Ein Augenzeugenbericht vom Leben an der Frontlinie der Migration in Italien
Im Laufe seiner 25-jährigen Tätigkeit im unmittelbaren Kontakt mit den Migrations- und Flüchtlingsströmen auf der italienischen Insel Lampedusa hat Dr. Pietro Bartolo viele Tragödien unter den rund 300 000 Ankömmlingen erlebt. Aber er kann auch von erfreulichen Erfahrungen berichten. Manchmal kommt in einem Fall beides zusammen. Hier schildert er einen solchen Fall.
Eines der schönsten Erlebnisse in meiner gesamten beruflichen Laufbahn hatte ich ausgerechnet an einem der tragischsten Tage der letzten Jahre. Am 3. Oktober 2013 erhielt ich einen Anruf von den Hafenbehörden, die von einer Katastrophe berichteten und mich um Hilfe baten. Ich war bereits vor Ort, da wir auf zwei Schiffe mit mehreren Hundert Syrern warteten, die in der Nacht zuvor ausgelaufen waren.
Doch die Schiffe kamen nie an. Stattdessen kamen Boote von Bewohnern aus Lampedusa, die syrische Flüchtlinge aus dem Wasser gezogen hatten. Das erste Boot hatte 47 Jungen an Bord, die alle mit Öl verschmiert waren. Eine Viertelstunde später kam ein weiteres Boot an. Als ich wie üblich an Bord ging, fand ich dort 17 Jungen vor, aber auch vier Leichen, die bereits in Leichensäcke gesteckt worden waren. Bei näherem Hinsehen bemerkte ich, dass eine von ihnen noch am Leben war, und ich bat den Kapitän des Boots, mir behilflich zu sein. Wir nahmen das Mädchen aus dem Leichensack und brachten sie sofort ins Krankenhaus. Wir verbrachten eine halbe Stunde mit der Wiederbelebung; ihre Lungen waren voll mit Wasser und Benzin. Dann begann ihr Herz wieder zu schlagen. Heute ist Kebrat gesund und lebt in Schweden.
Dieses Erlebnis hat einen unglaublich positiven Eindruck in mir hinterlassen. Ich habe an jenem Tag 368 Leichen obduziert, aber auch einem Menschen das Leben gerettet.
In Italien begehen wir inzwischen am 3. Oktober einen Gedenktag. Auf den Tag genau drei Jahre nach der Tragödie von 2013 sind zahlreiche damalige Überlebende nach Lampedusa zurückgekehrt, um die Familien zu besuchen, die sie einst aufnahmen. Ich selbst kam an diesem Tag sehr spät aus Mailand nach Lampedusa zurück und dachte, die Feier sei längst zu Ende. Als ich am Flugplatz ankam, sah ich rund ein Dutzend Journalisten mit Kameras und nahm an, sie warteten auf jemand anderen. Doch sie warteten auf mich. Dann trat eine hübsche schwangere junge Frau auf mich zu und gab sich als Kebrat zu erkennen. Ich konnte es kaum fassen, dieselbe Frau wiederzusehen, die vor drei Jahren vor meinen Augen mit dem Tode gerungen hatte. Wir weinten vor Freude und verbrachten den ganzen nächsten Tag miteinander. Wir sind immer noch in Kontakt.
Alle Gesundheitsfachkräfte, die an der Frontlinie der Migration arbeiten, sollten die Migranten aus einer menschlichen Perspektive betrachten und behandeln. Sie müssen sich vergegenwärtigen, dass die Ankömmlinge in ihrem Land keine Nummern sind, sondern Menschen mit einem Namen, einer Familie und einer Geschichte, die stets traurig und voller Leiden ist. Bei ihrer Ankunft ist es unsere Pflicht, sie mit Menschlichkeit zu empfangen.