Erklärung – Aktuelles zu COVID-19: Das Paradox der Pandemie, Hoffnung und Not in gleichem Maße

Video: Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, 28-01-2021

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

Kopenhagen, 28. Januar 2021

Guten Morgen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehen wir uns in Zusammenhang mit der Pandemie einem Paradox gegenüber.

Einerseits geben die vorhandenen Impfstoffe beachtliche Hoffnung. Auf der anderen Seite bringen die neu aufkommenden, bedenklichen Varianten größere Unsicherheit und ein größeres Risiko mit sich.

Insgesamt haben mittlerweile 35 Länder in der Europäischen Region damit begonnen, die Bevölkerung zu impfen, und es wurden bereits 25 Millionen Dosen Impfstoff ausgegeben. Die Impfstoffe haben sich als wirksam und sicher erwiesen, wie von uns allen erhofft, und wir sollten daher innehalten, um anzuerkennen, was Wissenschaft und Entschlossenheit seit der Entdeckung des SARS-CoV-2-Virus vor einem Jahr bereits erreicht haben. Durch dieses ungeheure Unterfangen werden unsere Gesundheitssysteme entlastet und zweifellos Leben gerettet.

Aufgrund der anhaltend hohen Übertragungsraten und der bedenklichen neu auftretenden COVID-19-Varianten ist es jedoch dringender denn je, die vorrangigen Gruppen zu impfen. Die zunehmenden Erwartungen an die Wissenschaft sowie die Entwicklung, Herstellung und gerechte Verteilung der Impfstoffe werden nicht so schnell erfüllt, wie wir uns das wünschen würden.

Dieses Paradox, dass für die Bevölkerung zwar dank der Impfstoffe zunehmend ein Ende in Sicht zu sein scheint, sie aber gleichzeitig dazu aufgerufen bleibt, angesichts einer neuen Bedrohung restriktive Maßnahmen einzuhalten, verursacht Spannungen, Angst, Ermüdung und Verwirrung. Dies ist unter den gegebenen Umständen nur verständlich.

Heute wird die Welt die Marke von 100 Millionen COVID-19-Fällen überschreiten, von denen ein Drittel allein in der Europäischen Region aufgetreten sind, und in zwei Tagen wird es ein Jahr her sein, seit die Weltgesundheitsorganisation den Ausbruch des neuartigen Coronavirus zu einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite, der höchsten Warnstufe der WHO, erklärte.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben bereits 33 Länder der Europäischen Region Fälle der zuerst im Vereinigten Königreich identifizierten Variante des Virus und 16 Länder Fälle der zuerst in Südafrika identifizierten Variante gemeldet. Mehrere Krankenhäuser, Schulen und Langzeitpflegeeinrichtungen haben Ausbrüche der neuen bedenklichen Varianten gemeldet.

Lockdowns, die eingeführt wurden, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, insbesondere die leichter übertragbaren neuen Varianten, haben in allen Teilen der Region zu einem Rückgang der Fallzahlen geführt: 30 Länder verzeichnen einen erheblichen Rückgang der 14-Tages-Inzidenzwerte. Das sind sieben Länder mehr als noch vor zwei Wochen. Und dennoch sind die Übertragungsraten überall in der Region noch immer sehr hoch und belasten die Gesundheitssysteme und -dienste schwer. Daher wäre es verfrüht, eine Lockerung der Maßnahmen zu erwägen. Die Eindämmung der Übertragung erfordert anhaltende und konsequente Anstrengungen. Wir dürfen nicht vergessen, dass gut 3% der Menschen in der Region eine bestätigte COVID-19-Infektion durchlaufen haben. Gebiete, die bereits einmal hart getroffen wurden, kann es erneut treffen.

Keine einzige Gemeinschaft und kein einziger Mensch wurden von den Folgen der Pandemie ausgenommen. Mehr als 700 000 Europäer haben aufgrund eines Virus, das brutale Auswirkungen auf unsere Wirtschaft, unsere psychische Gesundheit und unsere Bildung, unser Privat- und Berufsleben sowie unsere Beziehungen hatte, bereits ihr Leben verloren. Allein in der vergangenen Woche blieb die Zahl der Todesfälle mit über 38 000 neuen gemeldeten Todesfällen weiterhin konstant hoch. Den Familien und Angehörigen jener Menschen, die ihr Leben infolge dieser Krankheit verloren haben, möchte ich mein tiefstes Beileid aussprechen.

Auch wenn die Durchbrechung der Übertragungsketten klare Priorität hat, dürfen wir auch die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit nicht außer Acht lassen.

Psychische Erkrankungen fordern bereits Opfer, sowohl unter jenen, die bereits vorher gefährdet waren, als auch unter jenen, die nie zuvor entsprechende Unterstützung in Anspruch genommen haben. Die Internationale Arbeitsorganisation hat festgestellt, dass infolge der Pandemie die Hälfte der jungen Menschen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren durch Depressionen und Angstzustände gefährdet sind – und dass bis zu 20% des Gesundheitspersonals unter Angstzuständen und Depressionen leiden.

Psychische Gesundheitsprobleme sind zu einer Art parallelen Pandemie geworden, die WHO/Europa mit einem neuen Bündnis für psychische Gesundheit entschlossen angehen möchte. So sollen mit diesem Bündnis u. a. die Unterstützung und Beratung jedes Landes der Region ausgeweitet werden.

Im Laufe des letzten Jahres wurden unseren Politikern einige schwierige Fragen gestellt. Den europäischen Gesundheitsbehörden, die zeitnahe und mitunter schmerzliche Entscheidungen treffen mussten und es geschafft haben, eine Trendwende herbeizuführen, möchte ich mein Lob aussprechen für ihren Einfallsreichtum und die von ihnen ergriffenen Maßnahmen. Für WHO/Europa ist die Befähigung der gesundheitspolitischen Führungsebene in den Ländern, insbesondere in Krisenzeiten, von vorrangiger Bedeutung.

Vergessen wir daher nicht die Lektionen, die wir auf solch harsche Weise lernen mussten: die Öffnung und Schließung, die Verhängung von Lockdowns und die Wiedereröffnung in rascher Abfolge ist eine schlechte Strategie. Die Einführung und allmähliche Aufhebung von Maßnahmen aufgrund epidemiologischer Kriterien bleibt unsere beste Option, um den Volkswirtschaften das Überleben zu ermöglichen und die Kollateralschäden so gering wie möglich zu halten. Unser Ansatz muss wohlüberlegt und zurückhaltend sein.

Wir müssen Geduld bewahren. Es wird einige Zeit dauern, die Bevölkerung gegen COVID-19 zu impfen. Den Millionen von Menschen in den 25 Ländern der Europäischen Region, die sich gegenwärtig teilweise oder vollständig in einem landesweiten Lockdown befinden, deren Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, möchte ich mitteilen, dass ich mir der von Ihnen erbrachten Opfer wohl bewusst bin. Auch ich spüre diese Auswirkungen in meiner Familie, meiner Gemeinschaft und an meinem Arbeitsplatz.

Angesichts neuer, leichter übertragbarer Varianten des Virus müssen wir jedoch weiterhin wachsam bleiben. Wir müssen nun alle Reserven einsetzen, uns in Geduld üben und Widerstandskraft an den Tag legen, um die notwendigen Maßnahmen zu akzeptieren und einzuhalten, die unsere Gesundheitssysteme vor einem Zusammenbruch unter den Wellen eines leichter übertragbaren Virus schützen.

Bleiben Sie positiv und gesund und bleiben Sie miteinander in Verbindung.

Vielen Dank.