Zukunftsvision und strategische Stoßrichtungen
Dr. Hans Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
Warum ist gemeinsames Handeln für mehr Gesundheit notwendig?
Die Gesundheitssituation in der Europäischen Region der WHO verbessert sich insgesamt, doch die Fortschritte für alle sind in Gefahr.
In den vergangenen Jahren hat sich aufgrund von Globalisierung, Migration, Urbanisierung, Klimawandel, Ressourcenknappheit und Digitalisierung das Leben der Menschen in unvergleichlicher Weise verändert. Jahrzehntelang gültige soziale und politische Normen werden nun in Frage gestellt. Eine von Ungewissheit geprägte weltwirtschaftliche Lage hat Auswirkungen auf staatliche Finanzen, die durch Krankheitsausbrüche und andere Sicherheitsrisiken weiter unter Druck geraten. Psychische Erkrankungen und nichtübertragbare Krankheiten sind rapide auf dem Vormarsch, und antimikrobielle Resistenzen gefährden unsere Fähigkeit zur Behandlung weit verbreiteter Infektionskrankheiten. Die Bevölkerung altert, die Menschen haben größere Anforderungen und Erwartungen an die Gesundheitsversorgung, die Kosten von Gesundheitsleistungen und Arzneimitteln steigen, und es herrscht ein Mangel an Gesundheitsfachkräften bzw. an deren Mobilität. Jedes einzelne Land in der Europäischen Region ist mit diesen Realitäten konfrontiert.
„Unter diesen neuen Rahmenbedingungen ist die Solidarität innerhalb der Europäischen Region ein wertvolles Gut, das es zu nähren und zu erhalten gilt. Die Länder müssen gemeinsam darauf hinarbeiten, ihren Bürgern zu dienen und aus ihren Erfolgen und Misserfolgen zu lernen. Rapide Entwicklungen wie die digitale Revolution eröffnen neue Chancen zur Verbesserung der Gesundheit. Durch die Aufrechterhaltung des Rechts eines jeden Bürgers auf Gesundheit und Gewährleistung einer gesundheitlichen Chancengleichheit und einer allgemeinen Gesundheitsversorgung können wir gerechte, sichere und stabile Gesellschaften aufbauen.“ - Dr. Kluge
Um die Länder zu unterstützen, möchte das WHO-Regionalbüro für Europa eine neue gesundheitliche Zukunftsvision – Gemeinsam für mehr Gesundheit – verwirklichen, die auf den Zielen für nachhaltige Entwicklung und den globalen Prioritäten der WHO aufbaut.
Was bedeutet gemeinsames Handeln?
„Ich habe meine Zukunftsvision für mehr Gesundheit in der gesamten Europäischen Region ,Gemeinsam für mehr Gesundheit‘ genannt. ,Gemeinsam‘, weil Partnerschaften für mich ein ethisches Gebot darstellen, und ,Handeln‘, weil während meines Wahlkampfs die Länder hervorgehoben haben, dass es an der Zeit ist, dass die WHO vom ,Was‘ zum ‚Wie‘ übergeht und den Wissensaustausch vorantreibt, um die bestehenden Probleme zu lösen. Ich habe eine umfassende Vision von Gesundheitsversorgung und grundlegenden Funktionen des öffentlichen Gesundheitswesens, bei der die Menschen im Mittelpunkt einer leistungsfähigen primären Gesundheitsversorgung stehen.“ - Dr. Kluge
Das WHO-Regionalbüro für Europa hat vier vorrangige Handlungsfelder für seine Zusammenarbeit mit den Ländern und Partnerorganisationen festgelegt:
1.Inangriffnahme der wichtigsten Triebkräfte der Krankheitslast
Die rapide Ausbreitung von nichtübertragbaren Krankheiten, psychischen Erkrankungen, antimikrobiellen Resistenzen und wieder auftretenden Infektionskrankheiten stellen eine Gefahr für Gesundheitssicherheit und Bevölkerungsgesundheit dar. Das WHO-Regionalbüro für Europa erkennt die Notwendigkeit eines Gleichgewichts zwischen Gesundheitsförderung, Krankheitsprävention und kurativer Versorgung an, das auf die jeweiligen Anforderungen und Rahmenbedingungen von Mitgliedstaaten und Teilregionen zugeschnitten sein muss.
2.Ansetzen an den Gesundheitsdeterminanten
Gesundheit wird durch eine Vielzahl von Faktoren geprägt, die außerhalb des Aktionsradius der Gesundheitspolitik liegen, wie Bildung, Einkommen und Beschäftigung, Sozialleistungen, Wohn- und Umweltbedingungen und Klimaveränderungen. Das WHO-Regionalbüro für Europa ist sich im Klaren darüber, dass die Bereitstellung klarer und umsetzbarer Erkenntnisse, die die Bedeutung von Investitionen in Gesundheit und Wohlbefinden verdeutlichen, entscheidend dazu beiträgt, den Entscheidungsträgern in der Gesundheitspolitik die Informationen an die Hand zu geben, die sie benötigen, um wirksam auf der gesamtstaatlichen Ebene für gesundheitliche Belange zu werben.
3.Grundlegende Umgestaltung des öffentlichen Gesundheitswesens und der Gesundheitssysteme zum Wohle der Menschen
Gut koordinierte, bürgernahe Gesundheitssysteme führen zu besseren gesundheitlichen Resultaten, mehr Zufriedenheit bei Patienten und Leistungsanbietern sowie mehr finanzieller Nachhaltigkeit. Um die Länder bei der grundlegenden Umgestaltung ihrer Gesundheitssysteme, zu unterstützen, wird das Regionalbüro für Europa seine Partnerorganisationen zusammenbringen und Erkenntnisse und Beispiele darüber austauschen, wie leistungsfähige Gesundheitssysteme, aufgebaut werden können. Zu den zentralen Elementen in solchen Systemen gehören eine gute Organisationsführung, Gesundheitskompetenz, die Befähigung von Patienten und Gesundheitsfachkräften, die Motivierung und Qualifizierung des Gesundheitspersonals, ausgewogene Finanzierungsmodelle und der Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln. Die gezielte Nutzung des Potenzials von digitalen Technologien und auf Daten gestützten Innovationen wie Big Data und künstlicher Intelligenz ist hier ein entscheidender Aspekt.
4.Schutz aller Bevölkerungsgruppen
Gesundheit ist ein Menschenrecht, auf das jeder unabhängig von Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, ethnischer Zugehörigkeit, Herkunftsland oder finanziellen Möglichkeiten Anspruch hat. In vielen Fällen werden die gesundheitlichen Rechte von unverheirateten Mütter und Kindern, von älteren Menschen, Arbeitslosen, Menschen mit HIV, Migranten und anderen Gruppen in Frage gestellt. Das Regionalbüro verfolgt einen Lebensverlaufansatz für Gesundheit und legt dabei besonderen Wert auf die Rechte anfälliger Gruppen in jedem Land und strebt durch seine fachlichen Bemühungen und Empfehlungen eine Beendigung von Stigmatisierung und Diskriminierung an.
Wie wird es verwirklicht?
„Das Regionalbüro hat einen zentralen Auftrag: die Mitgliedstaaten zur Verbesserung der Gesundheit aller Altersgruppen ihrer Bevölkerung zu veranlassen und sie dabei zu unterstützen. Ich bin fest entschlossen, eine pragmatische Unterstützung für die Inangriffnahme der gesundheitlichen Prioritäten in der Europäischen Region der WHO bereitzustellen, die sowohl evidenzgeleitet als auch auf die Bedürfnisse der Länder abgestimmt ist.“ - Dr. Hans Kluge
Unter der Führung von Dr. Kluge wird das WHO-Regionalbüro für Europa sechs strategische Stoßrichtungen verfolgen:
- Erstellung eines Fahrplans für eine gesündere Zukunft in der Europäischen Region: Das WHO-Regionalbüro für Europa wird die Länder bei der Bestimmung der neu entstehenden Herausforderungen und Chancen unterstützen, etwa bei der Frage, wie die steigenden Gesundheitsausgaben mit dem begrenzten Wirtschaftswachstum vereinbart werden können, wie Krankheitsprävention und ein Ansetzen an den Determinanten von Gesundheit in den Mittelpunkt der Politik gestellt werden können und wie gemeinsam mit den Bürgern ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden verbessert werden können. Darüber hinaus wird es zu diesem Zweck praktische länderspezifische Instrumente entwickeln.
- Gewährleistung von Gesundheitssicherheit vor dem Hintergrund von Notlagen und anderen Bedrohungen für die Gesundheit: Durch sein Programm für gesundheitliche Notlagen wird das WHO-Regionalbüro für Europa den Ländern bei der Stärkung ihrer Fähigkeit behilflich sein, Notlagen und andere Gefahren für die Gesundheit zu verhindern, sich auf sie vorzubereiten, auf sie zu reagieren und sich von ihnen zu erholen: durch einen ressortübergreifenden Ansatz und in Übereinstimmung mit den Internationalen Gesundheitsvorschriften (2005). Es wird dafür Sorge tragen, dass die Europäische Region auch weiterhin auf globale Notlagen reagiert, und einen Notfallfonds einrichten, die Mobilisierung von nationalen und regionsweiten Ressourcen für die betroffenen Länder erleichtern und ein rund um die Uhr erreichbares Kommandozentrum einrichten.
- Befähigung der Menschen zu selbstbestimmtem Handeln und Förderung von Erkenntnissen in Bezug auf Gesundheitsverhalten: Zur Schaffung der Rahmenbedingungen, die es den Menschen leichter machen, ein gesundes Leben zu führen, wird das WHO-Regionalbüro für Europa die Gesundheitsministerien und die Gesundheitsberufe dabei unterstützen, wirksam mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren und digitale Kompetenz zu fördern, die neuesten Erkenntnisse der Kommunikationsforschung und technologische Fortschritte gezielt zur Gesundheitsförderung einzusetzen, zusammen mit den Partnerorganisationen auf die Befähigung von Einzelpersonen und Gemeinschaften hinzuarbeiten und die Gesundheitskompetenz zu verbessern.
- Unterstützung der grundlegenden Umgestaltung der Gesundheitssysteme auf allen Ebenen: Das WHO-Regionalbüro für Europa wird eine Europäische Akademie für transformative Führungskompetenz einrichten und ihre Arbeit koordinieren, um die Länder bei der Ausweitung wirksamer und nachhaltiger Innovationen zur grundlegenden Umgestaltung ihrer Gesundheitssysteme zu unterstützen, praktische Werkzeuge und Instrumente zu entwickeln und den Wissens- und Erfahrungsaustausch in Bezug auf die Umsetzung von Handlungskonzepten zu erleichtern.
- Gezielte Nutzung strategischer Partnerschaften für mehr Gesundheit: Das WHO-Regionalbüro für Europa wird seine strategische Koordination und Kooperation sowie seine Partnerschaften mit der Europäischen Union, der Eurasischen Wirtschaftsunion, den Sonderorganisationen der Vereinten Nationen sowie einer Reihe anderer innerhalb der Europäischen Region tätiger globaler Organisationen, aber auch mit Berufsverbänden, Zivilgesellschaft, Privatwirtschaft und informellen Pflegepersonen intensivieren. Ferner werden auch auf subregionaler Ebene bestehende Netzwerke wie die Initiative kleiner Länder und das Netzwerk Regionen für Gesundheit Unterstützung erhalten, und eine Zusammenarbeit mit Verbänden zur Vertretung von Gesundheitsfachkräften wie auch Patienten werden zu einer Priorität erklärt.
- Weitere Steigerung der Fachkompetenz des Regionalbüros: Das WHO-Regionalbüro für Europa wird Wert auf organisatorische Beweglichkeit und eine konkrete Ausrichtung auf die Länder legen, um vertrauenswürdig und zeitnah sachdienliche Empfehlungen an alle Mitgliedstaaten in der Europäischen Region abgeben zu können. Dies soll durch ein kontinuierliches Augenmerk auf Strukturen und Prozesse gemäß den Grundsätzen der Transparenz und Rechenschaftslegung, eine optimale Nutzung finanzieller und personeller Ressourcen, eine Unterstützung bei der Herbeiführung von Gleichstellung und Mitarbeiterrepräsentanz, die Schaffung einer respektvollen Arbeitsumgebung sowie eine ausgezeichnete Kommunikation und die digitale Umgestaltung erreicht werden.