Erklärung – COVID-19: Regionsweite Kohärenz und kollektive Unterstützung sind von maßgeblicher Bedeutung

Kopenhagen, 17. September 2020, Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, an die Presse

Kopenhagen, 17. September 2020

Guten Morgen.

Die aktuelle Lage wird immer ernster. Die wöchentlichen Fallzahlen übersteigen mittlerweile die gemeldeten Fälle im März, als die Pandemie in Europa ihren ersten Höhepunkt erreichte.

In der letzten Woche überstiegen die wöchentlichen Zahlen in der Europäischen Region die Marke von 300 000 Fällen. Mehr als die Hälfte der europäischen Länder meldete in den letzten zwei Wochen einen Anstieg der Fallzahlen um mehr als 10%. Von diesen stiegen in sieben Ländern die neu gemeldeten Fälle im gleichen Zeitraum um mehr als das Doppelte.

Im Frühjahr und Frühsommer konnten wir die Wirkung der konsequenten Lockdown-Maßnahmen erkennen. Unsere Anstrengungen, unsere Opfer zahlten sich aus. Im Juni erreichten die Fallzahlen ein Rekordtief.

Die Fallzahlen im September sollten uns jedoch alle wachrütteln.

Auch wenn diese Zahlen auch umfassendere Tests widerspiegeln, zeigen sie doch alarmierende Übertragungsraten in der gesamten Region. Auch wenn wir in der ersten Septemberwoche einen Anstieg der Fallzahlen unter älteren Altersgruppen (der 50-64-Jährigen und der 65-79-Jährigen) verzeichneten, entfällt der größte Anteil der Fälle weiterhin auf die 25–49-Jährigen.

Diese Pandemie hat uns so viel gekostet. In der Europäischen Region wurden 4 893 614 Fälle von COVID-19 gemeldet, und 226 524 Todesfälle. Dies ist jedoch nur ein Teil der Geschichte – auch die Auswirkungen auf unsere psychische Gesundheit, Volkswirtschaften, Lebensgrundlagen und Gesellschaft sind gewaltig.

Die erste Botschaft, die ich am heutigen Tag an Sie richten möchte, ist ein Aufruf zu regionsweiter Kohärenz – einer verstärkten, gemeinsamen Anstrengung aller Mitgliedstaaten der Europäischen Region zugunsten aller europäischen Mitgliedstaaten.

Die Reaktion auf die Krise war bisher sehr effektiv, wenn rasch und entschieden gehandelt und entsprechende Maßnahmen ergriffen wurden. Doch das Virus ist erbarmungslos, sobald Parteilichkeit und Falschinformationen die Oberhand gewinnen. Wie sich die Pandemie weiterentwickelt, liegt in unseren Händen. Wir waren schon vorher in der Lage, sie zurückzudrängen, und das können wir auch erneut schaffen.

Am Montag dieser Woche stimmten die 53 Mitgliedstaaten der Europäischen Region auf der Tagung des WHO-Regionalkomitees für Europa einvernehmlich einer auf die nächsten fünf Jahre angelegten neuen Zukunftsvision für Gesundheit zu. Das Europäische Arbeitsprogramm (EPW) zielt in erster Linie darauf ab, die Bedürfnisse und Erwartungen der europäischen Bürger zu erfüllen. Durch ihre Zustimmung erkannten die Länder die Bedeutung von Solidarität und Vertrauen zwischen unseren Ländern an. Ich glaube fest daran, dass die Bereitschaft besteht, nach dieser Philosophie zu leben, da sie zum Schutz all unserer Gemeinschaften beitragen wird.

Wir werden uns auch weiterhin bei staatlichen Institutionen für politische Entscheidungen einsetzen, die Ausdruck einer tatsächlichen Veränderung der Lage sind und durch epidemiologische Daten begründet sind. Dass wir dazu in der Lage sind, hat sich deutlich gezeigt, als in der gesamten Region die Schulen allmählich wieder eröffnet wurden. Ein tolles Beispiel für diese Art von Kohärenz war die Konferenz zum Thema Schulbetrieb, die wir im August gemeinsam mit dem Gesundheitsminister Italiens, Roberto Speranza, ausgerichtet haben und die zu der einvernehmlichen Publikation „Sicherer Schulbetrieb während der COVID-19-Pandemie“ führte, die auf unserer Website verfügbar ist.

Mit meiner zweiten Botschaft möchte ich auf die Notwendigkeit aufmerksam machen, dass wir unser gegenwärtiges Wissen und unsere aktuellen Erkenntnisse nutzen müssen, um auf Bewährtes zu setzen und ungeeignete Maßnahmen zu unterlassen. Wir wissen, dass wir mehr Kapazitäten in Krankenhäusern und auf Intensivstationen sowie persönliche Schutzausrüstung brauchen. Doch auch die primäre und gemeindenahe Versorgung muss besser eingebunden werden.

Wir wissen, dass wir unser Gesundheitspersonal und andere an vorderster Front tätige Personen, die unsere Gesellschaft am Laufen halten, ebenso schützen müssen wie ältere Menschen in Langzeitpflegeeinrichtungen. Und wir wissen, dass grundlegende Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit funktionieren, darunter etwa die Ausweitung von Tests, Händewaschen, räumliche Distanzwahrung, die Verwendung von Schutzmasken, wenn Distanzwahrung nicht möglich ist, und die Vermeidung großer Menschenansammlungen.

Und wir müssen rastlos sein bei der Aktualisierung der wissenschaftlichen Kenntnisse, wenn mehr Evidenz zur Verfügung steht. Nehmen Sie zum Beispiel Quarantänemaßnahmen als einen Eckpfeiler unseres Kampfes gegen COVID-19. Der 14-tägige Quarantänezeitraum geht auf eine konservative Schätzung der Ansteckungszeit zurück, die – trotz weiterhin bestehender Ungewissheit – den Zeitraum vor und nach dem Auftreten von Symptomen abdeckt, in dem Menschen ansteckend sein könnten. In dem Wissen um die immensen individuellen wie auch gesellschaftlichen Auswirkungen, die selbst eine leichte Reduzierung der Quarantänezeit mit sich bringen kann, und angesichts der gerade genannten Zahlen, fordere ich die Länder der Region dazu auf, ordnungsgemäße wissenschaftliche Verfahren mit ihren Experten durchzuführen und Optionen für eine sichere Reduzierung zu erforschen. Das Konzept der Quarantäne muss geschützt, kontinuierlich angepasst, den Menschen deutlich erklärt und gut und eindeutig kommuniziert werden.

Ich biete die regionsweite Anziehungskraft des Regionalbüros, um zu gewährleisten, dass derartige Diskussionen unter den Mitgliedstaaten auf kohärente und koordinierte Weise stattfinden und anschließend gemeinsam an die Menschen in Europa kommuniziert werden. Ihre Einhaltung der Quarantänezeit ist am Ende das, was den Zweck der Quarantäne ausmacht und bestimmt.

Trotz der weiterhin weit verbreiteten Einhaltung der und Unterstützung für die Strategien zur Bekämpfung der Pandemie in der Bevölkerung der gesamten Region, berichten und dokumentieren die Mitgliedstaaten doch eine gewisse Ermüdung gegenüber COVID-19 in ihrer Bevölkerung. Meine dritte Botschaft lautet daher, dass wir die Bedenken der Menschen verstehen und Empathie für die eintretende Ermüdung zeigen müssen.

Ermüdung ist eine zu erwartende und natürliche Reaktion auf eine langfristige gesundheitliche Krise, die für jeden erhebliche Folgen in ihrem Alltag mit sich gebracht hat. Besser zu verstehen, wer genau diese Ermüdung verspürt und welche Beweggründe und Hindernisse mit schützenden Verhaltensweisen einhergehen, ermöglicht es uns, Maßnahmen zu unterteilen und auf jene Menschen zuzuschneiden, für die sie am dringendsten sind, und sie auf die Bedürfnisse spezieller Bevölkerungsgruppen auszurichten.

Hierzu sind erfolgreichere und kostenwirksamere Handlungskonzepte und Interventionen sowie entsprechende Kommunikation erforderlich. Es bedarf der Einbindung von Disziplinen außerhalb des biomedizinischen Bereichs, wie etwa der Sozial- und Geisteswissenschaften.

In dieser Hinsicht fördert die WHO vier zentrale Strategien, um der Ermüdung entgegenzuwirken.

  1. Sammlung und Nutzung von Evidenz für gezielte, maßgeschneiderte Interventionen. Das WHO-Regionalbüro für Europa arbeitet mit 27 Ländern an der Durchführung von Erhebungen zu verhaltensbezogenen Erkenntnissen.
  2. Wege finden, um Menschen und Gemeinschaften auf jeder kommunalen Ebene einzubinden. Beispielsweise wurden in Dänemark über die Facebook-Seite „True Story“ (Wahre Geschichte) Influenzer mit Video-Tagebüchern eingebunden, in denen es darum geht, wie es ist, jung und allein zu sein. Diese Seite hat bislang 4 Millionen Menschen erreicht.
  3. Schwerpunktlegung soweit möglich auf die Schadensverringerung, anstatt auf einen erneuten Lockdown. Auch die Jugend sollte eingebunden werden, um neue, sichere Wege zu finden, wie man gesellig sein kann.
  4. Harte Umstände anerkennen. Hoffnung und Empathie kommunizieren.

Für bestimmte Unter- oder Altersgruppen, etwa Jugendliche, bedeutet dies, sich darum zu bemühen, die Hindernisse besser zu verstehen, mit denen sie konfrontiert sind, sie einzubinden, harte Umstände anzuerkennen und Empathie zu zeigen und sie zu einem Teil der Lösung zu machen. Von Verboten zu Verhaltensänderungen übergehen und neue, sichere Wege finden, wie man gesellig sein und Einsamkeit vorbeugen kann.

Das WHO-Regionalbüro für Europa entwickelt derzeit einen Rahmen, um nationalen wie auch kommunalen Behörden dabei behilflich zu sein, nationale und subnationale Strategien zu entwickeln und umzusetzen, um Ermüdung entgegenzuwirken und die öffentliche Unterstützung für Empfehlungen und Schutzmaßnahmen gegen COVID-19 wieder neu zu entfachen.

Ich wiederhole noch einmal meine drei Botschaften.

  1. Regionsweite Kohärenz und kollektive Unterstützung sind von maßgeblicher Bedeutung.
  2. Das uns zur Verfügung stehende Wissen und aktuelle Erkenntnisse müssen bestmöglich genutzt werden.
  3. Ermüdung ist nur natürlich und muss besser nachvollzogen und in Angriff genommen werden, wo sie uns gefährden könnte.

Zum Abschluss möchte ich noch unsere Unterstützung für die Präsidentin der Europäischen Kommission, Dr. Ursula von der Leyen, bekunden. Gestern hielt Dr. von der Leyen ihre Rede zur Lage der Union vor dem Europäischen Parlament. Darin befürwortete sie die Wiederbelebung des Multilateralismus und forderte eine zwecktaugliche WHO. Gleichzeitig lobte sie unsere gemeinsamen Anstrengungen.

Wir teilen ihre Vision einer Europäischen Gesundheitsunion. Zusammen mit der EU-Kommissarin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Dr. Stella Kyriakides, veröffentlichten wir im Rahmen der Tagung des Regionalkomitees am letzten Montag eine gemeinsame Erklärung, mit der wir eine historische Partnerschaft zwischen der Europäischen Kommission und dem WHO-Regionalbüro für Europa zugunsten aller Mitgliedstaaten und Menschen eingehen, denen unsere beiden Organisationen dienen.

Kommissionspräsidentin von der Leyen sagte, sie „glaube fest an die verborgene Kraft des menschlichen Geistes“, der meiner Meinung nach auch den Kern unserer Reaktion bildete. An diesem Geiste müssen wir wieder ansetzen, um gemeinsam einen Sprung nach vorne in eine bessere Zukunft für unsere Gesellschaft zu machen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.