Wilmas Geschichte

Wenn du als Patient in die Mühlen der Psychiatrie gerätst, riskierst du auf eine psychische Störung oder ein verstörtes Objekt reduziert zu werden. Nur das, was für die Diagnose entscheidend ist, wird beachtet und gehört. Die Patienten werden untersucht, aber nicht wirklich gesehen; man hört ihnen zu und hört doch nicht wirklich.

Eine Psychose hat weitreichende, unermessliche Folgen. Der Sinn vieler Dinge wird entstellt. Die Welt wird unvertraut, unkenntlich und bedrohlich. Eine Psychose kann einem das Leben zur Hölle machen. Selbst die eigene Existenz ist nicht mehr selbstverständlich und auch sonst überhaupt nichts. Eine Psychose ist oft mit einem Gefühl der Entfremdung verbunden. Die Störung, die du hast, ist häufig eng verknüpft damit, wer du bist. Die Manifestationen deiner Krankheit dominieren manchmal deine gesamte Persönlichkeit. Die Unterscheidung zwischen Individuum und Erkrankung geht schnell verloren und ist nur schwer wieder zu finden. Ich bin schon seit sehr langer Zeit meine Störung.

Ich war noch keine 20, als ich schwere psychotische Beschwerden bekam, die von kräftigen Geräuschen in meinem Kopf und grenzenloser Angst begleitet wurden. Beim Versuch diese Symptome zu beherrschen wurde ich süchtig nach Alkohol, Drogen und Selbstzerstörung. Ich wollte weder hören noch fühlen; die betäubende Wirkung war – auch wenn das paradox klingt – sowohl eine Strategie des Überlebens als auch der Zerstörung.

Im Rausch entzog ich mich der Wirklichkeit und konnte mehr und mehr in meine eigene verrückte Welt eintauchen, mich von der Welt um mich herum abschotten. Eine Sache, an die ich mich aus dieser Zeit erinnere, war meine Angst und der Geruch von Zerstörung, der mich umgab.

Als ich schließlich nichts mehr aß und mich nicht mehr rührte, war ich buchstäblich zur lebenden Toten geworden. Seitdem sind zwanzig Jahre vergangen. Heute weiß ich, dass mich traumatische Erlebnisse aus meiner Vergangenheit verfolgten, aber damals war ich davon überzeugt, dass es unausweichlich war: Ich war das Problem und das musste gelöst werden.

Ich wurde in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen und blieb dort drei Jahre lang, danach wurde ich als chronische Patientin außerhalb der Klinik betreut. Ich wurde wegen meiner Störung behandelt, erlebte aber nie das Wunder einer Heilung. Die erste Psychose blieb nicht die letzte; ich wurde meine psychische Erkrankung einfach nicht los.

Die Psychiatrie gab meiner Familie und mir eine Erklärung für das, was mit mir nicht stimmte: Ich war ernsthaft psychisch erkrankt, litt an einer psychotischen Störung und wurde deswegen behandelt. Lange war dies meine einzige offizielle Lebensgeschichte. Auch ich selbst sah mich als gestört an und ich bekam die Störung nicht in den Griff.

Ja, ich hatte mich von mir selbst entfremdet. Ich sah mich auf Abstand wie ein fremdes Wesen, das eine besondere Art von Behandlung benötigte. Wenn sich meine Symptome verschlechterten, musste ich ins Krankenhaus zu den Ärzten und der Medizin. Und ich musste die Regeln befolgen: mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren, keine Ambitionen haben, tagsüber wach bleiben und nachts schlafen. Ich misstraute mir selbst, denn jederzeit konnte sich mein Zustand verschlechtern.

Dabei hatte ich eine dunkle Seite in mir, die ich nicht kannte und mich nicht zu erforschen traute. Ich vermied das Nachdenken darüber, was meiner Einweisung vorausgegangen war und was hinter meinem Leiden verborgen sein könnte. Ich versuchte ausschließlich, mich von der dunklen Seite so weit wie möglich fernzuhalten. Darin wurde ich von den Spezialisten, die ich im Laufe vieler Jahre in der Psychiatrie traf, bestärkt. Die allgemeine Vorstellung ist immer noch, dass das Reden über Psychosen das Risiko eines Rückfalls erhöht und dass man daher besser die Finger davon lässt. Ich hielt also den Deckel drauf und vermied es, mir die Störung anzusehen.

In den Jahren nach dem Aufenthalt in der Psychiatrie schaffte ich es, ein stabiles Leben aufzubauen. Ich hatte über Jahre hinweg keine Psychose, schuf mir eine Existenz, hatte eine Beziehung und eine Arbeit. Die Störung trat in den Hintergrund. Offen gesagt glaubte ich, ich hätte sie besiegt, und ich war überzeugt, dass ich nie wieder eine Psychose durchleben würde. Ich hatte einen Mann, eine Arbeit und ein Haus und alles war anders.

Aber dann hatte ich in relativ kurzer Folge mehrere schockierende Erlebnisse und ich wurde wieder psychotisch.

In den darauf folgenden Jahren musste ich mich entscheiden: Wollte ich dies nur als die Rückkehr einer sich verschlimmernden Störung betrachten oder wollte ich versuchen zu verstehen, was in meinem Leben vor sich ging?

Meine Psychosen als Störung zu akzeptieren, war für mich wie Aufgeben, nicht zuletzt wegen der schlimmen Nebenwirkungen der Antipsychotika. Ich konnte doch jetzt nicht aufgeben nach all dem, was ich schon erreicht hatte.

Stattdessen wollte ich lernen, über meine psychotischen Erlebnisse zu sprechen und ihre Bedeutung zu verstehen. Ich stellte aber fest, dass dieser Wunsch nicht als therapeutisch erforderlich akzeptiert wurde. Nach einer Reihe von Psychosen gilt jede Art von ernsthafter Kommunikation in der Psychiatrie als kontraindiziert. Meiner Erfahrung nach sind die Spezialisten sehr zurückhaltend, sich mit Leuten wie mir einzulassen und in die dunkle Geschichte von uns Menschen einzudringen, die psychotische Reaktionen hatten. Es gibt hierfür keine Orientierungshilfen. Ich denke, das erfordert eine große Portion Mut vom Patienten wie vom Therapeuten.

Heute sehe ich meine Psychosen nicht mehr als isolierte psychopathische Ereignisse an. Ich kann mich sogar kaum noch daran erinnern, dass ich sie je so gesehen hätte. Meine Psychosen waren meine Art, auf Kindheitserlebnisse zu reagieren. Sie sind die Antwort auf unberechenbare Übergriffe, denen ich als Kind ausgesetzt war.

Ich schlug meinen Vater, als ich nach Jahren der Unterwerfung endlich wütend genug war. Mein Vater verließ das Haus und drohte mit Selbstmord, worauf sich meine gesamte Familie gegen mich wandte. Das war für lange Zeit das letzte Mal, dass ich Wut verspürte. In den folgenden Jahren verlor ich meine ganze Kraft und tauschte sie gegen Schuldgefühle, Angst und unfassbare psychotische Erlebnisse ein. Ich wurde zum Problem, das gelöst werden musste.

Ich glaube nicht, dass Missbrauch an sich schon zu einer Psychose führen muss. Er tut weh, ist aber sonst eine relativ einfache Angelegenheit. Meiner Ansicht nach sind es die mit ihm verbundenen Drohungen und der Verrat, welche die Psychose nähren. Der Verrat der Familie, die sagt: „Du musst darum gebeten haben“, und die nicht für dich aufsteht, sondern den Täter rechtfertigt und das Opfer beschuldigt. Dadurch wird die Wirklichkeit für das Kind verzerrt; es wird gezwungen zu sagen, dass der Himmel grün ist, obwohl es doch sieht, dass er blau ist. Du wirst zum Selbstbetrug gezwungen und das schafft das Zwielicht, in dem du für eine Psychose anfällig wirst.

In der Psychiatrie wurde die Zone des Zwielichts noch ausgeweitet. Die Verzerrung der Wirklichkeit wurde mir erneut aufgezwungen. Nie untersuchte jemand, was mit mir geschehen war, oder fragte mich: „Was hat dich in den Wahnsinn getrieben?“ Ich wurde als gestörte Person observiert, diagnostiziert und therapiert, doch nie schaute jemand nach der Verbindung zu meiner Lebensgeschichte.

Psychotisch reagierende Missbrauchsopfer werden in der Psychiatrie keine Anerkennung als solche erfahren – wenn sie danach suchen. Viele von uns haben enorme Schuldkomplexe und sind davon überzeugt, dass wir für die Verbrechen Verantwortung tragen, deren Opfer wir in Wirklichkeit sind. Wir strafen uns selbst auf vielfältige Weise. Als psychiatrische Patienten halten wir unsere destruktiven Verhaltensmuster aufrecht und verlängern so unsere Opferrolle. Eigentlich ist die Karriere eines psychiatrischen Patienten die Wiederholung seines Traumas.

Heute geben mir meine psychotischen Erfahrungen kein Rätsel mehr auf. Ich weiß, was sie auslöst und was meine Erinnerungen in unkontrollierbare Flashbacks und unfassbare Halluzinationen verwandelt.

Ich habe gelernt, sie zu beschreiben und ihnen dadurch etwas von ihrer Bedrohlichkeit zu nehmen. Für mich war die Aufdeckung der Verbindung zwischen Psychose und Lebensgeschichte sehr hilfreich. Die Selbstzweifel haben abgenommen, weil meine psychotischen Erfahrungen verständlich wurden.

Hier endet meine Geschichte. Ich wollte nicht sagen, dass jeder Missbrauch zu einer Psychose des Opfers führt oder dass alle Menschen mit psychotischen Erfahrungen Missbrauchsopfer sind. Ich wollte aber zeigen, dass Psychosen eine verständliche Reaktion auf ein Trauma sein können und das vielleicht häufiger, als es heute anerkannt wird.

Meine Geschichte steht nicht alleine. Es ist belegt, dass traumatische Ereignisse wie Kindesmissbrauch mit psychotischen Erfahrungen verbunden sein können, doch wird dieser Zusammenhang in der Psychiatrie kaum erkannt. Es gibt kein Standardrepertoire für traumatische Erfahrungen, wenn du mit einer Psychose in die Welt der Psychiatrie eintrittst. Menschen, die auf Kindesmissbrauch psychotisch reagieren, können weder auf Anerkennung noch angemessene Unterstützung rechnen.

Ich denke, es ist an der Zeit, hieran etwas zu ändern.