Erklärung – Überblick über die aktuelle Lage rund um COVID-19: Wir alle müssen unseren Teil beitragen, technologische und pharmazeutische Entwicklungen bieten uns einen neuen Horizont und die Rechte von Kindern müssen gewahrt werden

Kopenhagen, 19. November 2020, Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

19. November 2020

Mittlerweile wurden der WHO in der Europäischen Region der WHO über 15,7 Mio. COVID-19-Fälle und nahezu 355 000 Todesfälle gemeldet, wobei allein im November über 4 Mio. weitere Fälle hinzukamen. 28% aller Fälle weltweit und 26% der Todesfälle entfallen insgesamt auf die Europäische Region. In der Europäischen Region melden derzeit über 80% der Länder erhöhte 14-Tages-Inzidenzwerte (mehr als 100 Fälle je 100 000 EW), wobei fast ein Drittel aller Länder sehr hohe 14-Tages-Inzidenzwerte von mehr als 700 Fällen je 100 000 EW melden.

Aufgrund dessen mehren sich die Anzeichen einer Überlastung der Gesundheitssysteme. So waren etwa in Frankreich 10 Tage lang die Intensivstationen zu über 95% belegt, und in der Schweiz sind die Intensivstationen voll ausgelastet. Zudem werden Ausbrüche an Schulen, in Langzeitpflegeeinrichtungen und bei Versammlungen gemeldet.

In den letzten zwei Wochen stieg die Zahl der durch COVID-19 bedingten Todesfälle um 18%. Allein in der vergangenen Woche wurden in der Europäischen Region mehr als 29 000 durch COVID-19 bedingte neue Todesfälle registriert. Das bedeutet, dass alle 17 Sekunden ein Mensch in der Europäischen Region an COVID-19 stirbt.

Ich möchte erneut betonen, dass wir jedes Mal, wenn wir uns an die geltenden Empfehlungen halten, die Verbreitung von falschen Informationen verhindern oder gegen Verleugnung vorgehen, dazu beitragen, den Verlust von Menschenleben aufgrund von COVID-19 zu verhindern. Gegenwärtig verlieren wir tagtäglich durchschnittlich 4500 Menschenleben durch COVID-19. Das ließe sich verhindern.

Wenn wir alle gemeinsam handeln und die am stärksten Privilegierten unter uns zusätzliche Anstrengungen unternehmen, können wir etwas bewirken. Dank der Einhaltung risikomindernder Verhaltensweisen fiel die Zahl der Neuinfektionen von über 2 Mio. Fällen in der vorletzten Woche auf rund 1,8 Mio. Fälle in der vergangenen Woche. Ein kleines Signal, aber immerhin.

Jene unter Ihnen, die die Stärke aufbringen können und über entsprechende Fähigkeiten verfügen, bitte ich eindringlich, sich weiterhin der Herausforderung zu stellen, vor der unsere Gesellschaft mit ihrer Lebensweise steht. Ihr Land, Ihre Gemeinschaft, Ihre Familie und Ihre Freunde brauchen Sie jetzt, wie sie Sie noch nie zuvor gebraucht haben.

Gesundheitsfachkräfte und Sozialarbeiter, auf die wir uns verlassen, wenn es darum geht, die älteren Mitglieder unserer Gesellschaft zu schützen, stehen unter einem enormen Druck. Sie und ihre Familien bringen dafür große Opfer. Sie müssen sich wie nie zuvor darauf verlassen können, dass Sie sich verantwortungsbewusst verhalten und sie in der uns bevorstehenden schwierigen Zeit unterstützen. Insgesamt betrachtet, bin ich der festen Überzeugung, dass nun mehr Grund zur Hoffnung besteht als in den vergangenen Monaten Grund zur Verzweiflung bestand.

Drei wichtige Punkte am heutigen Tag

Erstens, wenn wir alle unseren Beitrag leisten, lassen sich Lockdowns vermeiden. Ich halte weiterhin an meinem Standpunkt fest, dass Lockdowns nur ein letzter Ausweg sein können. Der Gebrauch von Schutzmasken ist bei weitem kein Allheilmittel, sondern muss mit anderen Maßnahmen kombiniert werden. Doch wenn beim Gebrauch von Schutzmasken eine Marke von 95% erreicht würde, bräuchten wir auch keine Lockdowns. Dagegen sind bei einer Einhaltung der Maskenpflicht zu höchstens 60% Lockdowns nur schwer zu verhindern.

Wir sind uns bewusst, dass Hunderte Millionen Menschen sich derzeit in einer Art Lockdown befinden, doch wir haben auch gelernt, dass mit Lockdowns erhebliche Kollateralschäden einhergehen, wie etwa zunehmende psychische Gesundheitsprobleme, der Missbrauch von Alkohol und Drogen, geschlechtsspezifische Gewalt, die Unterbrechung unentbehrlicher Angebote und die Notwendigkeit einer besseren wirtschaftlichen Unterstützung für Betroffene, einschließlich jener Menschen, die ihre Jobs verlieren.

Wir sind uns auch der technischen und politischen Schwierigkeiten bewusst, die mit dem Ergreifen derartiger Maßnahmen verbunden sind. Zu oft haben wir die negativen Auswirkungen einer zu schnellen Lockerung erlebt, nachdem die Politik verständlicherweise bemüht war, die Öffentlichkeit von allzu strengen Maßnahmen zu befreien. Zu oft haben wir gesehen, wie schnell diese kurzzeitigen politischen Zugewinne durch die verheerenden Folgen einer erforderlichen Wiedereinführung von Maßnahmen kurz nach ihrer Lockerung zunichte gemacht werden.

Ich schlage daher ein auf dem Ausmaß der Übertragung in der Gesellschaft basierendes Stufensystem vor, das eine Reihe verhältnismäßiger Maßnahmen umfasst, die auf jeder Stufe zu berücksichtigen wären. Dadurch ließen sich die staatlichen Maßnahmen besser entlang eines Gefälles der Schwere einordnen, das sich in beide Richtungen entwickeln kann, ohne jemals zu stagnieren.

Zweitens bieten uns Technologien und pharmazeutische Entwicklungen einen neuen Horizont. Während entsprechende Impfstoffe die COVID-19-Pandemie nicht vollständig stoppen und nicht all unsere Probleme lösen werden, bieten sie doch Anlass zur Hoffnung im Kampf gegen das Virus. In den letzten paar Tagen haben uns gute Nachrichten erreicht zu zwei besonders vielversprechenden Impfstoffen. Dieses Versprechen wird sich jedoch niemals einlösen lassen, wenn wir nicht gewährleisten können, dass alle Länder Zugang zum Impfstoff-Markt haben, dass die Impfstoffe chancengerecht verteilt und wirkungsvoll eingesetzt werden und dass die Länder gegen Impfskepsis vorgehen.

Zudem ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir auf Technologien zurückgreifen, die uns bereits zur Verfügung stehen, und etwa ältere und besonders gefährdete Menschen mit Impfungen vor der saisonalen Grippe und Pneumokokken schützen. Darüber hinaus bieten die Umgestaltung von Testkonzepten für die Ermittlung von Kontaktpersonen, die Isolierung von Krankheits- und Verdachtsfällen, die Identifizierung von „Superspreader“-Veranstaltungen und die Überwachung risikoreicher Situationen durch gezieltes Testen und gezielte Surveillance allesamt großes Potenzial im Hinblick auf die Eindämmung der Übertragung.

Hier müssen wir unsere Strategien für die Durchführung von Tests überdenken, um den größten Anteil der Übertragungen bewältigen zu können, Fälle nachzuverfolgen, Kontaktpersonen unter Quarantäne zu stellen und asymptomatische bzw. leichte Fälle zu isolieren. Auch die jüngsten wissenschaftlichen Entwicklungen bei Schnelltests (der Antigen-Test) bieten wertvolle Optionen, um den Schwerpunkt des Kampfes gegen die Pandemie von Krankenhäusern auf Haushalte, Pflegeeinrichtungen und Gemeinschaften zu verschieben – die Menschen also in den Mittelpunkt zu rücken.

Drittens müssen wir mit Blick auf die Zukunft gewährleisten, dass unsere Kinder in einem sicheren Umfeld lernen und die Weihnachtszeit genießen können. In den Ländern gibt es eine Vielzahl von Praktiken zur Bekämpfung des Virus, ohne die Menschen zu beeinträchtigen. Wir haben gezeigt, dass wir in der Lage sind, ein sicheres Lernumfeld für unsere Kinder zu gewährleisten, indem wir die große Mehrheit der Schulen an fast 100 aufeinanderfolgenden Tagen offen gehalten haben.
Am morgigen Tag ist Weltkindertag – ein Tag, der uns daran erinnert, die Rechte von Kindern auch in dieser Krise zu wahren. Die WHO ist weiter fest entschlossen, die Länder der Europäischen Region dabei zu unterstützen, Grundschulen offen zu halten und ein sicheres Lernumfeld für alle gewährleisten zu können.

Kinder werden nicht als die primären Treiber der Übertragung angesehen, und daher werden Schulschließungen auch nicht als wirksame Maßnahme zur Eindämmung von COVID-19 betrachtet. Jene Länder, die diese Vorgehensweise in Erwägung ziehen, fordere ich auf, sich auch die nachteiligen Auswirkungen von Schulschließungen im Hinblick auf Lernergebnisse und das psychische und soziale Wohlbefinden bewusst zu machen. Wo Schulen geschlossen werden, bitten wir darum, Kindern in schwierigen Lagen und mit besonderen Bedürfnissen im Hinblick auf entsprechende Unterstützung und Präsenzunterricht Vorrang zu geben.

Und mit Blick auf die Kinder möchte ich mich auch kurz zu Weihnachten und der bevorstehenden Weihnachtszeit äußern. Weihnachten wird in diesem Jahr anders sein, doch das bedeutet nicht, dass es kein frohes Fest werden kann. Während des Ramadan fanden gemeindenahe Gruppen sichere Wege, um das Fasten zu brechen, etwa in virtueller Form oder durch die Lieferung von Essen nach Hause für Feierlichkeiten auf Distanz. Auch eine virtuelle Begehung von Diwali mit kostenlosen Online-Veranstaltungen, die von Kommunen in allen Teilen der Europäischen Region organisiert wurden, gewährleistete sichere Festlichkeiten.

Genießen Sie die Weihnachtszeit mit Ihren Liebsten. Wenn es normalerweise eine größere Versammlung mit Risikopersonen ist, verschieben Sie diese eher auf einen Zeitpunkt, wenn es wieder sicher ist, sich zu treffen. Treffen Sie sich trotz der Kälte mit Ihren Liebsten draußen zu einem Picknick im Park, wenn die lokalen Beschränkungen dies erlauben. Überall in der Region sehen wir bereits Zeichen von Gemeinschaftssinn und gegenseitiger Unterstützung: so planen etwa Obdachlosenunterkünfte, an Weihnachten warme Mahlzeiten und Essenspakete an Obdachlose auszuliefern, es werden virtuelle Festlichkeiten geplant und beliebte Kaufhäuser präsentieren ihre weihnachtlich dekorierten Schaufenster über Live-Events auf Facebook.

Dies waren die drei Punkte, auf die ich heute eingehen wollte.

  • Wenn wir alle unseren Beitrag leisten, lassen sich Lockdowns vermeiden.
  • Technologien und Pharmazeutika bieten uns einen neuen Horizont – Hoffnung.
  • Wir müssen gewährleisten, dass unsere Kinder in einem sicheren Umfeld lernen und die Weihnachtszeit genießen können.

Letztendlich wirkt sich diese Zeit der Pandemie auf unser aller Leben aus, doch wir können nicht aufgeben, wenn wir so viel zu gewinnen haben. Ich möchte Sie eindringlich bitten, weiterhin an der Hoffnung festzuhalten und sich nach Kräften darum zu bemühen, Ihr persönliches Risiko und das Risiko der Menschen und Gemeinschaften um Sie herum zugunsten der Gesundheit und des Wohlbefindens aller Menschen zu mindern.

Vielen Dank.