Eine neue Zukunftsvision für die Europäische Region der WHO: Gemeinsam für mehr Gesundheit

Der Originalartikel mit dem Titel „A new vision for WHO's European Region: united action for better health“ wurde im Februar 2020 in The Lancet Public Health unter der Lizenz CC BY 4.0 veröffentlicht. Die Übersetzung ins Deutsche, Französische und Russische erfolgte durch das WHO-Regionalbüro für Europa.

In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat sich unser Leben fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. Digitalisierung, Globalisierung, Migration, Urbanisierung, Klimawandel und Ressourcenknappheit haben eine komplexere, multipolare Welt entstehen lassen. Im Gesundheitswesen stehen heute alle Länder in der Europäischen Region vor denselben Herausforderungen: den wachsenden Bedürfnissen unserer Bürger, die durch den demografischen Wandel und steigende Erwartungen bedingt sind, aber auch einem Kostenanstieg im Gesundheitswesen, einer ständig wachsenden Zahl innovativer Arzneimittel sowie Personalengpässen bei Gesundheitsfachkräften. Unsere Fähigkeit, hierauf zu reagieren, wird durch Fehlinformationen, populistische Kampagnen und eine Erosion des Vertrauens in staatliche Behörden beeinträchtigt. Angesichts dieser Entwicklungen braucht das WHO-Regionalbüro für Europa eine neue Zukunftsvision, die sowohl den Herausforderungen unserer heutigen Zeit als auch den Gefahren und Chancen von morgen gerecht wird.

Zuallererst muss sich diese Vision an den Anforderungen und Erwartungen der Regierungen orientieren, denen gegenüber die WHO rechenschaftspflichtig ist. Doch sie muss auch auf dem Grundsatz internationaler Solidarität und auf einer Bereitschaft, voneinander zu lernen, basieren, und zwar gleichermaßen in Bezug auf unsere Erfolge und Misserfolge. (1) Wir müssen die neuen Chancen, die sich uns bieten, wie etwa die digitale Revolution, konsequent nutzen, damit sie die gesundheitliche Chancengleichheit stärken und nicht beeinträchtigen und zur Verwirklichung des Menschenrechts auf Gesundheit beitragen. Nur so können wir eine gerechte, sichere und stabile Gesellschaft aufbauen.

Letztendlich kommt es darauf an, eine gesamteuropäische Gesundheitskultur zu schaffen, in der gesundheitsbezogene Ziele die Entscheidungen staatlicher und privater Akteure prägen und jeden Einzelnen zu gesundheitsförderlichem Handeln befähigen.

Erstens werden wir die wichtigsten Antriebskräfte der Krankheitslast in Angriff nehmen. (2) Unsere Ziele ergeben sich aus den Daten, die eine enorme Heterogenität unter unseren Mitgliedstaaten verdeutlichen. Einige Länder haben bemerkenswerte Fortschritte bei der Bekämpfung der größten Todesursachen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen erzielt, während andere noch mehr Arbeit vor sich haben. Wir müssen die hohe Prävalenz alkoholbedingter Erkrankungen und multiresistenter Tuberkuloseformen bekämpfen. Auch wenn wir gemeinsame Lösungen entwickeln müssen, so müssen diese doch auch auf die Bedürfnisse der einzelnen Länder zugeschnitten sein.

Zweitens müssen wir erkennen, dass die größten Bedrohungen für die öffentliche Gesundheit oft aus Entscheidungen in anderen Ressorts wie Wirtschafts-, Bildungs- und Sozialpolitik entstehen. (3) Wenn wir uns die sich verschärfenden Ungleichheiten zwischen wie auch innerhalb von Ländern, die Bevölkerungsalterung, die Ausbreitung antimikrobieller Resistenzen und neu oder wieder auftretender Infektionskrankheiten sowie die Zunahme von nichtübertragbaren Krankheiten und psychischen Erkrankungen vergegenwärtigen, dann stellen wir fest, dass wir zur Bewältigung dieser Herausforderungen einen biomedizinischen Ansatz durch andere Fachrichtungen und Fähigkeiten ergänzen müssen. Gesundheit ist ein Teil der Lösung für viele Probleme der heutigen Politik, zu denen auch eine gesamtstaatliche Haushaltsstabilität gehört. Wir sind entschlossen, die Gesundheitsminister bei ihren Gesprächen mit anderen Ressorts zu unterstützen, damit sie Wege finden können, gemeinsam in mehr Gesundheit zum Nutzen aller zu investieren. (4) Wir haben heute zwingende Belege dafür, dass eine gesündere Bevölkerung sowohl wirtschaftlich produktiver ist als auch über einen stärkeren sozialen Zusammenhalt verfügt. (5)

Drittens werden wir auf die Schaffung bürgernaher Gesundheitssysteme hinwirken, indem wir öffentliche Gesundheitsdienste, primäre Gesundheitsversorgung, fachärztliche Versorgung und Sozialfürsorge miteinander verflechten. Aufgrund der Bevölkerungsalterung haben immer mehr Menschen komplexe Bedürfnisse, und jeder sollte von der Vielzahl von Innovationen auf dem Gebiet der integrierten Versorgung profitieren können, die in allen Teilen unserer Region und darüber hinaus eingeführt werden. (6)

Viertens müssen wir alle Gruppen innerhalb der Bevölkerung schützen. Wir können es nicht oft genug sagen: Gesundheit ist ein Menschenrecht, das für alle gilt, unabhängig davon, wer sie sind. Gemeinsam müssen wir darauf hinarbeiten, die Bedürfnisse der unterversorgten, marginalisierten und am meisten anfälligen Bevölkerungsgruppen in der Europäischen Region zu erfüllen. (7) Wir können, wenn wir das wollen, unterversorgte Gruppen bestimmen und ihnen in vollem Umfang den Nutzen von Gesundheitsversorgung und Sozialfürsorge zukommen lassen. Es ist unsere moralische Verpflichtung, Gesundheit in allen Umfeldern zu einem gänzlich inklusiven und von Diskriminierung freien Gut zu machen; dies ist ein zentraler Bestandteil unseres Verständnisses von allgemeiner Gesundheitsversorgung.

In unseren Bemühungen fühlen wir uns ermutigt durch die Tatsache, dass wir mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDG) zum ersten Mal ein Bekenntnis der führenden Politiker aus der ganzen Welt zur Herbeiführung messbarer Verbesserungen in der Gesundheit ihrer Bürger haben. Gesundheit ist nicht nur ein Bestandteil des SDG 3 (Gesundheit und Wohlergehen), sondern auch in zahlreichen anderen dieser Ziele enthalten, wie der Beseitigung von Armut und Hunger, der Geschlechtergleichstellung und Befähigung aller Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung, der Verringerung von Ungleichheiten und der Förderung von Wirtschaftswachstum.

Diese Ziele bilden auch die Grundlage für das 2019 auf der Weltgesundheitsversammlung angenommene Arbeitsprogramm. (8)

Um sie zu verwirklichen, haben wir sechs strategische Schwerpunkte für das Regionalbüro festgelegt. Erstens werden wir einen Fahrplan für mehr Gesundheit in der Europäischen Region entwickeln. Er beinhaltet Maßnahmen zur Unterstützung der Länder bei der Bestimmung neu entstehender Herausforderungen und der Entwicklung praktischer Gegenmaßnahmen und stützt sich dabei auf Erfahrungen aus der gesamten Europäischen Region und darüber hinaus. Grundlage für den Fahrplan ist unser gemeinsames Streben nach Verwirklichung eines allgemeinen Zugangs zur primären Gesundheitsversorgung. (9)

Zweitens werden wir durch das Programm der WHO für gesundheitliche Notlagen die Länder bei der Stärkung ihrer Handlungsfähigkeit in Notlagen und bei anderen Bedrohungen für die Gesundheit unterstützen und rund um die Uhr operierende Kapazitäten zur Unterstützung in Krisensituationen schaffen und gleichzeitig einen Nothilfefonds einrichten, der bei Bedarf unverzüglich Mittel freigeben kann.

Drittens werden wir eine Europäische Akademie der WHO für transformative Führungskompetenz einrichten, um die Länder mit der Ausweitung wirksamer und nachhaltiger Innovationen zur grundlegenden Umgestaltung ihrer Gesundheitssysteme zu befähigen und so zukunftstauglich zu machen. Mit der Schaffung eines Netzwerks aus politischen Entscheidungsträgern und Experten für die laufende Betreuungs- und Schulungsarbeit werden wir uns den umfassenden Sachverstand in und jenseits unserer Region zunutze machen, beispielsweise durch das Europäische Observatorium für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik.

Viertens werden wir den Ländern dabei behilflich sein, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es den Menschen leichter machen, ein gesundes Leben zu führen, und die dazu beitragen, übertragbare wie nichtübertragbare Krankheiten zu verhindern, wissenschaftliche Kompetenz und Vertrauen in die Gesundheitsbehörden entstehen zu lassen und die Herausforderungen bei der Vermittlung von Erkenntnissen in der neuen digitalen Umgebung zu bewältigen. Das WHO-Regionalbüro für Europa wird ein neues Referat für die Verwertung von Einsichten einrichten, um die Evidenzgrundlage für Politikgestaltung und Interventionen zu erweitern. Dabei werden auch Fachdisziplinen außerhalb der Gesundheitspolitik sowie neue Lösungsansätze für die Diagnose von (sozialen, kulturellen und verhaltensbezogenen) Determinanten einbezogen.

Fünftens werden wir unsere strategischen Partnerschaften für mehr Gesundheit ausbauen. Auf der Ebene der Europäischen Region gehören dazu enge Beziehungen mit der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion sowie mit der Vielzahl der in der Europäischen Region tätigen globalen Organisationen, wie den anderen Sonderorganisationen der Vereinten Nationen, der Weltbank und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Ebenso werden wir unsere zahlreichen erfolgreichen Netzwerke wie die Initiative kleiner Länder der Europäischen Region und das Netzwerk Regionen für Gesundheit stärken und neue Wege für eine Zusammenarbeit mit Verbänden von Gesundheitsberufen und Patienten erforschen.

Schließlich müssen wir neben der Suche nach Exzellenz bei anderen auch unsere eigenen Strukturen und Verfahren eingehend prüfen, um das Regionalbüro zu einer beweglichen, auf die Länder ausgerichteten Organisation zu machen, deren Mitarbeiter gemeinsam für das Gemeinwohl eintreten.

Durch Entwicklung pragmatischer, aber ehrgeiziger länderspezifischer Maßnahmen in inklusiven Partnerschaften mit den betreffenden Ländern und den jeweils maßgeblichen Akteuren auf allen Ebenen können wir die Gesundheit der Menschen in der Europäischen Region sichern, aufrechterhalten und verbessern: Gemeinsam für mehr Gesundheit durch Maßnahmen, bei denen niemand zurückgelassen wird. Alles andere wäre ein Misserfolg.

Ich bin der Regionaldirektor beim Regionalbüro für Europa der Weltgesundheitsorganisation.

Copyright © 2020 The Author(s). Published by Elsevier Ltd. This is an Open Access article under the CC BY 4.0 license.

Hans Kluge

klugeh@who.int

WHO-Regionalbüro für Europa, UN City, 2100 Kopenhagen, Dänemark

  1. Mackenbach JP, Karanikolos M, McKee M. The unequal health of Europeans: successes and failures of policies. Lancet 2013; 381: 1125–34.
  2. GBD 2017 Causes of Death Collaborators. Global, regional, and national age-sex-specific mortality for 282 causes of death in 195 countries and territories, 1980–2017: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2017. Lancet 2018; 392: 1736–88.
  3. Ståhl T, Wismar M, Ollila E, Lahtinen E, Leppo K. Health in all policies: prospects and potentials. Helsinki: Ministry of Social Affairs and Health, 2006.
  4. McKee M, Kluge H. Include, invest, innovate: health systems for prosperity and solidarity. J Health Serv Res Policy 2018; 23: 209–11.
  5. Figueras J, McKee M. Health systems, health, wealth and societal well-being: assessing the case for investing in health systems. New York: McGraw-Hill Education, 2011.
  6. Nolte E, McKee M. Caring for people with chronic conditions: a health system perspective: New York: McGraw-Hill Education, 2008.
  7. Forman L, Beiersmann C, Brolan CE, McKee M, Hammonds R, Ooms G. What do core obligations under the right to health bring to universal health coverage? Health Hum Rights 2016; 18: 23–34.
  8. WHO. Dreizehntes Allgemeines Arbeitsprogramm (GPW 13). Weltgesundheitsorganisation, 2019. https://extranet.who.int/sph/news/13th-general- programme-work-gpw13 (eingesehen am 18. Dezember 2019).
  9. Kluge H, Kelley E, Swaminathan S, et al. After Astana: building the economic case for increased investment in primary health care. Lancet 2018; 392: 2147–52.

Der Originalartikel mit dem Titel „A new vision for WHO's European Region: united action for better health“ wurde im Februar 2020 in The Lancet unter der Lizenz CC BY 4.0 veröffentlicht. Die Übersetzung ins Deutsche, Französische und Russische erfolgte durch das WHO-Regionalbüro für Europa.