Erklärung – Überdenken politischer Konzepte vor dem Hintergrund der Pandemie
Erklärung von Prof. Mario Monti, Vorsitzender der Paneuropäischen Kommission für Gesundheit und nachhaltige Entwicklung, auf einer Informationsveranstaltung des WHO-Regionalbüros für Europa für die Presse
27. August 2020
Vielen Dank. Ich freue mich, heute von der Bocconi-Universität in Mailand zu Ihnen sprechen zu können. Zunächst möchte ich die Vertreter der Presse und auch einige meiner Kolleginnen und Kollegen bei diesem wahrlich herausfordernden Abenteuer begrüßen. Es ist mir eine Ehre, Prof. McKee in unserer Kommission zu wissen, einen wahrlich herausragenden Gesundheitswissenschaftler von internationalem Ruf.
Vor allem Ihnen, Dr. Kluge, lieber Hans, möchte ich für Ihre freundlichen Worte der Begrüßung danken. Danken möchte ich Ihnen aber auch für Ihre Zukunftsvision und dafür, dass Sie die Idee zur Einsetzung dieser Kommission hatten und dass Sie diese Initiative in konzeptioneller Hinsicht vorangetrieben und mich eingeladen haben, darin den Vorsitz zu übernehmen.
Gestatten Sie mir, auch einige Worte über die Paneuropäische Kommission für Gesundheit und nachhaltige Entwicklung zu sagen. In gewisser Weise ist die Vorsilbe „pan“ hier das Schlüsselwort, denn wir haben es mit einer Pandemie zu tun, und wir haben eine Paneuropäische Kommission für 53 Mitgliedstaaten, denen das WHO-Regionalbüro für Europa gewissermaßen gehört. Doch das Wörtchen „pan“ hat auch Auswirkungen auf die eigentliche Substanz unserer Arbeit, die, wie ich meine, mit dem gewählten Untertitel – Überdenken politischer Konzepte vor dem Hintergrund der Pandemie – sehr treffend beschrieben wird. Somit geht es hier um einen ganzheitlichen Ansatz bei der Beantwortung der Frage, welche Lehren aus der Pandemie zu ziehen sind, nicht nur im Hinblick auf die Verbesserung der Gesundheits- und Sozialsysteme im Sinne von mehr Widerstandsfähigkeit (was für sich schon eine beträchtliche Aufgabe ist), sondern auch hinsichtlich der Veränderung der Art und Weise, in der politische Entscheidungen auf der höchsten staatlichen Ebene getroffen werden.
Gestern haben wir mit unseren 17 Kommissarinnen und Kommissaren, mit einem wissenschaftlichen Koordinator und mit meiner Sonderberaterin Aleksandra Torbica, die hier neben mir sitzt, unsere erste Sitzung abgehalten. Auf dieser Sitzung haben wir uns auf einen Rahmen für unsere Arbeit, auf die angestrebten Ergebnisse und auf Wege zur Abstimmung geeinigt.
Warum also eine Kommission? Dr. Kluge hat es bereits sehr prägnant gesagt. Diese Pandemie ist leider immer noch eine prägende Krise unserer Zeit. Sie hat zum tragischen Verlust so vieler Menschenleben geführt, und aufgrund der komplexen Wechselwirkung gesundheitlicher, sozialer, ökologischer, ökonomischer und politischer Einflussfaktoren wird die Art und Weise, in der wir aus dieser Krise lernen und auf sie reagieren, auch das Wohlergehen heutiger und künftiger Generationen mitprägen.
Unsere Gesundheitssysteme, Volkswirtschaften und Sozialsysteme haben sich gegenüber dem Virus als fragil erwiesen. Die Pandemie ist eine ebenso ungeheure wie unerwartete Belastungsprobe für unsere Länder und ihre Infrastruktur. Zur wirksamen Bekämpfung von COVID-19 sind Kooperation, Abstimmung und Solidarität zwischen Kommunen, Politikbereichen und Ländern erforderlich. Die Pandemie hat die beträchtlichen Ungleichheiten unserer heutigen Welt in einem sehr düsteren Licht erscheinen lassen. Doch sie hat auch einmal mehr die Binsenwahrheit unterstrichen, dass niemand sicher ist, solange nicht alle sicher sind. COVID-19 ist eine beispiellose Gesundheitskrise, die eine noch nie dagewesene Antwort erfordert, doch sie bietet auch eine einzigartige Gelegenheit, unsere Gesundheits- und Sozialsysteme zu überprüfen und zu reformieren und sie angemessen auszustatten und hinreichend belastbar und widerstandsfähig zu machen.
Doch wenn wir uns konkret den Zielen unserer Kommission nähern, so wurde diese keineswegs nicht eingesetzt, um die enormen Probleme zu lösen, die sich unmittelbar aus der gegenwärtigen Pandemie ergeben. Denn das ist eine Aufgabe für alle Mitgliedstaaten in der Europäischen Region und weltweit. Es ist eine Aufgabe für die WHO und speziell die Europäische Region, und ich freue mich, dass wir heute für Fragen der Presse über die derzeit wichtigsten Aspekte – die anhaltende Bedrohung und die laufenden Bemühungen zu deren Beseitigung – äußerst fachkundige Personen unter uns haben, nicht nur Dr. Kluge und Prof. McKee, sondern auch Dr. Dorit Nitzan, die sich mit der Situation eingehend befasst und sie hoffentlich unter Kontrolle hat und die ich hiermit herzlich begrüße.
Die Paneuropäische Kommission für Gesundheit und nachhaltige Entwicklung wurde eingesetzt, um breiter angelegte, längerfristige Aufgaben auf eher ganzheitliche Art zu erledigen. Sie ist, soweit ich weiß, das einzige Gremium seiner Art. Die Kommission wird die aktuelle Wirtschafts- und Sozialpolitik unter einem Vergrößerungsglas betrachten und anhand der Erkenntnisse darüber, wie diese Politik während der Pandemie abgeschnitten hat, Empfehlungen zur Optimierung dieser Politik auf der nationalen und internationalen Ebene im Hinblick auf die Prognose, Verhinderung und Bewältigung künftiger Krisen abgeben.
Die Kommission wird sich auch um Partnerschaften mit Ländern und internationalen Organisationen bemühen, um die Debatte mit und zwischen Gesundheitsbehörden, Experten und Bürgerinitiativen zu erleichtern und Widerstandsfähigkeit in den Gesundheitssystemen und in allen Teilen der Gesellschaft aufzubauen.
Der Wissenschaftliche Beratungsausschuss unter der Führung von Prof. Elios Mossialos und mit der maßgeblichen Präsenz und Mitarbeit von Prof. McKee wird sicherstellen, dass die Arbeit der Kommission in Erfahrung und empirischen Erkenntnissen begründet ist.
Die Kommission wurde auf Initiative von Dr. Kluge einberufen und hat auch die Unterstützung von WHO-Generaldirektor Dr. Tedros. Doch beide haben betont – und ich hebe dies als wesentliche Eigenschaft und Verantwortung unserer Kommission ausdrücklich hervor –, dass die Kommission vollständig unabhängig ist. Weder die WHO noch die nationalen Regierungen haben ihr gegenüber irgendeine Weisungsbefugnis. Auch wenn das vielleicht unsere Aufgabe erleichtert hätte, so hätten wir es doch nie akzeptiert, weil wir doch hier versammelt sind, um uns unsere eigenen Gedanken zu machen und gemeinsam eine Reihe von unserer Meinung nach klugen Vorschlägen zu erarbeiten. So sind wir also gänzlich unabhängig: die Arbeit unserer Mitglieder, die Tagesordnung und die daraus resultierenden Empfehlungen werden einzig und allein von der Kommission geprägt. Doch natürlich wäre dies nicht möglich ohne die kühne Initiative von Dr. Kluge und auch nicht ohne die grundlegende organisatorische und logistische Unterstützung durch eine Institution wie die WHO.
Ein letzter Gedanke zu dieser Arbeit, der mir sehr am Herzen liegt: Auch wenn die Empfehlungen der Kommission in Bezug auf das Zusammenführen von Akteuren Neuland betreten können und sollten und Gesundheit und Wohlbefinden an die Spitze der politischen Tagesordnung katapultieren sollten, so müssen sie doch gleichzeitig inklusiv, praktisch und anwendbar sein. Dies ist nicht nur eine Kommission von Professoren, obwohl es darin zahlreiche gibt, sondern eine Kommission von Denkerinnen und Denkern, die die Verantwortung dafür tragen, etwas zu schaffen, dem man zustimmen kann oder nicht, aber das in jedem Fall praktisch und anwendbar sein soll.
Wer sind nun die Mitglieder der Kommission? Für eine derart monumentale Aufgabe müssen die hochrangigsten Experten mit all ihrem Sachverstand und ihrer Erfahrung aus einem breiten Spektrum von Fachgebieten herangezogen werden. Ich betrachte es als ein großes Privileg, in einer so renommierten Gruppe von Führungspersönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft den Vorsitz führen zu dürfen. Die Kommission setzt sich aus ehemaligen Staats- und Regierungschefs, namhaften Biowissenschaftlern und Ökonomen, Leitern von Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens sowie Führungspersönlichkeiten aus Privatwirtschaft und Finanzinstitutionen zusammen.
Ihre Mitglieder wurden von der WHO ernannt, natürlich auf unentgeltlicher Basis. Sie wurden von Dr. Kluge unter Rücksprache mit mir vorgeschlagen und ausgewählt. Sie wurden also nicht von Regierungen vorgeschlagen, auch wenn wir sehr auf die konstruktive Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern der Kommission und den Regierungen zählen. Ich freue mich über diese Herausforderung und verspüre doch gleichzeitig eine gewisse Demut. Zusammen haben wir die Chance, eine Verlagerung politischer Denkprozesse zu bewirken, die Gesundheit in den Vordergrund zu rücken, einen Konsens über Wege zur Verwirklichung dieser Ziele zu erreichen und damit vielleicht unseren Kontinent auf den richtigen Weg zur Schaffung glücklicher, gesunder und wohlhabender Gesellschaften zu bringen.
Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter in der Kommission, es liegt viel Arbeit vor uns. Wir haben uns verpflichtet, diese Grundsatzempfehlungen innerhalb eines Jahres auszuarbeiten und unseren Bericht im September nächsten Jahres zu veröffentlichen. Ich hoffe, dass Sie, die Vertreter der Presse und der verschiedenen Medien uns auf dieser Reise begleiten, anregen und ggf. kritisieren werden und dass Sie im Herbst kommenden Jahres dabei sein werden, wenn wir unsere Ergebnisse und Empfehlungen verkünden.
Vielen Dank, und damit gebe ich das Mikrophon zurück an Robb, unseren Moderator.