Mütter nach einem Kaiserschnitt, kultureller bzw. sozialer Druck und Unterschiede beim rechtlichen Rahmen für medizinische Rechtsstreitigkeiten sowie Strategien zugunsten von Hausgeburten oder von Hebammen geleiteten Entbindungen.

Vorteile einer vaginalen Entbindung kaum bekannt

Es gibt zahlreiche Studien über die Vorteile einer vaginalen Entbindung für den Fötus, und insbesondere ein konkreter Vorteil – die vaginale Mikrobiota der Mutter – wurde erst in jüngster Zeit identifiziert. Eine vaginale Entbindung setzt den Säugling jenen Mikroben aus, die sich im Geburtskanal der Mutter finden und die sich auf die physische und neurokognitive Entwicklung und das Krankheitsrisiko im gesamten Lebensverlauf auswirken können. Zusammen mit dem ausschließlichen Stillen beeinflusst dies die Reifung des Immunsystems des Säuglings und seine Gesundheit während der ersten 1000 Tages seines Lebens.

Die Herausforderung für die Länder besteht darin, die Gründe für die hohen Kaiserschnittraten in ihrem jeweiligen nationalen Kontext zu ermitteln und zu prüfen, wie sich der Status des Kaiserschnitts verändern lässt: von der normalen Entbindungsform zu einem Eingriff, der nur dann vorgenommen wird, wenn er medizinisch notwendig ist.

Die WHO hat vor kurzem einen Leitfaden für die Reduzierung der Zahl unnötiger Kaiserschnitte veröffentlicht, der bereits als Diskussionsgrundlage dient. Mit Hilfe ihrer Partnerorganisationen wird die WHO das weitere Vorgehen erleichtern, die Überzeugungsarbeit verbessern und Frauen dazu befähigen, ihre Gesundheitskompetenz auszubauen.

Die Tagung in Tiflis schloss mit einem Handlungsappell und der Präsentation der zentralen Handlungsschwerpunkte auf Ebene der Länder, der Europäischen Region und weltweit.