Erklärung – Aktuelles zu COVID-19: Vorsichtiger Optimismus
Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
Kopenhagen, 11. Februar 2021
Guten Morgen.
Auch wenn wir in der Europäischen Region weiterhin jede Woche mehr als 1 Mio. gemeldete Fälle verzeichnen, ist die COVID-19-Inzidenz insgesamt seit vier aufeinander folgenden Wochen und die Zahl der neuen Todesfälle seit zwei aufeinander folgenden Wochen zurückgegangen.
Auch wenn das gute Nachrichten sind, verschleiert der Rückgang der Fallzahlen doch die zunehmende Zahl an Ausbrüchen mit bedenklichen Virusvarianten sowie deren zunehmende Ausbreitung in der Bevölkerung. Daher sollten wir allgemeine Trends bei der Übertragung sorgfältig überwachen und voreilige Entscheidungen vermeiden.
Die verzeichneten Zahlen sind weiterhin viel zu hoch. Vor zwei Tagen meldeten 40 Länder in der Europäischen Region innerhalb von 24 Stunden 3610 durch COVID-19 bedingte Todesfälle.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die überwältigende Mehrheit der europäischen Länder weiterhin gefährdet. Im Augenblick ist es ein schmaler Grat zwischen der Hoffnung auf einen Impfstoff und einem falschen Gefühl der Sicherheit.
Auf Grundlage von Informationen aus 29 der 37 Länder in der Europäischen Region, in denen gegenwärtig gegen COVID-19 geimpft wird, sind 7,8 Mio. Menschen bereits vollständig geimpft. Das entspricht jedoch lediglich 1,5% der Bevölkerung in diesen 29 Ländern.
Gestern verzeichneten 17 Staaten und Gebiete in der Europäischen Region der WHO eine 14-Tages-Inzidenz von mehr als 400 gemeldeten Fällen je 100 000 Einwohner. Dies rechtfertigt eine wohlüberlegte Entscheidungsfindung in dieser kritischen Phase.
Immer wieder haben wir gesehen, dass Länder zu schnell eine Wiedereröffnung veranlasst und daraufhin mühsam errungene Erfolge wieder zunichte gemacht haben. Ich möchte noch einmal betonen, dass Entscheidungen bezüglich der Lockerung von Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Gesellschaft auf entsprechende Daten gestützt sein sowie auf einer epidemiologischen Bewertung beruhen und den Kapazitäten des jeweiligen Gesundheitssystems gerecht werden müssen. Die entsprechenden Kriterien müssen evidenzbasiert sein – und nicht auf Beobachtungen eines relativen Fortschritts beruhen.
Viele von Ihnen sorgen sich über die neuen Virusvarianten, darüber wie ansteckend sie sind, ob sie einen schwereren Krankheitsverlauf verursachen und ob die Impfstoffe gegen sie weniger Wirkung zeigen könnten. Einige Varianten sind in der Tat besonders besorgniserregend. Wir alle haben die Meldungen über die Wirksamkeit des von der Universität Oxford zusammen mit AstraZeneca entwickelten Impfstoffs gegen die erstmals in Südafrika entdeckte Variante B.1.351 verfolgt.
Diese spezielle bedenkliche Variante wurde bereits in 19 Ländern der Europäischen Region identifiziert. Auch wenn die Übertragung in der Bevölkerung Europas bislang nicht besonders verbreitet ist, wird die Variante zunehmend mit Ausbrüchen in Gemeinschaften in Verbindung gebracht. Ungeachtet der Variante müssen wir uns auch weiterhin um die Unterdrückung des Virus bemühen.
Gestern kam der Strategische Beirat der WHO für Immunisierungsfragen zu dem Schluss, dass aufgrund aller vorliegenden Daten der Impfstoff von AstraZeneca und der Universität Oxford bei Personen ab 18 Jahren, einschließlich Personen im Alter von über 65 Jahren, eingesetzt werden kann.
Was bedeutet das Auftreten dieser neuen Varianten?
Es bedeutet, dass wir alles in unserer Macht stehende tun müssen, um die Übertragung einzudämmen und Mutationen, die sich auf die Wirksamkeit der Impfstoffe auswirken könnten, zu verzögern. Wenn wir die Übertragung jetzt nicht aufhalten, könnte der erwartete Nutzen der Impfungen im Kampf gegen diese Pandemie ausbleiben.
Das bedeutet, dass die Hersteller sich an die Evolution des Virus anpassen müssen. Hierdurch wird auch deutlich, wie wichtig es ist, ein breites Portfolio an Impfstoffen verschiedener technologischer Plattformen für die Anwendung in unterschiedlichen Umfeldern aufrechtzuerhalten.
Impfstoffe sind von entscheidender Bedeutung, doch ab sofort sind sie nicht ausreichend, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Sie sind nur eines von vielen Instrumenten, die uns zur Verfügung stehen.
Die Art der Übertragung des Virus hat sich nicht geändert. Temporäre Rückschläge ändern nichts an der Tatsache, dass die aktuell genutzten Gegenmaßnahmen Wirkung zeigen. Trotz neuer Varianten bleiben die Empfehlungen der WHO zu sozialen und gesundheitlichen Maßnahmen unverändert.
Es gibt weitere gute Nachrichten.
35 Vertragsstaaten haben aufgrund der wachsenden Bedeutung der Identifikation neuer Virusvarianten die genetische Sequenzierung von SARS-CoV-2 ausgeweitet, ebenso wie 18 weitere, die von Referenzlaboren der WHO unterstützt werden.
Daten aus fast 20 Ländern zufolge ist die Rate der Krankenhauseinweisungen aufgrund von COVID-19 zwischen der dritten und vierten Januarwoche von 13 auf 11 je 100 000 Einwohner gesunken. Damit verzeichnen wir zwar einen Rückgang, aber viele unserer Krankenhäuser haben weiterhin zu kämpfen.
Ferner übersteigt die Zahl der ausgegebenen Impfdosen mittlerweile die Zahl der gemeldeten Fälle in der Region: so wurden rund 41 Mio. Dosen ausgegeben, während die Zahl der gemeldeten Fälle bei 36 Mio. liegt.
Durch die Impfung vorrangiger Gruppen werden somit bereits Menschenleben gerettet. Doch das schiere Ausmaß des Einsatzes von COVID-19-Impfstoffen ist gewaltig. Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, die Bevölkerung zu impfen.
Impfstoffe bieten eine Möglichkeit, diese Pandemie schneller hinter uns zu lassen. Doch nur, wenn wir sicherstellen, dass alle Länder, unabhängig von ihrem Einkommensniveau, Zugang zu ihnen erhalten.
Die Kluft zwischen Länder mit hohem, mittlerem und niedrigem Einkommen ist deutlicher denn je. Ein unausgeglichener Zugang zu Impfstoffen kann nach hinten losgehen. Je länger das Virus verweilt, desto größer ist die Gefahr gefährlicher Mutationen.
Chancengleichheit beim Zugang ist ein moralisches Gebot, eines, das die Auswirkungen der Pandemie für uns alle mildert, nicht nur für einige wenige.
Zusammen mit der Europäischen Union starten wir am heutigen Tage ein mit 40 Mio. € finanziertes Programm zur Gewährleistung des wirksamen Einsatzes von COVID-19-Impfstoffen in sechs Ländern: Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, der Republik Moldau und der Ukraine. Dieses Programm ergänzt die laufende Arbeit im Rahmen der COVAX-Initiative und des Verteilungsmechanismus der EU, wobei der Fokus anfänglich auf Handlungsbereitschaft, Informationskampagnen, Materialien und der Schulung von Gesundheitspersonal liegen wird.
Gestern habe ich zudem eine Vereinbarung mit der EU unterzeichnet, um die Länder des Westbalkans bei ihren Anstrengungen zu unterstützen. Darüber hinaus verfügen wir über ein gemeinsames Programm der EU und der WHO zur Unterstützung der Reaktion in allen Teilen Zentralasiens.
Es ist an der Zeit, die Produktion von Impfstoffen auszuweiten und zu beschleunigen. Wir fordern daher gemeinsame Anstrengungen in der gesamten Europäischen Region, um die Impfprogramme auf Kurs zu bringen. Hersteller und Gesundheitsfachkräfte müssen klinische Daten und Unterlagen mit uns teilen, damit wir den Prozess der Notfallzulassung beschleunigen können. Darüber hinaus sind wir dabei, kleinere Produktionsstätten mit ausreichenden Kapazitäten und entsprechenden Qualitätskriterien ausfindig zu machen, die bei der Herstellung von Impfstoffkomponenten behilflich sein können. Noch einmal möchte ich darauf verweisen, dass Solidarität und Pragmatismus hier entscheidend sind, und zwar durch die Nutzung von Synergien bei den Kapazitäten für die Impfstoffproduktion.
Zum Abschluss möchte ich Schwester André, einer französischen Ordensschwester und älteste Frau Europas, heute ganz herzlich zu ihrem 117. Geburtstag gratulieren. Sie hat eine COVID-19-Infektion überlebt und lehrt uns alle eine bemerkenswerte Lektion, denn während ihrer Krankheit hat sie sich ganz selbstlos mehr um die anderen Bewohner ihres Pflegeheims gesorgt, als um ihr eigenes Leben.
Passen Sie aufeinander auf, und schützen Sie sich.
Vielen Dank.