Wenn Schweigen keine Tugend ist: Wie traditionelle männliche Rollenbilder Männer davon abhalten, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen

“Mein Bruder litt im Stillen – wie so viele Männer in allen Teilen Europas. In den wenigen Monaten, bevor er sich das Leben nahm, erzählte er niemandem davon. Er war der tapfere, starke Mann, der es mit der ganzen Welt aufnehmen konnte.”

Giancarlo Gaglione, Gründer, Mental Health World Cup

Als sein Bruder Lanfranco sich mit 26 Jahren das Leben nahm, kam es für Giancarlo Gaglione wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Keiner seiner Angehörigen oder Freunde hatte in der Zeit vor seinem Suizid irgendwelche Veränderungen an ihm bemerkt, und erst eine Woche davor vertraute er sich zwei Menschen an: seinem besten Freund und seiner Freundin.

Anlässlich des Welttages für psychische Gesundheit am 10. Oktober setzt sich das WHO-Regionalbüro für Europa mit der Frage auseinander, wie Männlichkeitsnormen Männer davon abhalten können, ihre eigenen psychischen Gesundheitsprobleme zu erkennen und entsprechend Hilfe zu suchen. Ein neuer Bericht des Health Evidence Network (HEN) mit dem Titel „Psychische Gesundheit, Männer und Kultur“, den das WHO-Regionalbüro für Europa veröffentlicht hat, enthält konkrete Empfehlungen an die Politik für den Umgang mit bestimmtem psychischen Gesundheitsproblemen, die aus traditionellen männlichen Verhaltensnormen resultieren.

In der Europäischen Region sind die Suizidraten bei Männern etwa dreimal so hoch wie bei Frauen. Dies ist oftmals durch traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit bedingt, etwa dass Männer nicht über Gefühle sprechen. Doch das Ausmaß, in dem der kulturelle Kontext von Männlichkeitsnormen das Hilfesuchverhalten von Männern im Bereich der psychischen Gesundheit beeinflusst, wurde bisher nicht systematisch untersucht.

Der HEN-Bericht mit dem Titel „Psychische Gesundheit, Männer und Kultur“ ist die erste umfassende Studie zu dieser Thematik. Auf der Grundlage der vom Regionalbüro für Europa entworfenen Strategie zur Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens von Männern in der Europäischen Region der WHO wird in dem Bericht die vorhandene wissenschaftliche Fachliteratur in englischer und russischer Sprache zu der Frage untersucht, wie sich soziokulturelle Konstrukte von Männlichkeit auf das Hilfesuchverhalten von Männern im Bereich der psychischen Gesundheit auswirken. Die in dem Bericht enthaltene Analyse zeigt einige zentrale Aspekte in Bezug auf die Bedeutung kulturell bedingter Männlichkeitsbilder auf.

Neubewertung des Hilfesuchverhaltens innerhalb traditioneller Männlichkeitsnormen und Überdenken des Konzepts der Männlichkeit

Ein Kulturwandel in Bezug auf das Hilfesuchverhalten von Männern erfordert eine stärker gleichstellungsorientierte Gesundheitsförderung. Dies würde dazu beitragen, schädliche geschlechtsbezogene Normen neu zu definieren, Geschlechterklischees in Frage zu stellen und mehr Chancengleichheit in Bezug auf Geschlechterrollen und Geschlechterbeziehungen zu schaffen.

So wurde bei manchen erfolgreichen Interventionen Hilfesuchverhalten neu bewertet: entweder als Stärke statt als Schwäche (weil es mutiges und selbständiges Handeln erfordert) oder als Mittel zur Wiedererlangung wertvoller Attribute (Übergang von Abhängigkeit zu Unabhängigkeit). Tatsächlich wird in dem Bericht festgestellt, dass Männer, die sich nicht allzu sehr mit traditionellen Männerrollen identifizieren, eher dazu neigen, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eine veränderte Darstellung der Bedeutung von Männlichkeit in den Medien, etwa durch Hervorhebung von Werten wie Vaterschaft oder Freundschaft anstatt von Aggressivität oder einem individuellen Ehrenkodex, wird in erheblichem Maße dazu beitragen, dass die Gesellschaft beginnt, das Konzept Männlichkeit zu überdenken.

Grundsatzüberlegungen

Auch wenn es keine einfachen Lösungen für die vielfältigen komplizierten Faktoren gibt, die das Hilfesuchverhalten von Männern beeinflussen, so gibt der Bericht doch der Politik eine Reihe von Ideen zum Nachdenken.

Dazu zählen:

  • die Berücksichtigung der Bedürfnisse der anfälligsten oder gefährdetsten männlichen Bevölkerungsgruppen durch Ansetzen an den Grundursachen von Abgeschnittensein und Isolation;
  • die Förderung von Kooperationen und Partnerschaften zwischen Gesundheitswesen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die in einem breiten Spektrum von Projekten mit verschiedenen Gruppen von Männern zusammenarbeiten;
  • die Mitbegründung männerfreundlicher Initiativen zusammen mit den bedürftigsten Gruppen, um Interventionen so auszugestalten, dass sie sich an deren Werten, Gewohnheiten und Prioritäten orientieren; und
  • die Förderung von Online-Foren für eine angemessene Unterstützung.

Näheres über den Bericht und die Geschichte von Giancarlo und seinem Bruder erfahren Sie in der Webinar-Reihe „Kultur und Gesundheit“ der WHO von 2019 – ‘“Steh deinen Mann“: Männlichkeitsnormen und die Inanspruchnahme von Angeboten im Bereich der psychischen Gesundheit. Außerdem können Sie den HEN-Bericht mit dem Titel „Psychische Gesundheit, Männer und Kultur“ und seine Zusammenfassung herunterladen.