Erklärung – Der Übergang hin zu einer ,neuen Normalität‘ muss von den Grundsätzen der öffentlichen Gesundheit sowie ökonomischen und gesellschaftlichen Überlegungen geleitet werden

Kopenhagen, 3. Juni 2020, Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, an russischsprachige Medien

Kopenhagen, 3. Juni 2020

Guten Morgen, guten Tag und vielen Dank für Ihre Teilnahme an dieser Veranstaltung.

Zu Beginn möchte ich Ihnen gerne einen kurzen Überblick über die aktuelle COVID-19-Situation in der gesamten Europäischen Region der WHO geben.

Bislang gab es über 2,2 Mio. bestätigte COVID-19-Fälle in der Region. Traurigerweise haben bereits mehr als 181.000 Menschen ihr Leben verloren.

Auch wenn sich die wöchentlichen Fallzahlen seit April nahezu halbiert haben, ist das Risiko weiterhin sehr hoch.

In einigen Ländern können wir eine stetige Stabilisierung bzw. einen Rückgang der neuen Fälle beobachten. Sowohl die Russische Föderation als auch die Ukraine sind auf dem besten Weg dahin.

Eine Reihe von Ländern meldete nach und während der Anpassung einiger der zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ergriffenen Maßnahmen einen leichten Anstieg der neuen Fälle. Armenien, Aserbaidschan und Israel haben jeweils rasch gehandelt und auf die örtlichen Gegebenheiten zugeschnittene Maßnahmen ergriffen.

Einige Länder haben ihre Teststrategien im Laufe der letzten Wochen verändert und registrieren in ihren Surveillance-Systemen mehr Fälle. Hierzu zählen etwa Kasachstan und Aserbaidschan.

Wir unterstützen die Länder auch weiterhin in Bereichen wie klinisches Management, Laborwesen, Epidemiologie, Surveillance und Analyse, Logistik und medizinische Güter. Ich möchte mich auch bei unseren Partnern in der Russischen Föderation, Deutschland, dem Vereinigten Königreich und Polen bedanken, die unsere Maßnahmen durch die Bereitstellung von medizinischen Notfallteams, mobilen Laboren und anderen Experten unterstützt haben.

Nun möchte ich mich kurz einigen anderen wichtigen Themen zuwenden.

Während der letzten Monate habe ich mit Journalisten aus allen Teilen der Europäischen Region kommuniziert und es ist mir immer eine große Freude, denn durch die Kommunikation mit Journalisten können wir bei der WHO besser nachvollziehen, was die breite Öffentlichkeit wissen möchte, welche Sorgen sie umtreiben und welche Hoffnungen sie hegt.

Es gibt Themen, die immer wieder aufkommen, wenn ich mit den Medien spreche.

Viele von Ihnen bitten mich, die Leistung dieses oder jenes Landes während der Pandemie zu bewerten.

Lassen Sie mich eines klarstellen: Es ist nicht Aufgabe der WHO, eine Bewertung darüber abzugeben, wie bestimmte Länder auf diese Herausforderung reagiert haben.

Was ich Ihnen mit Sicherheit sagen kann ist, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Region der WHO sich ernsthaft darum bemüht haben, wissenschaftliche Erkenntnisse und professionelle Leitlinien zu nutzen, um die sehr realen Herausforderungen dieser Situation zu bewältigen.

Darüber hinaus stellen Journalisten mir Fragen zur Aufhebung der Ausgangssperren – wie sicher diese ist und wie sie vonstatten gehen wird.

Und natürlich ist dies mit der Frage zu einer zweiten Infektionswelle verknüpft: Ist sie wirklich unvermeidlich? Muss Europa damit rechnen und wenn ja, wann?

Der Übergang hin zu einer sogenannten ,neuen Normalität‘ muss von den Grundsätzen der öffentlichen Gesundheit sowie ökonomischen und gesellschaftlichen Überlegungen geleitet werden.

Entscheidungsträger auf allen Ebenen müssen sich an folgendes Leitprinzip halten: den Übergang allmählich und mit Sorgfalt vollziehen.

Eine zweite Infektionswelle ist nicht unausweichlich – und doch besteht angesichts der Tatsache, dass immer mehr Länder ihre Beschränkungen allmählich aufheben, die eindeutige Gefahr, dass die COVID-19-Infektionen plötzlich wieder ansteigen könnten. Wenn ein solcher plötzlicher Anstieg nicht entsprechend kontrolliert wird, könnte es zu einer zweiten Infektionswelle kommen, die äußerst destruktiv sein könnte. Bedenken Sie, dass wir heute keineswegs besser dastehen als zu Beginn des Jahres, denn noch immer gibt es keinen Impfstoff und keine Behandlungsmethode für COVID-19.

Die gute Nachricht ist, dass wir von dieser ersten Welle eine Menge gelernt haben. Sollte es also zu einem weiteren plötzlichen Anstieg der Fallzahlen kommen, sind wir besser vorbereitet in Bezug auf unser Verständnis über das Virus und darauf, welche Maßnahmen am besten wirken und wie wir uns durch Kooperation und die Verfolgung eines gesamtgesellschaftlichen Ansatzes vorbereiten müssen.

In Asien, das als erste Region getroffen wurde, ist ein plötzlicher Wiederanstieg der Fallzahlen zu verzeichnen, sobald die Aufmerksamkeit sinkt oder die Kontrollmechanismen gelockert werden.

Aus diesem Grund ist eine Überwachung der Epidemie in Echtzeit entscheidend, um rasch handeln zu können. Wenn wir erwiesene Maßnahmen ergreifen, müssen wir dabei sicherstellen, dass wir:

  • alle Verdachtsfälle identifizieren, isolieren und testen;
  • sämtliche Kontaktpersonen unter Quarantäne stellen und ihren Gesundheitszustand überwachen;
  • jene, die darauf angewiesen sind, unverzüglich versorgen; und
  • bereit sind, gegebenenfalls einige Beschränkungen aufzuerlegen.

Dieses Virus wird uns eine lange Zeit begleiten, zumindest bis ein sicherer Impfstoff bzw. eine wirksame Behandlung zur Verfügung steht.

Zu der Frage, wann ein Impfstoff verfügbar sein wird, kann ich Ihnen Folgendes sagen: Wir haben zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Zeitplan für die Entwicklung eines Impfstoffs. Es werden außerordentliche Anstrengungen unternommen, um die Entwicklung eines Impfstoffs zu beschleunigen, und dies unter Beteiligung der bedeutendsten Wissenschaftler und angesehensten Forschungs- und Pharmakologie-Institute weltweit.

Während wir auf die Entwicklung eines möglichen Impfstoffs warten, ist es wichtig, dass wir gleichzeitig an der Entwicklung therapeutischer Lösungen arbeiten.

Für die WHO ist es, in allem, was wir tun, eine Priorität, niemanden zurückzulassen. Sobald ein Impfstoff oder mehrere Impfstoffe zur Verfügung stehen, wird die WHO alles in ihrer Macht stehende unternehmen, um sicherzustellen, dass dieser bzw. diese gerecht verteilt werden.

Im Rahmen des Strategischen Beirats für Immunisierungsfragen (SAGE) wird eine Arbeitsgruppe für COVID-19-Impfstoffe und Immunisierung eingerichtet, um unter anderem Leitlinien zur Gewährleistung eines chancengleichen Zugangs zu einer entsprechenden Impfung zu erstellen.

Darüber hinaus unterstützt die WHO die Schaffung eines weltweiten Pools für die Rechte an Daten, Wissen und Technologien, um neue Techniken, Technologien, Impfstoffe und Behandlungsmethoden erschwinglicher und besser zugänglich zu machen, damit die Welt COVID-19 gemeinsam besiegen kann.

Wir alle müssen daher wachsam bleiben und uns verantwortungsbewusst verhalten, zu unser aller Wohl.

Ich fordere alle Länder nachdrücklich dazu auf, ihrer jeweiligen epidemiologischen Situation Rechnung zu tragen, diese kontinuierlich zu überwachen und nur allmählich die Maßnahmen anzupassen.

Wie immer steht Ihnen die WHO auch weiterhin unterstützend zur Seite.

Mit Solidarität, Durchhaltevermögen und Geduld können wir dieses Virus gemeinsam besiegen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!