Welche Lehren lassen sich aus Wilmas Geschichte für die Psychiatriepolitik ziehen?
Wilma beschreibt sehr eindrucksvoll, wie die Manifestationen einer Psychose die Persönlichkeit völlig beherrschen können und wie eine Psychose zu Selbstentfremdung führen kann. Wie stark ist der weitverbreitete Wunsch der Gesellschaft nach Distanz zu Personen mit psychotischen Symptomen ein Reflex auf die innere Entfremdung dieser Menschen selbst?
Die Entfremdung, die aus Wilmas psychotischer Erfahrung herrührt, scheint hier auf die Außenwelt projiziert zu werden, insbesondere auf die Psychiatrie als Institution und auf die Psychiater, die für das Wiederfinden zu sich selbst verantwortlich sind. In Wilmas Fall haben die Psychiater es offenbar lange versäumt, ihre Verbindung zur Außenwelt wieder herzustellen. Wahrscheinlich handelten sie in der besten Absicht, versagten aber, weil sie Wilma darin hinderten, den schmerzhaften Weg zu den Wurzeln ihrer Psychosen und damit auch den Wurzeln ihrer Persönlichkeit zurückzugehen. Wilma schildert mit verständlicher Bitterkeit, wie ihre „Störung“ nie geheilt wurde. Therapie und psychiatrische Behandlung halfen ihr zwar eine Existenz aufzubauen, eine Beziehung zu finden und einer Arbeit nachzugehen, doch verbargen sie zugleich vor ihr die Ursache ihrer Erkrankung, nämlich das Opfer von Kindesmissbrauch gewesen zu sein.
Diese Geschichte zeigt einmal mehr, wie groß das Risiko für einen Patienten mit psychischer Störung ist, zu einer Diagnose reduziert statt als Individuum mit Lebensgeschichte gesehen zu werden. Es zeigt, dass die Behandlung eines Menschen ohne Anhören seiner Geschichte bestenfalls Stabilität und einen Rahmen für ein normales Leben schafft, dass sie aber schlimmstenfalls das, was Wilma ihre „dunkle Seite“ nennt, erhält, also die erfahrene Verletzung und den daraus resultierenden Verlust an persönlicher Integrität, und damit eine mögliche Ursache für einen Rückfall bildet.
Wilmas Geschichte zeigt eindrucksvoll, dass die Selbstbefähigung eines „Patienten“ Psychiatrie, Politik oder Gesellschaft nicht abschrecken muss, sondern nur von ihnen den Mut verlangt, jemandem die Hand zu reichen, der oder die die Orientierung verloren hat. Wilmas Erfahrungen zeigen wie die vieler anderer mit schweren psychischen Störungen, wie sehr die Deutung der Wirklichkeit auf den Erklärungen anderer beruht, insbesondere solange wir Kinder sind. Wilmas Geschichte illustriert, wie zerbrechlich die feine Verbindung zwischen der inneren und der äußeren Welt ist.
Und vor allem zeigt sie, dass die Beschuldigung des Opfers für das Verbrechen die hässlichste Verzerrung der Wirklichkeit überhaupt ist.