Erklärung – Auch während der COVID-19-Pandemie ist Gewalt nicht unvermeidbar, sondern verhinderbar
Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, an die Presse
Kopenhagen, 7. Mai 2020
Guten Morgen.
Danke, dass Sie sich heute zugeschaltet haben.
Mehr als drei Monate sind vergangen, seit das neuartige Coronavirus in unserer Region Einzug gehalten hat, und über zwei Monate seit der ersten nachgewiesenen Übertragung von Mensch zu Mensch in Europa, und gerade ein Monat, seit das Virus innerhalb der Europäischen Region in Richtung Osten gewandert ist. Mit insgesamt 1,6 Mio. Fällen, davon fast 150 000 mit tödlichem Ausgang, beträgt der Anteil der Europäischen Region an den durch COVID-19 bedingten Erkrankungs- und Todesfällen weltweit 45% bzw. 60%.
Ich bedauere den Tod aller Großmütter, Großväter, Mütter, Väter, Schwestern, Brüder, Söhne und Töchter während dieser Zeit.
Seit fast vier Wochen, seit dem 12. April, erleben wir in der Europäischen Region einen Rückgang der täglich gemeldeten Zahl der Fälle. Langsam, aber sicher können wir positive Anzeichen erkennen.
Leider gilt das nicht für alle Länder. Denn die Situation im östlichen Teil der Europäischen Region ist nach wie vor besorgniserregend. So wurde vergangene Woche aus Belarus, Kasachstan, der Russischen Föderation und der Ukraine jeweils eine Zunahme der Zahl neuer Fälle gemeldet.
In dieser Woche hält sich eine Expertenmission in Tadschikistan auf, die zusammen mit den nationalen Behörden und mit Vertretern der Gesundheitsberufe an Maßnahmen zur Bekämpfung des Ausbruchs in dem Land arbeitet. Sie ist die bislang letzte von über 60 derartigen Missionen, die wir in Verbindung mit dieser Pandemie in Länder der Europäischen Region durchgeführt haben und die dazu dienen, die Länder bei einer Reihe von Themen wie Laboruntersuchungen, Krankheitsüberwachung, operationelle Planung und Bereitschaftsplanung in Krankenhäusern fachlich zu beraten und ihnen bei Sofortmaßnahmen behilflich zu sein.
Ein Blick auf die Maßnahmen, die heute innerhalb der Europäischen Region in Kraft sind, zeigt, dass 43 Länder partielle oder vollständige Ausgangssperren verhängt haben und 32 Länder dabei sind, die geltenden gesundheitlichen und sozialen Maßnahmen teilweise zu lockern, wenn ihnen eine Unterdrückung der Übertragung des Virus gelungen ist.
Die Situation ist weiterhin sehr instabil und könnte sich schnell wieder zum Schlechteren wenden, wenn grundlegende Maßnahmen nicht ausgeweitet, die Notfallkapazitäten nicht aufrechterhalten werden und der Übergang nicht sorgfältig und behutsam geplant wird.
Der vergangene Monat hat Beschränkungen und Ausgangssperren mit sich gebracht, die verständlicherweise Stress- und Angstreaktionen ausgelöst haben. Soziale Netze sind beeinträchtigt, und es herrschen Unsicherheit und finanzielle Belastungen, die Arbeitsplätze gefährden. Für viele Menschen sind Ungewissheit, Trennung und Angst zum festen Bestandteil ihres Alltags geworden. All diese Einflussfaktoren verschärfen durch ihr Zusammenwirken die Problematik, über die ich heute sprechen möchte:
zwischenmenschliche Gewalt während der COVID-19-Pandemie.
Die WHO ist zutiefst besorgt angesichts von Berichten aus zahlreichen Ländern – u. a. Belgien, Bulgarien, Frankreich, Irland, der Russischen Föderation, Spanien und dem Vereinigten Königreich –, nach denen es infolge der Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 zu einer Zunahme der zwischenmenschlichen Gewalt – also Gewalt gegen Frauen und Männer durch Intimpartner sowie Gewalt gegen Kinder – gekommen ist.
Auch wenn die Datenlage bisher noch dürftig ist, so haben die Mitgliedstaaten doch im April eine Erhöhung der Zahl der Notrufe von Frauen, die Gewalt durch Intimpartner erlebt haben, um bis zu 60% gemeldet. Die Zahl der Online-Anfragen bei Anlaufstellen für Gewaltprävention hat sich auf das bis zu Fünffache erhöht. Der UNFPA, unsere Partnerorganisation bei den Vereinten Nationen, hat laut Alarm geschlagen: Bei einer Fortsetzung der Ausgangsbeschränkungen um weitere sechs Monate wären weltweit zusätzliche 31 Mio. Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt zu erwarten. Unabhängig von den Zahlen gilt ohnehin: nur ein Bruchteil der Fälle wird gemeldet.
Wir sprechen ja so oft von Zahlen und Statistiken, doch dürfen wir dabei keinen Augenblick lang die menschliche Seite vergessen, die Frauen und Kinder, die Tag für Tag unter solchen Umständen leben müssen.
Heute habe ich drei Botschaften für Sie:
- An Regierungen und Kommunalbehörden: Dies sollte nicht als Handlungsoption angesehen werden. Vielmehr muss es als moralische Verpflichtung begriffen werden, Angebote zur Bekämpfung von Gewalt bereitzustellen und angemessen zu finanzieren und Hotlines und Online-Angebote auszuweiten.
- An die Bevölkerung: Gewalt ist keine Privatangelegenheit – bleiben Sie mit Nachbarn, Bekannten, Familie und Freunden in Kontakt und unterstützen Sie sie. Wenn Sie etwas sehen, sprechen Sie darüber.
- An die Opfer von Gewalt: Gewalt ist nie Ihre Schuld. Nie. Ihr Zuhause sollte ein sicherer Ort sein. Nehmen Sie auf sicherem Wege Kontakt mit Angehörigen, Freunden, Frauenhäusern oder gesellschaftlichen Gruppen auf, denen an Ihrer Sicherheit gelegen ist.
Es gibt keine Entschuldigung für Gewalt, und wir dürfen diese Art von Machtmissbrauch in keiner Weise dulden, egal, ob sie körperlicher, sexueller, emotionaler, vernachlässigender oder finanzieller Art ist. Gewalt jeder Art und zu jeder Zeit – gegen Frauen, Männer, Kinder und ältere Menschen – darf nicht toleriert werden.
Ältere Frauen, Menschen mit Behinderungen, Vertriebene und Flüchtlinge sowie Menschen, die in Konfliktgebieten leben, sind in besonderem Maße anfällig. Sie zu schützen, ist unsere Aufgabe.
Vor der Pandemie hatten in der Europäischen Region ein Viertel der Frauen und ein Drittel der Kinder mindestens einmal physische oder sexuelle Gewalt erlebt. Dies darf nicht hingenommen werden. Die Erfahrung zeigt, dass zwischenmenschliche Gewalt sich meist in jeglicher Art von Krisensituation verschärft. Deshalb müssen wir dringend tätig werden.
Wenn kein Unterricht mehr stattfindet, befinden sich gefährdete Kinder außerhalb des Radars der Schul- und Sozialbehörden. Wenn Präventions- und Schutzangebote vorübergehend ausgesetzt sind, haben die Hilfsbedürftigen keinen Zugang zu unentbehrlichen Sozialleistungen mehr und können mit diesen auch nicht mehr erreicht werden. Bei Ausgangsbeschränkungen befinden sich Frauen und Kinder außerhalb des Blickfelds der Gesellschaft und sind gleichzeitig den Tätern zuhause mehr ausgesetzt.
Die zur Verhinderung der Übertragung von COVID-19 erforderlichen Maßnahmen beeinträchtigen unsere Fähigkeit, Gewalt zu verhindern und ggf. auf sie zu reagieren. Doch es gibt ermutigende Beispiele von Ländern, die sich dieser Problematik gestellt haben. In Italien wurde eine App entwickelt, die einen Hilferuf ohne Gespräch ermöglicht. In Spanien und Frankreich können Apotheker durch Codewörter alarmiert werden. In Frankreich und Belgien wurden Hotels in Zufluchtsorte verwandelt. Grönland hat den Verkauf von Alkohol eingeschränkt, um das häusliche Umfeld sicherer für Kinder zu machen. Weitere Möglichkeiten, etwas Positives zu bewirken, sind der Austausch von Informationen über vorhandene Hilfsangebote, eine verstärkte Sensibilisierung für Anzeichen von Gewalt, die Ausweitung von Notrufdiensten, die Aufrechterhaltung von Programmen zur Förderung von Sozial- und Elternkompetenz und die Weiterverfolgung von zuvor bereits prekären Situationen. Betrachten wir diese Beispiele und lernen wir daraus.
Wir bei der WHO haben Empfehlungen dazu veröffentlicht, was das Gesundheitswesen hier tun kann. In den kommenden Tagen werden wir einen Überblick über die wichtigsten Maßnahmen zur Verhinderung bzw. Reaktion auf eine solche massive Zunahme von Gewalt gegen Frauen, Männer, Kinder und ältere Menschen veröffentlichen. Es gibt keine Patentlösung. Vielmehr brauchen wir gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Anstrengungen.
Ob Arbeitsplatzverlust, steigender Alkohol- und Drogenmissbrauch, Stressbelastung und Angst: der Schatten dieser Pandemie wird uns noch lange verfolgen. So viele Dinge an COVID-19 sind beispiellos und liegen außerhalb unserer Kontrolle und unseres Verständnisses. Doch durch unsere Solidarität können wir verhindern, dass das Leben von Generationen von Gewalt überschattet wird.
Ein Aufmerksammachen auf Gewalt ist der erste Schritt, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Es verhilft den Opfern zu der Gerechtigkeit, Betreuung und Behandlung, die sie benötigen.
Lassen Sie mich wiederholen:
- Erhalten Sie die Hilfsangebote des Gesundheits- und Sozialwesens aufrecht.
- Halten Sie ein Auge auf Sicherheit und Wohlbefinden der Menschen in Ihrer Nähe.
- Bleiben Sie in Kontakt mit Menschen, denen Sie vertrauen und an die Sie sich wenden können.
Und erinnern Sie sich bitte daran, dass Gewalt nicht unvermeidbar ist, sondern sich verhindern lässt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.