Erklärung – Nachhaltigkeit der Rahmenkonzepte für die Gesundheitsversorgung während der Pandemie

Dr. Hans Henri P. Kluge an das Virtuelle Symposium über die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und des HIV auf das SDG 3.3

organisiert von Dr. Anna Popova, Leiterin der Föderalen Aufsichtsbehörde für Verbraucherschutz und Wohlbefinden bei der Obersten Staatlichen Gesundheitsinspektion der Russischen Föderation, und Winnie Byanyima, Exekutivdirektorin des Gemeinsamen Programms der Vereinten Nationen für HIV/Aids

28. Juli 2020

Sehr geehrte Anna Yurievna, sehr geehrte Frau Byanyima, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus dem öffentlichen Gesundheitswesen!

Gestatten Sie mir, zunächst Frau Dr. Anna Popova, unseren Anlaufstellen in der Russischen Föderation und Frau Byanyima, Exekutivdirektorin des UNAIDS, für die Organisation dieses virtuellen Symposiums zu danken.

Mit aktuellem Stand sind in der Europäischen Region über 3,2 Mio. COVID-19-Fälle und 210 632 Todesfälle gemeldet worden, wobei der östliche Teil der Region derzeit in besonderem Maße betroffen ist. Unsere Gedanken sind bei all jenen, die in den vergangenen sechs Monaten Angehörige oder Bekannte verloren haben.

Aus der COVID-19-Pandemie werden wir noch eine Vielzahl von Lehren ziehen, aber eines haben wir bereits auf schmerzliche Weise erfahren: Viele Gesundheitssysteme waren nicht vorbereitet, und selbst die leistungsfähigsten Systeme waren überfordert und oft nicht in der Lage, die Versorgung von Menschen mit anderen Erkrankungen wie HIV oder anstehende Impfmaßnahmen zu gewährleisten.

Deshalb müssen in der vor uns liegenden Zeit die Gesundheitssysteme das aufrechterhalten, was wir bei der WHO als „Zweigleisigkeit“ bezeichnen: Wachsamkeit im Hinblick auf die Ausdehnung der Kapazitäten für den Umgang mit einem Wiederanstieg der COVID-19-Fallzahlen und gleichzeitig Aufrechterhaltung der unentbehrlichen Gesundheitsleistungen.

Letztendlich macht dies eine weit bessere Verzahnung zwischen den Bürgern, der primären Gesundheitsversorgung und den Krankenhäusern erforderlich und rückt die Gesundheit in den Mittelpunkt einer ressortübergreifenden politischen Tagesordnung in den Ländern.  Dies ist die Essenz der SDG – und die Chance, die sich aus einem soliden Plan zum Wiederaufbau nach COVID-19 ergibt.

Gegenwärtig wird die Versorgung im Bereich HIV durch COVID-19 bedroht.

Auch wenn wir enorme Fortschritte erzielt haben, insbesondere in Osteuropa und Zentralasien, so sind die Angebote im Bereich HIV doch noch sehr stark nachgefragt und leider für viele immer noch nicht erreichbar.

In den letzten zehn Jahren hat sich die Inzidenz von HIV in der Europäischen Region der WHO um 22% erhöht, und 2018 wurde die Hälfte aller HIV-Diagnosen erst in einem späten Stadium der Infektion diagnostiziert.

Darüber hinaus ist der Versorgungsgrad mit antiretroviraler Therapie (ARV) weiterhin niedrig, und vor allem im östlichen Teil der Europäischen Region droht sich die Lage aufgrund von COVID-19 zu verschärfen.

Wir wissen inzwischen, dass infolge der COVID-19-Pandemie sieben Länder in unserer Region eine Beeinträchtigung der ARV-Versorgung gemeldet haben. Doch im Augenblick können wir das volle Ausmaß der Beeinträchtigung der Versorgung im Bereich HIV durch COVID-19 noch nicht abschätzen.

Die gute Nachricht lautet, dass wir auch einige wesentliche Lehren aus dieser Pandemie ziehen können.

  1. Internationale Solidarität ist ein wirksames Mittel – wo sie versagt hat, war auch die Reaktion ein Fehlschlag. Niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind. Niemand darf zurückgelassen werden!
  2. Der Schutz des Lebens und der Schutz der Existenzgrundlagen stehen nicht im Widerspruch zueinander. Wir haben die Grundsatzempfehlungen für die Länder so formuliert, dass die Aufrechterhaltung der Volkswirtschaften und Bildungssysteme bei gleichzeitiger Bekämpfung der Übertragung von COVID-19 in der Bevölkerung angestrebt wird.
  3. Die Gesundheitssysteme waren nicht auf eine Pandemie von diesem Ausmaß und dieser Ausbreitungsgeschwindigkeit vorbereitet. Wir brauchen leistungsfähige Gesundheitssysteme, die auf einer starken primären Gesundheitsversorgung begründet sind und die auch Aufgaben der öffentlichen Gesundheitsdienste auf der kommunalen Ebene wahrnehmen. Und wir brauchen eine Risikokommunikation, bei der die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit angesprochen wird. Tatsächlich brauchen wir eine konsequente Umsetzung der Erklärung von Astana über die primäre Gesundheitsversorgung.

In nächster Zeit benötigen unsere Gesundheitssysteme nachhaltige Investitionen und Mechanismen zur Ausdehnung ihres Aktionsradius auch auf die anfälligsten Gruppen in der Bevölkerung. Dies gilt vor allem für die Versorgung von Menschen, die mit HIV leben.

Lassen Sie es mich ganz klar sagen: Unsere individuelle und kollektive Reaktion ist eine großartige Chance, COVID-19 nicht nur wirksam zu bekämpfen und künftig zu verhindern, sondern auch gestärkt aus dieser Pandemie hervorzugehen und die widerstandsfähigen Gesundheitssysteme aufzubauen, die wir brauchen.

Wir haben jetzt die noch nie da gewesene Gelegenheit, da die Stärkung der Gesundheitssysteme nun im Mittelpunkt der politischen und finanziellen Tagesordnung auf der nationalen und globalen Ebene angekommen ist.

Wir müssen es als eine gemeinsame Berufung ansehen, diese Gelegenheit in spürbare Zugewinne an Gesundheit und Wohlbefinden für die Menschen in unserer gesamten Region umzumünzen.

Meine Damen und Herren, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!

Wir sind in der Lage, den Wiederaufbau der Gesundheitssysteme zukunftsfähig zu gestalten, sodass sie chancengerecht, auf örtliche Gemeinschaften ausgerichtet und in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ihrer jeweiligen Länder verankert sind – getreu der Maxime, niemanden zurückzulassen.

Um diese grundlegenden Veränderungen herbeizuführen, bedarf es unserer kollektiven Anstrengung. Wir brauchen eine Führung auf europäischer wie auch globaler Ebene, die auf Innovationsgeist, Mut und Kooperation begründet ist. Vergangene Woche nahm ich an einer Tagung der Gesundheitsminister der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) teil, auf der unter dem Vorsitz des Gesundheitsministers der Russischen Föderation, Mihail Albertovich, über die COVID-19-Pandemie diskutiert wurde. Ich war sehr beeindruckt von der Führungskompetenz der SCO.

Das Forum über die SDG, das die Russische Föderation im Oktober ausrichten will, wird den Boden für eine noch stärkere Partnerschaft zur Verwirklichung des SDG 3.3 in unserer Region bereiten.

Die Verwirklichung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung setzt die Schaffung eines chancengleichen Zugangs zu hochwertigen Angeboten für mit HIV lebende Menschen in der Europäischen Region voraus.

Meine Zukunftsvision für unsere Region ist eine Gesundheitskultur und eine Ökonomie des Wohlergehens, bei der die Menschen in den Mittelpunkt gerückt werden, ein Sicherheitsnetz für alle geschaffen wird, ein Beitrag zu ökologischer Nachhaltigkeit geleistet wird und die Lebensgrundlagen abgesichert werden und in der vor allem niemand zurückgelassen wird. Dies ist das zentrale Anliegen des Europäischen Arbeitsprogramms der WHO mit dem Titel „Gemeinsam für mehr Gesundheit in Europa“:

Ich möchte Ihnen versichern, dass ich als Regionaldirektor der Europäischen Region der WHO mein Bestes tun werde, um die Lehren aus der COVID-19-Pandemie zu beherzigen und unser Regionalbüro in Kopenhagen und unsere Länderbüros in eine moderne Organisation umzuwandeln, die flexibel, innovativ, ergebnisorientiert und digital arbeitet – zum Nutzen unserer Mitgliedstaaten und ihrer Bürger und zur Verwirklichung zweier Ziele:

  • niemanden zurückzulassen und
  • die Führungskompetenz der Gesundheitsbehörden zu stärken.

Doch wir können es nur gemeinsam schaffen. Dabei können Sie auf mich zählen, und ich zähle auf Sie.

Ich danke Ihnen.